Nach der Rettung und Erstversorgung eines Schwerverletzten stellt sich primär die Frage, wohin er gebracht werden soll und wie viel Zeit dies in Anspruch nimmt. Nach wie vor gilt der Merksatz:

“… nicht in das nächste, sondern in das nächste geeignete Krankenhaus!“

Doch wie können Notarzt, Rettungssanitäter und Rettungsleitstellen dies in der gebotenen Eile entscheiden? Wird ein Krankenhaus angefahren, welches dem individuellen Verletzungsmuster des Schwerverletzten von seiner Logistik und personellen Ausstattung nicht gewachsen ist, kann dies fatale Folgen haben. Selbst wenn eine Weiterverlegung gelingt, geht wertvolle Zeit verloren; unternimmt man dennoch einen Behandlungsversuch, kann dies für den Patienten zu möglicherweise vermeidbaren Komplikationen bis hin zum Tod oder bleibenden Folgeschäden führen.

Die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie e. V. (DGU) hat im Jahr 2006 das „Weißbuch Schwerverletztenversorgung“ herausgegeben. In diesem wird die Bildung zertifizierter regionaler Traumanetzwerke gefordert, in denen Überregionale und Regionale Traumazentren mit Einrichtungen der Basisversorgung zusammenarbeiten. Die Anforderungen an alle diese 3 Stufen von Krankenhäusern sind klar definiert, sie werden zertifiziert, und es müssen eine regelmäßige Qualitätssicherung und Registrierung der behandelten Patienten stattfinden.

Statistische Daten zum Unfallgeschehen

Pro Jahr ereignen sich in Deutschland 8,5 Mio. Unfälle mit behandlungsbedürftigen Verletzungen, d. h. jeder 10. Bundesbürger erleidet pro Jahr einen derartigen Unfall. Darunter sind 32.500–38.000 Schwerstverletzte, definiert nach einem „injury severity score“ (ISS) von über 16 Punkten. 19.459 Menschen versterben infolge eines Unfalls (alle Daten aus 2004).

Von den 8,5 Mio. Unfallverletzten pro Jahr müssen 1,6 Mio. (17%) vollstationär behandelt werden. Ihre Verweildauer beträgt im Mittel 10 Tage, was insgesamt 16,5 Mio. Pflegetagen im Krankenhaus entspricht. Bei den Schwerverletzten liegt die mittlere Verweildauer bei 22,1 Tagen, davon 10 Tage auf der Intensivstation.

Aus den Folgen von Unfällen resultieren 56.970.000 Arbeitsunfähigkeitstage. Dies entspricht 12,94% aller Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Der Produktionsausfall infolge von Unfällen beträgt 5,2 Mrd. EUR pro Jahr, und der Ausfall des Bruttoinlandprodukts (BIP) wird insgesamt mit 9,1 Mrd. EUR pro Jahr angegeben, was 0,49% des gesamten BIP entspricht. Ökonomisch gesehen sind daher Unfallfolgen neben den Erkrankungen der Bewegungsorgane die wichtigsten Diagnosegruppen, noch vor den Herz-Kreislauf-Erkrankungen, weil diese erst im späteren Lebensalter nach dem Ende der Erwerbsfähigkeit auftreten. In den USA beträgt der durchschnittliche Verlust an Lebensjahren, gerechnet auf die statistisch normale Lebenserwartung, durch Unfälle 35 Jahre, durch Tumorerkrankungen 16 Jahre und durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen 13 Jahre.

Trotz der in allen Lebensbereichen verbesserten Sicherheitssysteme, speziell im Automobilbau, im Straßenverkehr und bei den Arbeitsunfällen, ist es in den letzten 10 Jahren nur zu einem relativ geringen Rückgang der Zahl der Schwerverletzten nach Verkehrs- und Arbeitsunfällen von jeweils 4% gekommen. Dafür nahm die Zahl der Schwerverletzten nach Freizeitunfällen um 3% zu. Infolge der verbesserten Sicherheitssysteme überleben heutzutage Patienten, die früher keinerlei Überlebenschance hatten, und werden als Schwerstverletzte eingeliefert. Früher Schwerstverletzte erleiden heute oft nur noch leichtere Verletzungen. Durch diese Verschiebung ist es im Wesentlichen zu einem Rückgang der Todesfälle nach Verkehrs- und Arbeitsunfällen gekommen, aber nur zu einem relativ geringen Rückgang der Zahl der Schwerverletzten. Auf medizinischer Seite hat sich die Überlebenschance Schwerstverletzter in den letzten 10 Jahren von 63% auf 78% dramatisch verbessert. Dies ist die Folge verbesserter Rettungssysteme, verbesserter medizinischer Infrastrukturen und des medizinischen Fortschritts.

Statistische Erhebungen in den USA, Kanada und Italien ergaben, dass sich durch die Einführung regionaler Traumasysteme die Zahl der Todesfälle deutlich senken lässt: bei Schwerstverletzten um 50%, bei Schwerverletzten um 20%.

Aktueller Stand der Unfallversorgung in Deutschland

Worauf ist es zurückzuführen, dass die Überlebenschance Schwerstverletzter in Deutschland in den letzten 10 Jahren von 63% auf 78% gestiegen ist? Welche Logistik ist neben dem medizinischen Fortschritt hierfür verantwortlich zu machen?

Die im Folgenden aufgeschlüsselten Strukturen sind ausschließlich mit der Verbesserung der Unfallversorgung befasst und konnten ihre Effektivität in den letzten 10 Jahren konsequent steigern:

  • Fachärzte für Unfallchirurgie (Chirurgie und Unfallchirurgie, 5+3 Jahre)

  • Lehrstühle für Unfallchirurgie an fast allen deutschen Universitäten – Maximalversorgung

  • BG-Kliniken für Unfallchirurgie – Maximalversorgung

  • Abteilungen für Unfallchirurgie – flächendeckend

  • Rettungssystem mit Notärzten – flächendeckend

  • Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV)

  • Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU)

  • Traumaregister der DGU

Weißbuch der DGU zur Schwerverletztenversorgung

Vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Unfallversorgung in den letzten 10 Jahren stellt sich die Frage, warum es die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie im Jahr 2006 für erforderlich hielt, ein Weißbuch zur Schwerverletztenversorgung herauszugeben. Hierfür gibt es 2 Gründe:

  • Die DGU hat die begründete Befürchtung, dass die bisher erreichte Versorgungsqualität aufgrund verschiedener aktueller (politischer) Entwicklungen in Gefahr ist.

  • Die entsprechenden Empfehlungen der DGU aus dem Jahr 1997 mussten aktualisiert werden.

Somit wurde ein Arbeitskreis Weißbuch im Grundsatzausschuss der DGU gebildet, an dem die folgenden Kolleginnen und Kollegen mitgearbeitet haben:

Prof. Dr. Bouillon, Köln

Prof. Dr. V. Bühren, Murnau

Dr. Peter Hinz, Greifswald

Prof. Dr. R. Hoffmann, Frankfurt/Main

D. Kubosch, Freiburg

Dr. C. Kühne, Essen

Prof. Dr. C. Lackner, München

Prof. Dr. Marzi, Frankfurt

Dr. P. Niemeyer, Feiburg

Prof. Dr. J. Oestern, Celle

Prof. Dr. H.C. Pape, Pittsburgh (USA)

Prof. Dr. J. Probst, Murnau

Prof. Dr. S. Ruchholtz, Essen

PD Dr. J. Seifert, Berlin

Prof. Dr. H. Siebert, Schwäbisch Hall

Prof. Dr. N. Südkamp, Freiburg

Prof. Dr. K.M. Stürmer, Göttingen

Prof. Dr. J. Sturm, Detmold

Prof. Dr. C. Ulrich, Göppingen

Prof. Dr. A. Wentzensen, Ludwigshafen

Gefahren für das erreichte Niveau

Finanzierung

Mit den DRG („diagnosis related groups“) konnten die außerordentlich aufwändigen Behandlungskosten für den individuellen Schwerverletzten nicht abgebildet werden. Damit wurde eine Unfallbehandlung auf hohem Niveau zum Zuschussgeschäft. Dies hat sich in den letzten 2 Jahren nur wenig gebessert.

Überhaupt nicht finanziert sind die Vorhaltekosten („Feuerwehrfunktion“), die alle räumlichen, apparativen und personellen Vorbereitungen für die Aufnahme eines Schwerverletzten betreffen, obwohl sie zur Daseinsvorsorge des Staates zu rechnen sind. Der größte Posten sind dabei die Bereitschaftsdienste aller erforderlichen Disziplinen (Abb. 1). Folglich haben die Klinikträger mehr Interesse an gut bezahlten elektiven Eingriffen als an frisch Verletzten.

Abb. 1
figure 1

Erstversorgung eines Schwerstverletzten im Schockraum des Universitätsklinikums Göttingen, Erläuterung s. Text

Erstversorgung eines Schwerstverletzten

Das eingespielte Schockraumteam kämpft ohne Hektik um das Überleben des Schwerverletzten. Abb. 1 zeigt allein 13 Ärzte und Pflegekräfte, die unmittelbar am Patienten tätig sind. Die Vorhaltekosten für dieses Personal gehören zur Daseinsvorsorge des Staates und sind bei der heutigen Krankenhausfinanzierung über DRG („diagnosis related groups“) nicht gedeckt.

EU-Arbeitszeitregelung

Durch sie ergibt sich für jeden Arzt eine erheblich kürzere Jahresarbeitszeit als vorher. Die Weiterbildung zum Chirurgen und Unfallchirurgen muss damit an immer weniger Patienten und in immer kürzerer Zeit erfolgen. Die Folge ist, dass es kaum mehr möglich ist, rund um die Uhr kompetente Ärzte für die umfassende Versorgung von Schwerverletzten zu finden, denn das individuelle Verletzungsmuster richtet sich nicht nach der jeweiligen Spezialisierung des diensthabenden Arztes.

Mangelnde Planung der Versorgungsstrukturen

Die Unfallversorgung regelt nicht der Markt. Hier ist eine flächendeckende Planung der Vorhaltung erforderlich, ebenso wie bei der Feuerwehr. Eine solche fehlt aber bislang.

Neue Weiterbildungsstrukturen

Durch den neuen Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie fällt die früher zwingend erforderliche Ausbildung zum (Allgemein-)Chirurgen weg. Damit fehlen wichtige chirurgische Grundlagen und Weiterbildungsinhalte. Selbst die Anforderungen an die neue Zusatzbezeichnung „Spezielle Unfallchirurgie“ sind in der Summe geringer als an den früheren „Schwerpunkt Unfallchirurgie“ im Gebiet Chirurgie. Schließlich zeigen die ursprünglich orthopädischen Kollegen nur wenig Interesse am Akuttrauma, besonders am Schwerverletzten, dessen Verletzungen über die von Bewegungsorganen hinausgehen.

Zunehmende Spezialisierung

Alle soeben genannten Punkte unterstützen den zunehmenden Trend zur Spezialisierung sowohl der Ärzte als auch der Abteilungen als auch ganzer Krankenhäuser. Diese Spezialisierung führt zwar zu einer punktuellen Vertiefung, aber gleichzeitig auch zu einer erheblichen Einschränkung in der Breite. Man erkauft Qualitätsverbesserungen bei selektiven Operationsverfahren mit der Unfähigkeit, alle Verletzungen oder zumindest alle häufigen Verletzungen auf hohem Niveau behandeln zu können. Gleichzeitig entzieht man den nicht spezialisierten Ärzten und Abteilungen selektiv bestimmte Erkrankungen und Operationstechniken, sodass dort zusätzlich Kompetenz verloren geht. Besonders ausgeprägt wird diese Fehlsteuerung dadurch, dass sich derartige Spezialisierungen häufig auf Krankheitsbilder und Operationsverfahren konzentrieren, bei denen das gegenwärtige DRG-System unverhältnismäßig hohe Erlöse garantiert.

TraumaNetzwerkD der DGU

Eine der wichtigsten Empfehlungen des Weißbuchs Schwerverletztenversorgung der DGU ist die Einrichtung eines flächendeckenden Traumanetzwerks für ganz Deutschland. Die DGU definiert hier 3 Versorgungsstufen mit klarer Aufgabenstellung, strukturellen Anforderungen sowie Ausstattungsmerkmalen:

  • Basisversorger

  • Regionale Traumazentren

  • Überregionale Traumazentren

Zudem wird die fachliche Qualifikation der jeweiligen Leitungsebene festgelegt. Ein wesentlicher Eckpunkt des Traumanetzwerkgedankens ist die kontinuierliche Qualitätssicherung.

Basisversorger

Ein Krankenhaus wird nur dann anerkannt, wenn es regelhaft an der Versorgung Schwerverletzter teilnimmt, d. h. die Teilnahme am TraumaNetzwerkD definiert sich über die tatsächliche Einbindung in die Schwerverletztenversorgung. Wörtlich heißt es:

„Die Einrichtungen der Basisversorgung, die regelhaft an der Versorgung Schwerverletzter teilnehmen, müssen die erforderliche Kompetenz in der Versorgung von Akut-Körperhöhlen-Verletzungen inklusive Extremitäten- und Stammverletzungen zwingend zeitgerecht vorhalten.“

Personelle, strukturelle, räumliche und apparative Anforderungen an die Basisversorger

Vorgehalten werden müssen:

  • Abteilung Unfallchirurgie (und Orthopädie) oder Chirurgie

  • 24-stündige Verfügbarkeit von:

    • Facharzt für Orthopädie/Unfallchirurgie mit Zusatzweiterbildung Spezielle Unfallchirurgie

    • Facharzt für Viszeral- oder Allgemeinchirurgie

    • Facharzt für Anästhesiologie

    • Facharzt für Radiologie

    • Bereitschaft Notaufnahme für Akutversorgung

    • Operationsbereitschaft für Notfälle

  • Räumliche apparative und personelle Ausstattung zur notfallmäßigen Triage und Versorgung von Schwerverletzten

Fachliche Qualifikation der ärztlichen Leitungsebene

Ärztliche Leiter müssen eine der beiden im Folgenden aufgeführten Qualifikation aufweisen:

  • Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie mit Zusatzweiterbildung Spezielle Unfallchirurgie oder

  • Facharzt für Chirurgie mit Schwerpunkt Unfallchirurgie

„Entsprechend der örtlichen Gegebenheiten kann die unfallchirurgische Kompetenz durch einen anderen verantwortlichen Arzt gewährleistet werden“.

Dieser letzte Satz des Weißbuchs zu diesem Thema beschreibt eine Ausnahme zur Sicherstellung der Versorgung auch in strukturschwachen Regionen.

Überregionales Traumazentrum

Die fachliche Qualifikation der ärztlichen Leitungsebene für die überregionalen Traumazentren wird folgendermaßen definiert:

  • Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie mit Zusatzqualifikation Spezielle Unfallchirurgie

  • Facharzt Chirurgie mit Schwerpunkt Unfallchirurgie

  • (volle) Weiterbildungsbefugnis Spezielle Unfallchirurgie

  • persönliche Zulassung zum Verletzungsartenverfahren

  • Habilitation

Der Stellvertreter muss die gleiche Facharztqualifikation wie der ärztliche Leiter aufweisen.

Aufgabenstellung und Grundanforderungen

Die Aufgabenstellung wird folgendermaßen definiert:

  • Sicherstellung und Verpflichtung der jederzeitigen Aufnahme und umfassenden Versorgung von Schwerverletzten jeden Lebensalters und jeder Verletzungsart

  • Verpflichtung zur Mit- und Weiterbehandlung (Sekundärverlegung) von Schwerverletzten im Verbund mit regionalen Traumazentren und Basisversorgern

  • Vorbereitung auf die Bewältigung des Massenanfalls von Verletzten (Katastrophen)

  • Fachspezifische Aus-, Fort- und Weiterbildung

  • Forschung und klinische Studien

  • Qualitätssicherung

Ein ganz wesentlicher Punkt ist die Selbstverpflichtung der jederzeitigen Aufnahme und umfassenden Versorgung von Schwerverletzten jeder Art. Dies beinhaltet natürlich erhebliche Vorhaltekosten für die Schockraumbehandlung und die Notfalloperationen bei Schwerverletzten sowie für Intensivbetten mit dem entsprechend qualifizierten Personal. Für Notaufnahme und Schockraum eines überregionalen Traumazentrums werden die folgenden Anforderungen für eine 24-h-Bereitschaft über 7 Tage der Woche definiert.

Basisteam 24-h-Bereitschaft

  • Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie mit Spezieller Unfallchirurgie

  • Weiterbildungsassistent

  • Facharzt für Anästhesiologie

  • Facharzt für Neurochirurgie

  • Facharzt für Radiologie

  • 2 Pflegekräfte Chirurgie

  • 1 Pflegekraft Anästhesiologie

  • 1 Röntgen-MTA (Medizinisch/-e technischer/-e Assistent/-in)

  • 1 Transportpersonal

Hintergrund – 24 h (Ruf-/Bereitschaft)

  • Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie mit Spezieller Unfallchirurgie (Oberarzt)

  • Facharzt für Viszeralchirurgie oder Allgemeinchirurgie (Oberarzt)

  • Facharzt Anästhesiologie (Oberarzt)

  • Facharzt Radiologie (Oberarzt)

  • 2 OP-Pflegekräfte

  • Weiterer Rufdienst zur gleichzeitigen Versorgung mehrerer Schwerverletzter

Erweitertes Schockraumteam

  • Facharzt für Gefäßchirurgie

  • Facharzt für Herz- und/oder Thoraxchirurgie

  • Facharzt MKG (Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie)

  • Facharzt HNO (Hals-Nasen-Ohren)

  • Facharzt Augenheilkunde

  • Facharzt Urologie

  • Facharzt Gynäkologie (fakultativ)

  • Facharzt Plastische Chirurgie

  • Facharzt Kinderchirurgie oder Pädiatrie

Da das Verletzungsmuster eines Schwerverletzten nicht vorhersehbar ist und mehrere Körperregionen gleichzeitig oder in sehr unterschiedlichen Kombinationen betreffen kann, ist es erforderlich, alle Disziplinen vor Ort oder zumindest sofort erreichbar zu haben, die in diesen Situationen notfallmäßig Leben retten und dauernde Verletzungsfolgen verhindern können. Die Verlegung eines Schwerverletzten in ein anderes Krankenhaus für die Spezialbehandlung eines Organs bei z. B. Hirn-, Herz- oder Leberverletzungen ist in der Regel nicht möglich, ohne den Verletzten zusätzlich existenziell zu gefährden. Aus diesem Grund muss ein überregionales Traumazentrum alles an einem Ort vorhalten, was zur Behandlung Schwerverletzter im weitesten Sinne erforderlich ist. Daraus resultiert auch die Forderung der DGU, dass jedes regionale Traumanetzwerk über mindestens ein überregionales Traumazentrum verfügen muss.

Weitere Voraussetzungen

Im Weißbuch werden die folgenden weiteren Anforderungen an ein überregionales Traumazentrum definiert:

  • Im überregionalen Traumazentrum muss rund um die Uhr eine personelle Ausstattung vorgehalten werden, die geeignet ist, alle Arten von Verletzungen auf höchstem Niveau sowohl als Notfall als auch im weiteren Verlauf definitiv versorgen zu können. Ausnahmen sind Querschnittlähmungen und schwere Verbrennungen.

  • Es sollen mindestens 2 Schwerverletzte parallel oder unmittelbar versetzt hintereinander definitiv versorgt werden können.

  • Es soll eine Aufnahmeverpflichtung eingeführt werden.

Kosten eines Schwerverletzten

Es ist allgemein bekannt, dass die Kosten für die Schwerverletztenbehandlung sehr hoch sind und von den deutschen DRG leider nicht gedeckt werden, wenn ein Haus tatsächlich Schwerstverletzte mit einem ISS>16 Punkten behandelt.

Eine Berechnung der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) aus dem Jahr 2001 gibt die Gesamtkosten eines Schwerstverletzten im Mittel mit 500.000 EUR an (Tab. 1). Die Hauptkosten fallen durch den kurz- und langfristigen Produktionsausfall an, die zusammen mit 330.000 EUR, entsprechend 64,7% der Gesamtkosten, zu Buche schlagen. Als weiterer großer Posten kommen die Rehabilitations- und Folgekosten mit 145.000 EUR, entsprechend 28,4% der Gesamtkosten, hinzu. In diesen Folgekosten stecken insbesondere die Rentenzahlungen bei bleibender Erwerbsunfähigkeit oder -minderung. Interessanterweise tragen die Krankenhauskosten nur mit 6,7% und im Schnitt 34.000 EUR zum Gesamtaufwand bei und die Rettung sogar nur mit 900 EUR bzw. 0,2%. Diese 6,9% Rettungs- und Krankenhauskosten entscheiden aber über das Behandlungsergebnis des einzelnen Schwerstverletzten und steuern damit die Folgekosten und den Produktionsverlust. Es wäre also logisch, maximal in die Ausstattung der Krankenhäuser und die Qualifizierung des dortigen Personals sowie des Rettungspersonals zu investieren. Diese vergleichbar geringen Mehrkosten würden sich bei den Gesamtkosten überproportional mindernd auswirken. Das Weißbuch Unfallchirurgie ist somit auch unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten von erheblicher Relevanz.

Tab. 1 Kosten eines Schwerstverletzten

Wenn man die sozioökonomischen Auswirkungen der Verletzungsfolgen reduzieren will, erscheint eine integrierte Behandlung der Gesamtverletzung, wie sie heute von den gesetzlichen Unfallversicherern schon vorbildhaft umgesetzt wird, der richtige Weg:

  • Kompetente und schnelle Erstversorgung

  • Kompetente und ergebnisorientierte definitive operative Behandlung

  • Kompetente ärztliche Weiterbehandlung

  • Konsequente Behandlung von Komplikationen

  • Kompetente Physiotherapie und Rehabilitationsbehandlung

  • Integrierte Berufseingliederung oder Umschulung

Orthopädie und Unfallchirurgie als neues gemeinsames Fach

Die bisherige Weiterbildung zum Chirurgen (Allgemeinchirurgen) mit dem darauf aufgesetzten Schwerpunkt Unfallchirurgie war sicherlich im Hinblick auf die Schwerverletztenversorgung die bessere Lösung im Vergleich zum heutigen Fach Orthopädie und Unfallchirurgie mit einer darauf gesetzten Zusatzweiterbildung Spezielle Unfallchirurgie. Im Jahr 2002 hat sich das bisherige Gebiet Orthopädie dem Gebiet Chirurgie angeschlossen und sich mit dem bisherigen Schwerpunkt Unfallchirurgie als eines von 8 Fächern des Gebietes Chirurgie zusammengeschlossen. Insofern ist die Unfallchirurgie nach wie vor ein Teil der Chirurgie, und die Orthopädie ist nach über 100 Jahren unter das Dach der Chirurgie zurückgekehrt. Das neue Fach Orthopädie und Unfallchirurgie beinhaltet für jeden, der diese Weiterbildung absolviert, grundlegende Kenntnisse und Erfahrungen in der Schwerverletztenbehandlung und im Schockraummanagement. Diese werden in der Zusatzbezeichnung Spezielle Unfallchirurgie noch erheblich vertieft und konkretisiert. Ob diese Qualifikationen ausreichen, um flächendeckend die Schwerverletztenversorgung und das Schwerverletztenmanagement in Deutschland auf dem heute hohen Niveau sicherzustellen, wird von einigen Kritikern bezweifelt. Wir können es uns nicht leisten, dass diese Kritiker evtl. Recht behalten und müssen daher schon jetzt vorsorgen und ggf. die Anforderungen der Weiterbildung zum speziellen Unfallchirurgen im Hinblick auf die Schwerverletztenversorgung erweitern. Denkbar ist eine verpflichtende Tätigkeit in der Viszeralchirurgie oder der Herz-, Thorax- und Gefäßchirurgie nach dem Basisfacharzt Orthopädie und Unfallchirurgie als Voraussetzung für die Erlangung der Qualifikation der Speziellen Unfallchirurgie. Der neue Facharzt Orthopädie und Unfallchirurgie kann aber auch zu einer Verbesserung der Gesamtversorgung Schwerverletzter führen, insbesondere der Begleitverletzungen an den Bewegungsorganen und deren Folgen.

Die Notwendigkeit für ein Zusammengehen von Orthopädie und Unfallchirurgie besteht nach wie vor und wird besonders vor den heutigen Sparzwängen evident. Gemeinsamkeiten sind u. a.

  • die Chirurgie der Bewegungsorgane

  • die Gelenkchirurgie

  • die Wirbelsäulenchirurgie

  • die Diagnostik

  • die Biomechanik

  • die Forschung an den Bewegungsorganen

Es gibt aber auch wichtige Unterschiede zwischen Orthopädie und Unfallchirurgie:

  • Behandlung der gesamten Verletzung oder nur der Bewegungsorgane

  • Notfallversorgung des Schwerverletzten

  • Notfalleingriffe vs. geplante Eingriffe

  • unterschiedliche Mentalitäten

  • unterschiedliche Arbeitsweisen

Nach wie vor wird von prominenten Vertretern der bisherigen Orthopädie das Fach Orthopädie und Unfallchirurgie nur für die „Erkrankungen und Verletzungen der Bewegungsorgane“ definiert, wobei bewusst oder unbewusst der Schwerverletzte und die Höhlen- und Organverletzungen, die Gefäß- und Nervenverletzungen, die Weichteildefekte mit notwendiger plastischer Deckung, die Verbrennungen und das Management des Schwerstverletzten ausgeklammert werden. Da diese Verletzungen aber expliziter Inhalt der gemeinsam erarbeiteten Weiterbildungsordnung und der vorangegangenen Verhandlungen waren, sollten sich die bisherigen Orthopäden, jetzt als Orthopäden und Unfallchirurgen, diesen besonders verpflichtet fühlen. Während Unfallchirurgie immer mit Notfallversorgung, Ad-hoc-Entscheidungen und Änderungen des vorgesehenen Operationsprogramms zu leben wusste, gibt es in der Orthopädie fast ausschließlich geplante Eingriffe und einen damit wesentlich geregelteren Klinikalltag. Dahinter stehen auch unterschiedliche Mentalitäten derjenigen Ärzte, die sich für Orthopädie, und derjenigen, die sich für Unfallchirurgie entschieden haben. Viele Kollegen/-innen haben bisher bewusst das eine oder das andere Fach gewählt, weil ihnen mehr die Notfallversorgung im weitesten Sinne oder mehr das geplante orthopädische Vorgehen lagen. Mit dieser Entscheidung war auch immer eine Grundentscheidung im Hinblick auf die private Lebensqualität verbunden. Die unterschiedlichen Aufgaben machen auch unterschiedliche Arbeitsweisen erforderlich, was sich durch den neuen gemeinsamen Facharzt von der Aufgabenstellung her nicht ändert.

Nicht zuletzt die Schwerverletztenversorgung wird dauerhaft die Konzentration auf die Unfallchirurgie und die Zusatzbezeichnung Spezielle Unfallchirurgie erforderlich machen, um die Gesamtverletzung in Deutschland flächendeckend kompetent versorgen zu können. Die zunehmende Spezialisierung der Orthopädie wird auf der anderen Seite die Zusatzbezeichnung Spezielle Orthopädie oder auch weitere Subqualifikationen erforderlich machen. Der 4-jährige gemeinsame Facharzt, aufbauend auf den 2-jährigen chirurgischen „common trunk“, entwickelt sich damit mehr und mehr zur Basisweiterbildung, auf die später verschiedene weiterführende Module aufgesetzt werden müssen.

Versorgungsstrukturen laut Weißbuch Schwerverletztenversorgung

Aus dem Weißbuch und der Idee flächendeckender Traumanetzwerke in Deutschland ergibt sich für die Universitäten und die anderen Maximalversorger in der Funktion von überregionalen Traumanetzwerken die folgende Konsequenz: An den Universitäten sind nach wie vor zwei W3-Lehrstühle für Unfallchirurgie und für Orthopädie erforderlich, die den gemeinsamen Facharzt sowie jeweils die Spezielle Unfallchirurgie oder die Spezielle Orthopädie vertreten und die durch weitere W2- und W3-Professuren des Fachs Orthopädie und Unfallchirurgie und ihrer Zusatzweiterbildungen ergänzt werden. Diese arbeiten eng zusammen und bilden gemeinsam ein unfallchirurgisch-orthopädisches Zentrum, in dem auch eine oder mehrere Forschungsprofessuren eingebunden sein sollten. Die Bezeichnung „muskulo-skelettal“ reduziert sprachlich zu sehr auf die Bewegungsorgane, scheint den Schwer- und Schwerstverletzten auszuschließen und hebt die Muskulatur unangemessen hervor, verschweigt aber die für das Fach so wichtigen Gelenke. Treffender wäre da schon die Bezeichnung „Trauma- und Gelenkzentrum“.

Auch für die großen Häuser der Maximalversorgung bieten sich 2 gleichberechtigte Chefarztabteilungen für Unfallchirurgie und für Orthopädie an, die natürlich sehr eng kooperieren müssen.

In den Häusern der Regel- und Basisversorgung wird man sich entweder für die Betonung der Unfallchirurgie und einen unfallchirurgisch ausgebildeten Chefarzt mit der Zusatzbezeichnung Spezielle Unfallchirurgie oder eine mehr orthopädische Ausrichtung entscheiden müssen. Dabei muss beachtet werden, dass das jeweilige Komplementärfach nur durch die Einstellung eines Oberarztes nicht ausreichend vertreten werden kann. In der niedergelassenen Praxis werden die Fachärzte für Orthopädie und Unfallchirurgie sehr viele überlappende Aufgaben übernehmen und sich sehr individuell spezialisieren und als Belegärzte tätig werden. Die für das D-Arzt-Verfahren (Durchgangsarztverfahren) erforderliche ärztliche Qualität kann nach den bisherigen Erfahrungen mit dem neuen Facharzt Orthopädie und Unfallchirurgie nur durch einen Arzt sichergestellt werden, der auch die Zusatzweiterbildung Spezielle Unfallchirurgie hat und an einem zum Verletzungsartenverfahren zugelassenen Krankenhaus tätig war.

Resümee

Momentan scheint die zunehmende Spezialisierung in der Chirurgie eine unumkehrbare Entwicklung zu sein. Die Behandlung des Schwer- und Schwerstverletzten wird mit Sicherheit darunter leiden, weil der Schwerverletzte den Generalisten und nicht den Spezialisten braucht. Was nützt der Knieexperte, wenn im Rahmen einer Mehrfachverletzung u. a. die der Schulter im Vordergrund steht? Die Zukunft wird zeigen, wie dieses Problem zugunsten der Schwerverletzten gelöst werden kann. Sicherlich ist es an der Zeit, den unfallchirurgischen Generalisten mehr anzuerkennen und gezielt zu fördern. Es ist ähnlich wie im Sport, wo der Zehnkampf die Königsdisziplin ist, auch wenn hier keine Weltrekorde aufgestellt werden.