Die Terminologie dystropher posttraumatischer Extremitätenveränderungen ist mit Begriffen wie

  • Algodystrophie,

  • sympathische Reflexdystrophie oder

  • Morbus Sudeck

in der klinischen Praxis uneinheitlich, obwohl meist über dasselbe Krankheitsbild gesprochen wird. Zur Vereinheitlichung wurde im Jahr 1993 im Rahmen einer Konsensuskonferenz der IASP (International Association for the Study of Pain) der Begriff des „complex regional pain syndrome type I and II“ (CRPS I, II) eingeführt, wobei für posttraumatische Veränderungen ohne manifeste Nervenläsion Typ I maßgeblich ist [24]. Es entwickelt sich unabhängig von der Lokalisation und Schwere des Traumas distal generalisiert an der betroffenen Extremität [6]. CRPS II dagegen tritt nach Verletzung von peripheren Nerven auf.

Das variable klinische Erscheinungsbild der Erkrankung mit dem gleichzeitigen Vorliegen

  • sensorischer (gesteigertes und verändertes Schmerzempfinden, Hyperalgesie, Allodynie),

  • autonomer (distal generalisiertes Ödem, veränderte Durchblutung, veränderte Trophik) sowie

  • motorischer Störungen (verminderte Beweglichkeit beteiligter Gelenke, Kraftverlust, Tremor)

bereitet v. a. in der Frühphase nach dem Trauma erhebliche diagnostische Schwierigkeiten, da die direkten Traumafolgen eine ähnliche Symptomatik widerspiegeln können [20, 30]. Die klinische Symptomatik ist oft schlecht reversibel und mündet nicht selten in Langzeitverläufe, welche die betroffenen Patienten langfristig invalidisieren. Nach 6 Monaten sind 2/3 der Patienten, nach 1 Jahr 1/3 der Patienten noch nicht beschwerdefrei [3, 9]. Das häufige Auftreten mit geschätzten 15000 Neuerkrankungen pro Jahr in Deutschland, zusammen mit der Chronizität des Leidens bedingt eine erhebliche sozialmedizinische Bedeutung.

Eine frühe Diagnosestellung ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie und die Vermeidung von Langzeitverläufen [16, 25]. Somit kommt einer regelmäßigen und differenzierten klinischen Nachuntersuchung von posttraumatischen Patienten eine große Bedeutung zu [1]. Jedoch auch apparative Verfahren leisten einen Beitrag zur Etablierung der Diagnose CRPS I [13].

Grundsätzlich unterscheiden sich dystrophe Veränderungen an der unteren Extremität klinisch nicht von denen der oberen Extremität und werden folglich auch hinsichtlich Diagnostik und Therapie einheitlich beurteilt [30].

Die folgende Übersicht soll eine Hilfestellung zur frühen Diagnosestellung und erfolgreichen Therapie dystropher Veränderungen nach Fußverletzungen leisten.

Epidemiologie

Über die Häufigkeit des CRPS und dessen Verlauf finden sich in der Literatur sehr unterschiedliche Angaben [2]. Allgemein anerkannt ist die Tatsache, dass das Syndrom v. a. nach Verletzungen und Operationen an den Extremitäten, aber auch nach „zentralen“ Auslösern (Apoplex, Herzinfarkt, Schädel-Hirn-Trauma) sowie auch idiopathisch oder nach Bagatellverletzungen auftreten kann [3, 22, 30]. Besonders häufige Auslöser sind körperferne Verletzungen oder Operationen an Sprunggelenk, Fuß, Hand oder Handgelenk mit einer Inzidenz zwischen 8% und 37% [3, 9, 20, 30]. Für die Inzidenz nach Fußverletzungen liegen in der Literatur keine prospektiven Daten vor. Anderson u. Fallat [1] fanden in einer retrospektiven Studie bei CRPS des Fußes in 73% ein vorangegangenes Trauma, in 28% der Patienten entwickelte sich die Erkrankung nach elektiver Fußchirurgie. Die Exzision von Neuromen war mit 30% der häufigste Eingriff, der durch ein CRPS kompliziert wurde [1].

Der Altersschwerpunkt liegt zwischen 40 und 70 Jahren [3, 21, 30], wobei die Erkrankung kein Lebensalter ausspart und Patienten zwischen 5 und 95 Jahren bekannt sind [1, 20]. Die Erkrankung zeigt bei Kindern eher eine milde Verlaufsform mit hoher Spontanheilungsrate und gutem Ansprechen auf rein konservative Behandlungsmethoden [17].

Eindeutig ist ein Übergewicht an Frauen mit einem Geschlechtsverhältnis von m:w=1:3 [1, 30].

Patienten mit bereits durchgemachtem CRPS haben ein erhöhtes Risiko zu Rezidiven. Diese können sowohl ipsilateral als auch kontralateral auftreten. Auch eine familiäre Häufung von CRPS-Erkrankungen ist bekannt [30].

Zu Krankheitsverlauf und Prognose liegen nach Fußverletzungen keine prospektiven Studien vor. In einer retrospektiven Analyse von 33 Patienten mit einem CRPS der unteren Extremität zeigte sich eine deutlich höhere Rate an Langzeitverläufen über 1 Jahr nach Beginn der Symptomatik (80%) im Vergleich mit CRPS-Erkrankungen der oberen Extremität (50%) [1]. Im Vordergrund stand bei den Patienten mit Langzeitverlauf eine Chronifizierung des Schmerzes mit einer mittleren Schmerzstärke von 7,3 VAS (visuelle Analogskala: VAS 1–10).

Pathophysiologie

Sie ist immer noch unklar. Gesichert scheint, dass eine periphere und/oder zentrale Störung im physiologischen Regelkreis sympathischer Vasokonstriktorneuronen besteht [4, 14, 15, 20]. Schürmann et al. [20] konnten mit Hilfe der Laser-Doppler-Fluxmessung an unterer und oberer Extremität von Patienten mit CRPS eine aufgehobene oder stark verminderte Reaktion sympathischer Vasokonstriktorneuronen auf sympathische Provokationsmanöver feststellen. Erfolglose Therapien mit Sympathikusblockaden, die trotz Vollbild eines CRPS im späteren Verlauf der Erkrankung (>30 Tage nach Beginn der Symptomatik) auftreten, haben jedoch Zweifel an der essenziellen Rolle des sympathischen Nervensystems bei der CRPS-Genese geweckt [12, 21].

Neuere Untersuchungen unterstützen die Vorstellung einer lokalen Entzündungsreaktion („local SIRS“) bei der Entstehung des CRPS [10, 29]. In Skelettmuskelbiopsien betroffener Patienten wurden eine Zunahme von Lipofuszinpigment, atrophen Muskelfasern und veränderten Kapillargefäßen als Zeichen einer oxidativen Stressreaktion gefunden [29]. Die lokale Entzündungsreaktion ist vermutlich neurogen bedingt, da sensorische Neuropeptide (Bradykinin, Substance P, Neuropeptid Y), welche aus antidrom stimulierten nozizeptiven C-Fasern ausgeschüttet werden, bei peripheren Neuropathien in erhöhter Konzentration nachgewiesen wurden [5].

Problematisch ist, dass keine der Studien eine adäquate Kontrollgruppe, bestehend aus Patienten mit Gewebetrauma und unkompliziertem Krankheitsverlauf, aufwies. Es ist unklar, ob die beschriebenen Veränderungen CRPS-spezifisch sind oder auch posttraumatisch auftreten können. Auch gibt es bisher wenig Hinweise dafür, in welcher Region sich das CRPS hauptsächlich abspielt (Haut, Muskel, Periost).

Klinik

Das klinische Erscheinungsbild des CRPS I ist vielgestaltig und vereinigt Symptome unterschiedlichster Natur. Es finden sich Störungen, die dem autonomen Nervensystem, dem motorischen System und dem sensorischen System zugeordnet werden können. Diese Symptomtrias kann in vollständiger Form vorliegen, aber auch nur inkomplett vorhanden sein [6, 30]. Tabelle 1 gibt einen Überblick der häufigsten Symptome bei Patienten mit CRPS I (Abb. 1).

Tabelle 1 Klinische Symptomatik bei 829 Patienten mit SRD (487 Fällen obere, in 342 Fällen untere Extremität betroffen) [30]
Abb. 1
figure 1

Klinisches Beispiel einer Patientin mit CRPS der unteren Extremität 18 Wochen nach OSG-Fraktur

Charakteristisch ist die handschuh- oder strumpfförmige Ausbreitung der Symptome im Bereich der betroffenen Extremität, die Beschwerden können aber vom Ort der vorangegangenen Läsion auch nach proximal und distal ausstrahlen. Mit zunehmender Krankheitsdauer wurde eine Ausdehnung der Symptome auf proximale Areale — hier v. a. Gelenke — beobachtet, es können aber auch Gelenke übersprungen werden. Andererseits sind Verlaufsformen bekannt, bei denen nur kleine Bereiche betroffen sind [6].

Das komplexe klinische Erscheinungsbild mit dem möglichen Fehlen einzelner Symptome und die schlechte Abgrenzbarkeit von einem komplizierten posttraumatischen Zustand anderer Genese bereiten dem Arzt nach wie vor diagnostische Schwierigkeiten.

Diagnostik

Klinische Untersuchung

Trotz oben angeführter Schwierigkeiten wird die Diagnose eines CRPS I am Fuß in erster Linie klinisch gestellt. Als Goldstandard werden die IASP-Kriterien von 1995 [24], modifiziert nach Bruehl et al. [7], angesehen (Tabelle 2), die durch eine systematische Wertung der einzelnen Symptome dem Untersucher die Diagnosestellung erleichtern. Wichtig erscheint die Auffassung einiger Autoren, dass auch bei Patienten ohne klassische Klinik mit nur inkompletter Symptomatik, beim Fehlen von entsprechenden Differenzialdiagnosen, die Diagnose CRPS in Betracht gezogen werden sollte. Hier sind v. a. posttraumatische Patienten zu nennen, bei denen nicht selten Spontanschmerzen eine untergeordnete Rolle spielen, jedoch die restlichen klinischen Zeichen in ausgeprägter Form vorliegen [3, 9].

Tabelle 2 Kriterien zur klinischen Diagnose CRPS I [7, 24]

Die Diagnose CRPS I wird zurückgestellt, wenn eine andere Komplikation (z. B. Infekt oder Frakturheilungsstörung) die klinischen Symptome verursachen kann.

Konventionelles Röntgen

Das klassische seitenvergleichende Röntgenbild des Fußes a.-p. mit dem Nachweis einer umschriebenen, streifig-fleckigen Mineralsalzminderung gilt heute noch als Standarddiagnostikum und prägte maßgeblich die früher übliche Stadieneinteilung der Erkrankung in eine akute, dystrophe und atrophe Phase [2]. Jedoch sind in der Frühphase radiologische Veränderungen meist noch nicht existent [19]. Die Interpretation erschwerend kommen knöcherne Veränderungen durch das meist vorangegangene Trauma hinzu sowie die — häufig durch die Ruhigstellung bedingte — Inaktivitätsatrophie [19, 28].

Prospektive Untersuchungen bei Patienten mit Radiusfraktur zeigten eine hohe Spezifität (91%) der radiologischen Diagnostik bei mäßiger Sensitivität (33%) und einem Vorhersagewert von 35% [11].

Szintigraphie

Sensitiver als die konventionelle Röntgendiagnostik — und das v. a. in der Frühphase der Erkrankung — scheint die Skelettszintigraphie zu sein [19, 26]. Charakteristische Veränderungen sind eine vermehrte frühstatische Anreicherung in den ersten beiden Phasen des gesamten betroffenen Skelettabschnitts mit Betonung der periartikulären Region. Meist sind schon in der Perfusionsphase diskrete Unterschiede im Seitenvergleich darzustellen, aber auch die „Poolingphase“ und die ossäre Spätphase sind diagnostisch bedeutsam [8, 19, 26].

Die Problematik der Szintigraphie besteht in der geringen Spezifität der Methode, die bislang keine Differenzierung von posttraumatischen, infektiösen oder rheumatischen Prozessen erlaubt [26]. In einer szintigraphischen Untersuchung von Holder et al. [13] bei Patienten mit einem CRPS der unteren Extremität zeigte sich eine Spezifität zwischen 66% und 80%, der Vorhersagewert betrug 54%.

MRT

Mit Hilfe der Magnetresonanztomographie lassen sich morphologische Veränderungen an Knochen und Weichteilen bei CRPS-Patienten darstellen. Schimmerl et al. [18] beschrieben hypointense Signale auf T1-gewichteten und hyperintense Signale auf T2-gewichteten Aufnahmen im Bereich der Spongiosa als Zeichen für eine Inhomogenität der Knochenstruktur. Dieses Phänomen wird als lokales Knochenmarködem mit Hyperämie und Weitstellung der intra- und extraossären Räume interpretiert [23]. Weiterhin wurden auffällige Weichteilveränderungen mit subkutanem Ödem, Ergussbildungen und Kapselverdickungen in periartikulären Regionen beschrieben, die im zeitlichen Verlauf in unterschiedlichen Ausprägungen imponieren. Um die Aussagekraft der Untersuchung zu erhöhen, sollte das MRT möglichst mit Kontrastmittelverstärkung (Gadolinium-DTPA) durchgeführt werden [18].

Ähnlich der Szintigraphie ist die Abgrenzung eines frühen posttraumatischen Zustandbilds schwierig. Im eigenen Krankengut zeigte eine prospektive Untersuchung von Patienten mit distaler Radiusfraktur eine sehr geringe Sensitivität der MRT-Untersuchung (8 Wochen posttraumatisch 43%, 16 Wochen posttraumatisch 13%) mit einer im zeitlichen Verlauf steigenden Spezifität (8 Wochen posttraumatisch 78%, 16 Wochen posttraumatisch 98%), welche die MRT als Screeningverfahren disqualifiziert, aber zur Entscheidungshilfe bei Problemfällen nützlich erscheinen lässt (unpublizierte Daten).

Sympathikusblockaden

Der lumbalen Sympathikusblockade mit Lokalanästhetikum kommt neben der therapeutischen Wirkung auch hinsichtlich der Diagnostik eine entscheidende Bedeutung zu [13]. Eine erfolgreiche Schmerzreduktion nach Sympathikusblockade spricht für das Vorliegen eines neurogenen Schmerzsyndroms und somit für die Diagnose CRPS. Es gibt jedoch auch Fälle, in denen der Schmerz nicht im Vordergrund steht oder ein von der Sympathikusfunktion unabhängiger Schmerz (SIP) vorliegt. Somit ist eine ausbleibende Schmerzreduktion nach Sympathikusblockade kein Ausschluss der Diagnose CRPS [21].

Therapie

Sie umfasst eine Vielzahl

  • physiotherapeutischer,

  • medikamentöser,

  • psychotherapeutischer sowie

  • selten operativer Maßnahmen.

Obwohl das CRPS eine langsame, spontane Selbstheilungstendenz zeigt, wird ein möglichst früher Behandlungsbeginn empfohlen. Ein abwartendes Vorgehen führt zu einem nicht abschätzbaren Krankheitsverlauf [1, 25].

Tabelle 3 zeigt ein mögliches Stufenschema in Anlehnung an Stanton-Hicks et al. [25] und Lee u. Kirchner [16] ohne Anspruch auf Vollständigkeit zur Behandlung des frühen posttraumatischen CRPS an der unteren Extremität. Patienten, die mit dystrophen Veränderungen der unteren Extremität auffallen, sollten für eine adäquate Therapie interdisziplinär in Zusammenarbeit mit der Anästhesie, Neurologie und physikalischer Medizin behandelt und langfristig betreut werden. Schmerzpatienten sollen, wenn möglich, ein Schmerztagebuch führen und regelmäßig den Erfolg oder Misserfolg der jeweiligen Therapieform ihrem Therapeuten mitteilen. Nur so können die gefürchteten Langzeitverläufe über Jahre wirksam verhindert werden [16].

Tabelle 3 Mögliches Stufenschema zu Behandlung des akuten CRPS nach Fußverletzungen