In den letzten Jahren hat sich eine immer größere Diskrepanz zwischen dem Aufwand für die Erfassung der administrativen DRG-Daten und dem Anspruch an die wissenschaftlich/klinische Dokumentationsqualität aufgetan. Die für die Erfüllung der gesetzlichen Vorgaben zu erfassenden, erlösrelevanten Daten sind für Forschungs- und Qualitätssicherungszwecke meist zu undifferenziert und nur in begrenztem Umfang brauchbar. Aufgrund des hohen Zeitaufwands hierfür ist eine gleichzeitige und zusätzliche EDV-Erfassung klinisch sinnvoller Daten oftmals nicht praktikabel. Die Abbildung schwerstverletzter Patienten gelingt, gerade auch im BG-Bereich, häufig nur unzureichend. Dies zeigt sich v. a. in den DRG, wo die Differenziertheit der Dokumentation über wirtschaftlichen Erfolg oder Misserfolg einer Klinik entscheiden kann. Ansätze zum „disease staging“ sind derzeit in Deutschland noch nicht etabliert, weshalb gerade Krankenhäuser der Maximalversorgung unter DRG-Bedingungen besonders auf eine differenzierte Dokumentation Wert legen müssen, um den Schweregrad des Patientenguts belegen zu können.

Die verschiedenen Anforderungen an die Dokumentation wie DRG, AO-Klassifikationen, Scores, Dokumentation für die Bundesgeschäftsstelle für Qualitätssicherung (BQS) oder zukünftige Disease-Management-Programme (DMP) sind in ihrer Summe für den dokumentierenden Arzt im klinischen Alltag unzumutbar zeitaufwändig und in bisher erhältlichen Softwaresysteme nur durch Doppel- oder sogar Mehrfacheingaben zu erfüllen.

In DIACOS 4 (ID Berlin), einem Standardwerkzeug für die medizinische Dokumentation und Entgeltermittlung, war ab 1997 eine differenzierte Dokumentation traumatologischer und onkologischer Diagnosen unter der Verwendung der AO-Klassifikation und der TNM-Systematik möglich. Hierbei lag der Hauptfokus auf einer einfachen Datenerfassung durch die Nutzung von Abbildungen aus der Standardanatomie [3], welche zusätzlich zu einem Thesaurus für die Textsuche zur Kodierung in Standardklassifikationen verwendet wurde. Eine genauere Aufschlüsselung der Diagnosen und Therapien erfolgte unter Verwendung der Standardnomenklatur Wingert NC, die den ICD-Kodes übergeordnet ist, um eine größere Detailgenauigkeit zu erzielen und gleichzeitig den gesetzlichen Anforderungen gerecht zu werden.

Ziel des vorliegenden, vom HVBG geförderten Teilprojekts war es, in Zusammenarbeit mit der Fa. ID Berlin, eine simplifizierte und einzeitige Erfassung komplexer Daten zur Verbesserung sowohl der administrativen als auch der klinischen Dokumentationsqualität zu erreichen, um so den veränderten Anforderungen durch DRG, BG-Dokumentation, Forschung, klinische Studien und Qualitätssicherung im Bereich Handchirurgie gerecht zu werden.

Methode

Zur Beschreibung medizinischer Sachverhalte diente eine systematisierte Nomenklatur der Medizin (Wingert NC), die 1984 von Friedrich Wingert [4] in deutscher Sprache herausgegeben wurde. Sie enthält eine multiaxiale medizinische Struktur, welche 7 Dimensionen umfasst:

  • Topographie

  • Morphologie

  • Ätiologie

  • Funktion

  • Krankheit

  • Prozedur

  • Beruf

Aufgrund der Komplexität des „Handlings“ einer solchen Nomenklatur entwickelte Wingert [4] auf der Grundlage der morphologischen Textanalyse ein halbautomatisches Verfahren zu deren Indexierung.

Diese Nomenklatur und die dazu gehörenden Indexierungsalgorithmen wurden vom ID Berlin ständig weiterentwickelt und umfassen derzeit etwa 120.000 medizinische Termini. Durch Nutzung eines medizinischen semantischen Netzes (ID MACS) können in einem mehrstufigen Verfahren Klartexteingaben in einem Indexierungsalgorithmus verarbeitet werden. Dabei werden Begriffe in Bedeutungen überführt und eindeutig terminologisch beschrieben.

Semantisches Netzwerk

Die Verbindung der Achsen der Wingert-Nomenklatur Topographie, Morphologie, Ätiologie, Funktion, Wirkstoffe, Verfahren und 3 weiterer Zusatzachsen untereinander ergibt semantische Beziehungen (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Grundsätzliche Struktur des semantischen Netzes, 3 Ebenen: Topographie, Morphologie und Pathologie, wechselseitig verknüpft, Einstiege aus allen Ebenen möglich

Beispiel

„Am Kahnbein können „n“ verschiedene Morphologien/Pathologien auftreten, die jeweils „n“ plausible Behandlungsverfahren nach sich ziehen“. Die Einordnung einer Diagnose innerhalb des semantischen Netzes erfolgt schichtenspezifisch, zusätzlich geordnet nach medizinischen Disziplinen. Einer der Vorteile der Nutzung von solchen Netzen liegt in ihrer Sprachunabhängigkeit, die die Entwicklung multilingualer Applikationen vereinfacht.

Grafische Datenerfassung

Sie sollte mit Hilfe einer standardisierten, anatomischen Beschreibung mit höchstmöglicher Präzision durchführbar werden. Hierzu wurde die Hand in anatomische Ebenen aufgeteilt und jeder Punkt der anatomischen Strukturen über eine „GPS“-ähnliche Technik definiert. So kann jede Verletzung per Mausklick markiert und dokumentiert werden. Gleichzeitig werden bei Markierung betroffener unterschiedlicher Strukturen die möglichen Klassifikationen angezeigt. Dies beinhaltet u. a. die AO-Klassifikationen für Frakturen sowie Einteilungen für Sehnenverletzungen, Bandverletzungen und Verbrennungen (Abb. 2, 3). Alle eingezeichneten Verletzungen werden gleichzeitig angezeigt und können durch den Benutzer auf Vollständigkeit überprüft werden. Ergänzungen bzw. Streichungen erfolgen im Negativauswahlverfahren per Mausklick, bevor das Ergebnis gesichert wird.

Abb. 2
figure 2

Progressive interaktive Eingabe einer Radiusfraktur mit gleichzeitiger Generierung der AO-Klassifikation, therapeutische Maßnahmen: ebenfalls interaktive Eingabe nach Plausibilitätskontrolle per Mausklick möglich

Abb. 3
figure 3

Grafische Dokumentation am Beispiel einer Skaphoidfraktur, Einzeichnen der Frakturlinie, anatomische Lokalisationsdefinition, automatischer Aufruf der entsprechenden Frakturklassifikation, programmimmanente Vorschläge zu Osteosyntheseoptionen

Ergebnisse

Durch die Benutzung semantischer Relationen ist es gelungen, Diagnosen und Therapien plausibel in alle Richtungen zu verknüpfen. Einstiege sind von allen Seiten her möglich, also sowohl über Thesaurussuche und Klartexteingabe als auch über die grafische Dokumentation. Darüber hinaus ermöglicht die einzeitige Erfassung aller relevanten Daten dem dokumentierenden Arzt eine differenzierte medizinische Dokumentation, da insbesondere die Anwendung von Klassifikationen (z. B. AO-Klassifikation) erleichtert und interaktiv erfasst wird (Abb. 2).

Verletzungen können per Mausstrich in eine schematische anatomische Grafik eingezeichnet werden, woraus automatisch die entsprechende Kodierung generiert wird (Abb. 3).

Eine weitere Innovation stellt die automatische Anzeige plausibler Behandlungsverfahren dar. Diese Therapieoptionen sind durch die semantischen Verbindungen auf die jeweils plausiblen Verfahren reduziert und können detailgenauer und praxisnäher wiedergegeben werden, als dies der OPS erlaubt. Im Bereich der Diagnosen ist durch die Nutzung klinischer Spezialklassifikationen eine genauere Darstellung möglich, welche im ICD-10 nicht zu realisieren, für Qualitätssicherung und Forschung jedoch unverzichtbar ist. Aus den eingegebenen Daten wiederum wird automatisch der zugehörige DRG-Schlüssel bestimmt und auf Plausibilität überprüft.

Für den Bereich der BG-Verfahren ist darüber hinaus die gleichzeitige Erzeugung der HV-BG-Schlüssel möglich. Für eine zukunftsgerichtete Entwicklung von DALE-UV ist diese Dokumentationsplattform ideal, die beispielhafte Nutzung ist in Abb. 4 demonstriert.

Abb. 4
figure 4

Organigramm der traditionellen und zukünftigen Abläufe des D-Arzt-Verfahrens, elektronisches Verfahren (DALE-UV): Ermöglichung einer extrem zeitnahen Steuerung des Heilverfahrens mit der Option früher Kompetenzverlegungen, verfügbare Daten für QM, Effizienzprüfung, Kostensenkung usw. in einem bisher nicht möglichen Qualitätsniveau zur Verfügung stehend, Reduktion zeitlicher Verzögerungen auf ein Minimum

Auch hinsichtlich der Einführung der elektronischen Gesundheitskarte eGK ab 2006 sind standardisierte Abbildungen medizinischer Merkmale unerlässlich geworden, um z. B. Arzneimittelinteraktionen zu definieren und so zukünftig die Arzneimittelsicherheit zu verbessern.

Die Präzision des Systems liegt bei deutlich über 99%. Klinische Tests erfolgten in der Klinik für Hand-, Plastische und Rekonstruktive Chirurgie der BG-Unfallklinik Ludwigshafen. Rückmeldungen zur Optimierung des Workflows wurden vom Entwicklungspartner ID Berlin in mehreren Schritten in das Programm eingearbeitet.

Diskussion

Bürokratische Überregulierung und ein Entgeltsystem, das sich sowohl in der Definitions- als auch der relevanten Entgeltebene in der Lernphase befindet, haben die Anforderungen an die Dokumentation in den Krankenhäusern so hoch geschraubt, dass inzwischen schätzungsweise 30–40% der Arbeitszeit von Assistenten im Krankenhaus für administrative Aufgaben verbraucht werden. Hinzu kommt, dass die gleichzeitig geforderten evidenzbasierten Studien, die Entwicklung evidenzbasierter Kriterien und Leitlinien oder im berufsgenossenschaftlichen Bereich die Steuerung des Heilverfahrens durch die in der Routinedokumentation gewonnenen Daten nicht möglich sind. Diese sich schon vor einigen Jahren abzeichnenden Gründe waren Anlass für die Entwicklung einer Idee und eines sich daraus ergebenden Forschungsprojekts, welches sich mit der Möglichkeit beschäftigt, nicht nur eine präzise, benutzerfreundliche, medizinische Dokumentationsplattform zu entwickeln, sondern die einmal erhobenen Daten gleichzeitig für die Erlösrechnung zur gesetzlich vorgeschriebenen Qualitätssicherung und zur Ableitung medizinischer Klassifikationen und Dokumentationsschlüssel zu verwenden.

Hierzu mussten auf einer bestehenden Nomenklatur (Wingert-Nomenklatur) 2 völlig neue Softwarekomponenten entwickelt werden. Zum einen wurden anatomisch detailgetreue Abbildungen punktweise durch ein Vektorsystem definiert und damit eine bis dahin nicht gekannte Präzision erreicht. Zum anderen wurde, sowohl hinter die konventionelle Textthesaurussuche als auch hinter die grafische Dokumentationsplattform, ein so genanntes semantisches Netz gelegt. Dieses erlaubt neben der sprachunabhängigen Definition medizinischer Sachverhalte auch freie Austauschbarkeit der Daten über verschiedene Softwaresysteme hinweg und hat bei der „Retrieval-Funktion“, d. h. in der Wiedererlangung gespeicherter Daten unter bestimmten Fragestellungen, eine neue Dimension eröffnet.

Das aufwändige Zusammensuchen einzelner Prozeduren entfällt aufgrund der grafischen Erfassung. Diese stellt zudem, da keine Notwendigkeit einer schriftlichen Eingabe besteht, eine erhebliche Arbeitserleichterung dar und ergibt eine deutlich differenziertere Darstellung des Patientenguts. Die gleichzeitige Abbildung medizinischer Daten und Generierung DRG-relevanter Daten sind möglich. Des Weiteren wird gewährleistet, dass auch in Zukunft alte Daten vergleichbar bleiben können, selbst wenn sich das DRG-System ständig ändern sollte. Somit sind auch langfristige retrospektive Untersuchungen zur Qualitätssicherung oder ökonomische Verlaufsdarstellungen möglich. Die bisherige Realisierung dieses Konzepts im Handbereich ist aufgrund seiner Komplexität als wegweisendes Pilotprojekt zu sehen und stellt ein generisches Modell für andere Körperregionen bzw. die gesamte Traumatologie dar.

Die in den Testversuchen erreichte Genauigkeit, auch komplexeste Verletzungsmuster abzubilden und daraus entsprechende Klassifikationssysteme abzuleiten, eröffnet mit diesem Softwaremodul eine enorme Zukunftsperspektive. Ohne Doppeleingabe und die damit verbundene zeitliche Belastung erhält man so Daten für prospektive klinische Studien und Eingangskriterien für das berufsgenossenschaftliche Heilverfahren sowie eine extrem detaillierte Dokumentation für die medizinische und erlösrelevante Leistungsdarstellung. Umgekehrt können mit diesen Daten als Basis definierte Stichproben aus großen Datenpools gewonnen werden, um hier z. B. ergebnis- bzw. qualitätsorientierte Vergleiche unterschiedlich behandelter Kollektive vorzunehmen.

Eine weitere interessante Option eröffnet sich mit der Einführung des elektronisch übermittelten D-Arzt-Berichts (DALE-UV). Unter zunehmendem finanziellem Druck auch im BG-Bereich kommt der schnellen Übermittlung von Verletzungsdaten und der damit möglichen frühen Interventionsmaßnahmen beim Heilverfahren eine entscheidende Bedeutung zu. Der hohe Bedienkomfort und die problemlose Dateneinspeisung, sowohl in Praxis- als auch in Kliniksoftware, machen das entwickelte System zur idealen Plattform eines zukunftsorientierten elektronischen D-Arzt-Systems. Soll DALE-UV wirklich als „Prozessbeschleunigendes System“ eingesetzt werden, ist eine Dokumentationsplattform wie TRAUMA II als integrierter Bestandteil in Rahmensystemen unverzichtbar.

Fazit für die Praxis

Die eingangs gesteckten Ziele konnten in vollem Umfang erreicht werden. Somit steht ein Werkzeug zur Verfügung, das sowohl für den administrativen Bereich eine einfache Datenerfassung ermöglicht als auch für vielfältige Zwecke der klinischen Abbildung und BG-Dokumentation verwendet werden kann.