Fokus auf die kleinste Einheit des Lebens
Als kleinste Einheit des Lebens bestimmen biologische Zellen durch ihre Mechanismen und Interaktionen Struktur und Funktion aller Organismen. Störungen dieser Prozesse führen zu nichtphysiologischen Zuständen und schlussendlich zu Erkrankungen. Auch äußere Einflüsse und Umweltfaktoren werden letztlich immer auf zellulärer Ebene verarbeitet. Dabei kann es sowohl zu aberranten spezifischen Zellzuständen als auch zur Entstehung spezifischer Zelltypen kommen [2]. Diese „Entartung von Zellen“ wird insbesondere in der Krebsforschung schon lange untersucht [3]. Aber auch vaskuläre Erkrankungen werden durch zelluläre Prozesse beeinflusst, beispielsweise bei der Entstehung von Atherosklerose, Atherothrombose, Aneurysmen, Wundheilungsstörungen oder Inflammation [4,5,6,7,8,9]. Besonders die Plastizität und Transdifferenzierung glatter Gefäßmuskelzellen (SMCs) bei der Entstehung atherosklerotischer Plaques sowie deren zelluläre Heterogenität stellt dabei ein sehr interessantes und relevantes Forschungsfeld dar [10, 11].
Neue Technologien zur Untersuchung von Zellen
Vor der Untersuchung von Genese, Progression und möglicher Behandlungen von Erkrankungen muss zunächst der physiologische Zustand eines Organismus und damit seiner Zellen und deren Interaktionen verstanden werden. In der Vergangenheit kamen dabei eine Vielzahl von Technologien als Grundlage für die systematische Beschreibung von Geweben zum Einsatz, wie zum Beispiel die Licht‑/Elektronenmikroskopie, immunhistochemische Methoden wie die Durchflusszytometrie (FACS) sowie Microarrays, Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) und schließlich Hochdurchsatzverfahren für die RNA- und DNA-Sequenzierung (vgl. Tab. 1 für zentrale Begriffe und Technologien; [2, 12]).
Tab. 1 Zentrale Begriffe und Technologien in der Genexpressionsanalyse Ein grundlegendes Problem blieb jedoch, dass zwar unterschiedliche Zelltypen, nicht aber unterschiedliche Zellzustände differenziert werden konnten. Wesentlicher Grund dafür ist, dass sich die klassische (Bulk‑)Untersuchung auf ein Gemisch von Zellen bezieht und die daraus resultierende Mittelwertmessung die wahre Zellheterogenität verschleiert. Dies änderte sich, als Expressionsprofile einzelner Zellen mittels Microarray- oder RNA-Sequenzierung zugänglich wurden (vgl. Abb. 1). Während zunächst nur sehr wenige Zellen untersucht werden konnten, ist es aufgrund fortschreitender Entwicklung und sinkender Kosten mittlerweile möglich, in parallelisierten Hochdurchsatzverfahren Millionen von Zellen zu untersuchen. Dabei stehen vielfältige Analysemöglichkeiten der klassischen Molekulargenetik bis hin zu Multi-OMICS-Ansätzen auch für Einzelzellanalysen zur Verfügung, was an anderer Stelle ausführlich zusammengefasst wurde [2, 3].
Einzelzelltranskriptomik als neues Forschungsgebiet
Im Folgenden beschränken wir uns auf Analysen von durch RNA-Sequenzierung gewonnenen Expressionsprofilen (Transkriptom) einzelner Zellen. Diese erlauben es nicht nur Zelltypen zu differenzieren, sondern geben auch einen Einblick in zellspezifische molekulare Prozesse. Vielfältige Studien zeigen, dass diese molekulare Herangehensweise sowohl bekannte, morphologisch distinkte Zelltypen bestätigt, als auch neue (Sub‑)Zelltypen identifizieren kann [13, 14]. Die Expressionsprofile einzelner Zellen können auch in ihrer natürlichen räumlichen Anordnung im Gewebe analysiert werden (sog. spatial transcriptomics), und es können Entwicklungswege und Übergangszustände zwischen Zellzuständen und -typen identifiziert werden (sog. trajectories) [15, 16]. Darüber hinaus erlaubt die hohe Sensitivität die Identifikation sehr kleiner (Sub‑)Zellpopulationen. Auch in vitro schlecht zu kultivierende Organismen lassen sich so untersuchen, z. B. im Umgang mit Infektionskrankheiten oder beim Studium von Mikrobiomen [17]. Eine große Herausforderung liegt jedoch in der adäquaten Analyse der gewonnenen Daten, welche in aller Regel als Genexpressionsmatrizen vorliegen. Diese Matrizen sind sehr groß (>20.000 Expressionswerte pro Zelle) und nur spärlich besetzt, d. h. viele der Einträge sind „Null“, entweder da das entsprechende Gen nicht exprimiert wird, oder die Expression nicht detektiert wurde („Dropout“). Ein Hilfsmittel, um diese Herausforderungen anzugehen, ist die künstliche Intelligenz, auf die wir im weiteren Verlauf des Artikels näher eingehen werden (s. Trend 2).
Medizinische Forschung in der Einzelzelltranskriptomik
Ein Treiber der Einzelzelltranskriptomik ist die Krebsforschung. Hier ermöglicht die Einzelzellsequenzierung u. a. die Katalogisierung von Tumor-Teilpopulationen, eine Detail-Charakterisierung von Tumorzellen und deren zeitliche und phylogenetische Entwicklung, die Detektion seltener Zellen und das Studium der Interaktion eines Tumors mit seiner Umgebung. Ähnlich relevante Anwendungsmöglichkeiten ergeben sich für das Studium des zentralen Nervensystems, des Immunsystems oder für die Untersuchung der frühen Embryonalentwicklung bei Säugetieren [7, 18, 19].
Besonders hervorzuheben ist hier der „Human Cell Atlas“ [2], ein aktuelles Forschungsprojekt zur Katalogisierung aller Zelltypen des gesunden menschlichen Körpers. Verwendet man diese Zelltypen als Referenz für anschließende Studien, u. a. im Krankheitskontext, können die Erkenntnisse aus dem Bereich der Einzelzellanalyse auch die Diagnostik verbessern, beispielsweise durch neu identifizierte Biomarker.
Ein Treiber der Einzelzelltranskriptomik ist die Krebsforschung
Im Bereich vaskulärer Erkrankungen liegt der Fokus der Transkriptomanalyse von einzelnen Zellen aktuell im Bereich der Inflammation und Atherosklerose. Das Potenzial zeigte sich bereits in ersten Studien zur Heterogenität von Makrophagen der Aorta, der Identifikation distinkter Endothelzellpopulationen, deren Hierarchie sowie Übergangszuständen in der Aorta, der zellulären Zusammensetzung von Blutgefäßen im Gehirn und der Lunge und dem Immunzellrepertoire im Atherosklerose-Mausmodell [5, 20,21,22]. Besonders relevante und neue Erkenntnisse durch Einzelzellanalysen liefern hochaktuelle Studien zur Entstehung, Zusammensetzung und der zellulären Plastizität in atherosklerotischen Plaques [23]. Von herausragender Bedeutung ist dabei die phänotypische Modulation (Phänotypswitch) glatter Gefäßmuskelzellen (SMCs) und deren Fähigkeit auf verschiedenste Weise transdifferenzieren zu können, um beispielsweise gewisse Subtypen von Schaumzellen zu bilden [11]. Zudem konnte eine kürzlich erschienene Einzelzellstudie erstmals die phänotypische Modulation von SMCs mit einer durch genomweite Assoziationsstudien (GWAS) identifizierten Variante für die Koronare Herzkrankheit (KHK) in Zusammenhang gebracht werden [24, 25]. Die gefundene Variante im TCF21-Gen ist dabei protektiv und führt zur Differenzierung der SMCs in einen fibroblastenähnlichen Zelltyp („Fibromyocyten“ genannt) anstelle eines klassischen Makrophagenphänotyps. Weitere Forschung auf diesem Feld wird in naher Zukunft erstmals die Erstellung eines umfassenden Zellatlasses der Atherosklerose erlauben [26].