Liebe Kolleginnen und Kollegen,

das Kompressionssyndrom der oberen Thoraxapertur ist kein „Kolibri“, sondern eine zweifellos wichtige Differenzialdiagnose bei der Abklärung unklarer neurologischer Beschwerden, belastungsabhängiger Muskelschmerzen und spontaner Phlebothrombosen an der oberen Extremität. Dennoch wird die Diagnose eines „Thoracic-outlet-/-inlet-Syndroms (TOS/TIS) vergleichsweise spät und eventuell auch zu selten gestellt. Das liegt an dem häufig schleichenden Beginn der Symptomatik mit z. B. atypischen, intermittierenden Schulterschmerzen bei Affektion des Plexus brachialis und natürlich auch daran, dass die zunächst befragten Hausärzte und Allgemeinmediziner mit diesem Krankheitsbild eher selten konfrontiert sind. All dies führt zu einer Verzögerung der Diagnose und damit zu einer Situation, in welcher – insbesondere beim neurogenen TOS – dann auch die Resektion der 1. Rippe keine durchgreifende Besserung der Beschwerden bewirken kann. Zur Einordnung der Beschwerden ist es deshalb wichtig, prä- und postoperativ bei allen TOS/TIS Patienten eine fachneurologische Untersuchung durchführen zu lassen.

Alle TOS-/TIS-Patienten sollten fachneurologisch untersucht werden

Halsrippen als mögliche Verursacher einer Kompression im Bereich der oberen Thoraxapertur wurden anatomisch erstmals vor mehr als 250 Jahren beschrieben. 1861 und 1910 folgten dann die Erstbeschreibungen einer Halsrippenresektion und einer Resektion der 1. Rippe. Seit den 1950er-Jahren hat sich dann zunehmend der Begriff des Thoracic-outlet-Syndroms (TOS) durchgesetzt, der seither alle sonstigen Terminologien (kostoklavikuläres Syndrom, Scalenus-Syndrom etc.) zusammenfasst.

Üblicherweise werden TOS und TIS eher mit dem weiblichen Geschlecht und eher mit 20- bis maximal 50-jährigen Patienten in Verbindung gebracht. Zumindest die Zahlen des Statistischen Bundesamtes können diese Einschätzungen jedoch nicht bestätigen. So wurde bspw. im Jahr 2011 die Hauptdiagnose „Thoracic-outlet-Syndrom“ (G54.0) in Deutschland bei 888 Männern und 808 Frauen gestellt. Der Altersgipfel lag dabei zwischen 40 und 60 Jahren (Abb. 1).

Abb. 1
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Altersgipfel beim „Thoracic-outlet-Syndrom“ (G54.0)

Offensichtlich werden nur etwa 50% aller mit einer Hauptdiagnose G54.0 kodierten Patienten operativ behandelt. Im Einzelnen befanden sich 467 Männer und 462 Frauen mit der Hauptdiagnose eines TOS in 2011 in stationärer chirurgischer Behandlung. Interessanterweise verteilen sich diese 929 Patienten zu jeweils 15 bis 20% auf ungeteilte chirurgische Abteilungen und auf gefäß-, thorax-, viszeral- und neurochirurgische Fachabteilungen. 5 bis 10% aller Patienten werden in Abteilungen für plastische Chirurgie und Orthopädie behandelt (tiefgegliederte Diagnosedaten des Statistischen Bundesamt 2011). Diese eher diffuse Verteilung zeigt deutlich, dass das Kompressionssyndrom der oberen Thoraxapertur offensichtlich bei keinem Fach so richtig zu Hause ist.

In der vorliegenden Ausgabe der Gefässchirurgie finden Sie nun vier sehr differenzierte Übersichtsbeiträge zum vaskulären/arteriellen TOS (Bürger), zum venösen TIS (Mumme), zum neurogenen TOS (König) und zur Frage, welcher der heute üblichen Zugangswege zur 1. Rippe (transaxillär oder supraklavikulär) in der Literatur am besten belegt ist (P. Balzer). Alle Autoren haben die aktuelle Literatur aufgearbeitet und bewertet. Sie treten damit in die Nachfolge von J. Gruss aus Kassel, der über viele Jahre nationale und internationale Standards in der Diagnostik und Therapie des Kompressionssyndroms der oberen Thoraxapertur gesetzt hat und seine Erfahrungen bereits 1997 in der Gefässchirurgie publiziert hat.

Ich bedanke mich bei allen Autoren sehr herzlich und wünsche allen Leser(inn)en eine interessante Lektüre.

Mit den besten Grüßen

Ihr

Hans-Henning Eckstein