In der Neufassung der ICD 10 sind gemäß Kapitel F43 Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen umfassend definiert worden. Die in der gesetzlichen Unfallversicherung häufigsten diagnostischen Kategorien betreffen die Ziffern F43.0, F43.1 und F43.2.

Akute Belastungsreaktion (F43.0)

Bei der akuten Belastungsreaktion (Diagnoseziffer F43.0) handelt es sich um eine vorübergehende Störung, die sich bei einem psychisch nicht manifest gestörten Menschen als Reaktion auf eine außergewöhnliche physische oder psychische Belastung entwickelt und die im Allgemeinen innerhalb von Stunden oder Tagen abklingt.

Als typische Symptome werden

  • Zustände von "Betäubung" mit einer gewissen Bewusstseinseinengung und eingeschränkten Aufmerksamkeit,

  • eine Unfähigkeit, Reize zu verarbeiten, sowie

  • eine Desorientiertheit

aufgeführt.

Diesem Zustand können ein weiteres Sichzurückziehen aus der Umweltsituation bis hin zu einem dissoziativen Stupor oder zu einem Unruhezustand mit Überaktivität folgen. Vegetative Reizsymptome in der Form von Tachykardie, Schwitzen und Erröten können hinzutreten.

Die akute Belastungsreaktion klingt im Allgemeinen innerhalb kurzer Zeit (genannt wird ein Zeitraum von maximal 3 Tagen) spontan ab, bei den Betroffenen kann eine teilweise oder vollständige Amnesie zurückbleiben.

Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1)

Die Diagnosekategorie F43.1 Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) wurde von amerikanischen Psychiatern anhand der Dokumentation von auffälligen psychischen Zustandsbildern bei Veteranen des Vietnamkriegs konzipiert. Bei diesen Probanden war es unter dem Eindruck von Kampfhandlungen zu einer verzögerten Reaktion auf die belastenden Ereignisse gekommen.

Die Symptome betrafen das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, "flash backs"), Träumen oder Alpträumen, einhergehend mit einem andauernden Gefühl von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit. Beobachtet wurden ferner affektive Störungen wie Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit und Freudlosigkeit. Das Konzept wurde in der amerikanischen Psychiatrie auf belastende Ereignisse der zivilen Lebensführung ausgeweitet und im Diagnosemanual DSM III ausführlich beschrieben. Die wesentlichen Diagnosekriterien sind in die ICD 10 übernommen worden.

Durch die Konzeption der posttraumatischen Belastungsstörung sind die früheren Diagnosestellungen z. B. einer Schreckneurose, einer Kampf- oder Kriegsneurose oder einer Unfallneurose nunmehr obsolet geworden.

Anpassungsstörungen (F43.2)

Die Diagnosekategorie F43.2 Anpassungsstörungen beschreibt Zustände von subjektiver Bedrängnis und emotionaler Beeinträchtigung mit der Folge der Behinderung allgemeiner sozialer Funktionen und Leistungen.

Als Symptome werden genannt:

  • depressive Stimmung,

  • Angst oder Sorge und

  • Störungen des Sozialverhaltens.

Als Auslöser werden u. a. Trauerfälle, Trennungserlebnisse, Schulbesuch, Elternschaft, Misserfolg und Ruhestand aufgeführt.

Problemstellung

In der gesetzlichen Unfallversicherung sind die körperlichen und seelischen Folgen eines Arbeits- oder Wegeunfalls versicherungsrechtlich gleichgestellt worden. Im Hinblick auf die körperlichen Schädigungsfolgen ist in dem über 100-jährigen Bestehen der Unfallversicherung ein flächendeckendes und gut funktionierendes D- und H-Arzt-Verfahren entwickelt worden.

Für die Diagnostik und Therapie seelischer Störungen nach Unfallereignissen existiert dagegen bis heute kein vergleichbares Behandlungsnetz.

Während der letzten Jahre ist bei den Unfallversicherungsträgern das Problembewusstsein bezüglich der Versorgung von Versicherten mit seelischen Störungen gewachsen. So haben psychische Erkrankungen in der Sozialversicherung generell an Bedeutung zugenommen. In der Zwischenzeit stellen sie insbesondere bei Frauen eine Hauptursache für die Zuerkennung einer Erwerbsunfähigkeit dar. In der gesetzlichen Unfallversicherung existieren zum Häufigkeitsanstieg geltend gemachter psychischer Störungen bislang keine validen Daten. Im unfallnervenärztlichen Begutachtungsverfahren sind während der letzten Jahre im verstärktem Maß Patienten mit psychischen Störungsbildern vorgestellt worden, und zwar sowohl mit primärer seelischer Symptomatik ohne körperliches Trauma (z. B. nach Überfällen und Geiselnahmen) als auch mit sekundärem psychischem Folgeschaden nach körperlichen Verletzungen.

Die hieraus resultierenden Anforderungen und Probleme sind zuletzt in einem ausführlichen Artikel von Hehling u. Mehrhoff [1] dargestellt worden.

Die aktuelle Versorgungslage in der Neuropsychiatrie und Psychotherapie hat zu berücksichtigen, dass trotz einer in der Zwischenzeit erfolgten hohen Neuzugangsquote von ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten zur ambulanten Patientenversorgung auch weiterhin erhebliche Wartezeiten für die Neuaufnahme von Patienten bestehen. Je nach Region kann die Wartezeit im Einzelfall 6 Monate und länger betragen. In diesem Zusammenhang hat eine statistische Erhebung der Deutschen Angestelltenkrankenkasse (DAK) anhand ihres Versichertenkollektivs ermittelt, dass psychische Erkrankungen im 5-Jahres-Zeitraum von 1997 auf 2001 erheblich zugenommen haben und dass die durch diese Erkrankungen bedingten Erkrankungstage um 51% angestiegen sind, insbesondere auch bei jungen Versicherten unter 30 Jahren. Das Erkrankungsspektrum betrifft insbesondere

  • Depressionen,

  • neurotische Störungen,

  • Angsterkrankungen und

  • psychosomatische Leiden [2].

Unter Berücksichtigung dieser Umfeldbedingungen erscheint es aus unfallnervenärztlicher Sicht sinnvoll, das Heilverfahren für Unfallverletzte mit psychischen Störungen durch eine gesonderte Einbindung von ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten in ein Versorgungsmodell der gesetzlichen Unfallversicherung zu organisieren. In diesem Zusammenhang sind in Trägerschaft der Landesverbände bereits erste Modellversuche angelaufen.

Versorgungsmodell der gesetzlichen Unfallversicherung

Versorgung im akutstationären Bereich

Die bisherigen US-amerikanischen Studien belegen, dass es bei wenigstens 20% von Unfallpatienten im weiteren Verlauf zur Ausprägung einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) kommt [3]. Bei schwer Unfallverletzten und insbesondere bei Brandverletzten kann diese Rate deutlich höher liegen. Die optimale chirurgische Versorgung dieser Patientengruppe ist essenziell und in der gesetzlichen UV selbstverständlich. Die Herbeiziehung eines nervenärztlichen oder klinisch-psychologischen Konsiliarius zur diagnostischen Abklärung bzw. Erstbehandlung einer sich entwickelnden PTBS stellt eine wichtige Ergänzung der ganzheitlichen Therapie dar. Unfallpatienten mit Schlafstörungen, Alpträumen, ängstlich depressiver Stimmungslage oder sonstigen Verhaltungsauffälligkeiten sind schon während des akutstationären Aufenthalts zwingend einem erfahrenen Neuropsychiater vorzustellen.

Ambulantes D-Arzt-Verfahren

Auch hier sollte der Grundsatz gelten, dass Unfallpatienten mit psychischen Auffälligkeiten auch nach leichteren körperlichen Verletzungen dem Neuropsychiater zur Abklärung überwiesen werden. Dies gilt insbesondere für körperlich leicht oder nicht verletzte Patienten mit situativ bezogenen Ängsten (z. B. nach Überfällen) und für Patienten mit chronifizierenden Schmerzklagen ohne organmedizinische Begründung. Diese Patientengruppen werden v. a. durch prolongierte Arbeitsunfähigkeitszeiten und eine unangemessen lang andauernde Behandlungsbedürftigkeit auffällig. Als Mittel zur diagnostischen Abklärung haben die Landesverbände im Modellverfahren nunmehr bis zu 5 "probatorische Sitzungen Psychotherapie" bewilligt, sodass der betroffene Unfallpatient auf Überweisung des D-Arztes einem unfallmedizinisch erfahrenen Nervenarzt oder Psychologen direkt zugewiesen werden kann. Die Kostenübernahme durch die betroffene Verwaltung ist hierbei gesichert, sodass nach Abschluss der 5 probatorischen Sitzungen verwaltungsseitig über die Bewilligung einer Psychotherapie ohne Zeitverzug entschieden werden kann.

Therapiemöglichkeiten

Die bewilligte Psychotherapie erfolgt vorzugsweise unter dem Aspekt der Anlassbezogenheit im Hinblick auf die Unfallfolgen. Neben einer konsequenten Pharmakotherapie z. B. bei Depressionen kommen Verfahren bevorzugt auf der Grundlage der Verhaltenstherapie und EMDR (eye movement desensitization reprocessing) zur Anwendung. Analytisch konzipierte Langzeittherapien sind bei Unfallpatienten in der Regel nicht indiziert, weil es an einer diesbezüglichen Anlassbezogenheit mangelt.

Seitens der Sachbearbeitung können nach Abschluss der 5 probatorischen Sitzungen zunächst bis zu 25 Behandlungseinheiten bewilligt werden, wobei allerdings auch auf eine genügende Therapiedichte (1–2 Sitzungen pro Woche) zu achten ist.

Sollte im ambulanten Bereich z. B. aufgrund von Wartezeiten eine Psychotherapie nicht realisierbar sein, muss die Einweisung des Unfallverletzten in eine stationäre BGSW-Maßnahme (berufsgenossenschaftliche Weiterbehandlungsmaßnahme) geprüft werden, zumal die Chronifizierungstendenz einer unbehandelten PTBS erheblich ist.

Einschaltung des Beratungsfacharztes

Bei Verläufen mit Therapieresistenz und insbesondere bei berechtigten Zweifeln am Unfallzusammenhang sollte der Aktenvorgang beim zuständigen Beratungsfacharzt der Verwaltung vorgelegt werden, damit der D-Arzt und die Sachbearbeitung bei der weiteren Steuerung des Heilverfahrens fachlich beraten werden können. Konkret zu entscheiden ist, ob der Verletzte in eine psychotraumatologische Sprechstunde überwiesen bzw. umgehend ein Begutachtungsverfahren (insbesondere bei Zweifeln am Unfallzusammenhang) eingeleitet werden müssen.

Behandlungsergebnisse

Bei rechtzeitiger Erkennung und Einleitung geeigneter Behandlungsmaßnahmen sind posttraumatische Belastungsstörungen nach Unfallereignissen erfolgreich therapierbar, die Mehrzahl dieser Erkrankungsbilder klingt innerhalb von 1 bis längstens 2 Jahren vollständig ab.

Bestehen die Belastungssymptome deutlich mehr als 3 Monate fort und bleiben sie unerkannt bzw. unbehandelt, kommt es zur Chronifizierung oftmals mit der Folge einer sich hieraus entwickelnden anhaltenden Leistungsbeeinträchtigung im Erwerbsleben. Gerade bei problematischen Versicherten mit schon vorbestehenden psychischen Vorerkrankungsphasen und einer mangelnden Arbeitsplatzsicherung kommt es gehäuft zu einem anhaltenden Leistungsversagen mit MdE-Graden von 30 v. H. und deutlich darüber. Grundsätzlich gilt, dass bei dieser Versichertengruppe im laufenden Widerspruchsverfahren oder gar Rechtsstreit therapeutische Interventionen jedweder Art nicht Erfolg versprechend sind. Auch aus diesem Grund ist es somit wichtig, psychische Belastungssymptome nach unfallbringenden Ereignissen frühzeitig zu erkennen und einer konsequenten Behandlung zuzuweisen [4].