Anamnese

Der 69-jährige Patient stellte sich im Juli 2010 erstmals in unserer Abteilung vor. Er berichtete, dass er rezidivierend an vorübergehenden Sprach- und Sehstörungen leide. Erstmals aufgetreten seien die Beschwerden bereits im Oktober 2009 mit anschließender stationärer Aufnahme in eine neurologische Abteilung zur weiterführenden Diagnostik. Im Rahmen der beschriebenen motorischen Aphasie und einer Amaurosis fugax erfolgte die klinische Diagnose eines linksseitigen A.-cerebri-media-Infarkts mit Beteiligung der Broca-Sprachregion. Als Nebenbefund waren ein langjähriger Nikotinkonsum (30 PY) und eine arterielle Hypertonie zu eruieren.

Klinischer Befund

Bei Aufnahme sahen wir einen 69-jährigen Patienten in reduziertem Allgemein- und normalem Ernährungszustand mit normaler Bewusstseinslage. Insgesamt zeigte sich der klinische Untersuchungsbefund unauffällig. Anamnestisch war es auch in den vergangenen Wochen erneut zu 2 Episoden motorischer Aphasien und Amaurosis fugax gekommen.

Diagnostik

Es wurden eine Duplexsonographie (FKDS) und eine CT-Angiographie durchgeführt. Die FKDS der Carotiden sowie das Angio-CT zeigten eine 50%-ige Stenose der A. carotis interna (ACI) rechts und eine hochgradige Stenose ( > 80%) der ACI links (NASCET).

Therapie und Verlauf

Da in der Vorgeschichte motorische Aphasien und Amaurosis fugax auftraten, stellte sich der Patient im Juli 2010 zur weiteren Diagnostik in unserer gefäßchirurgischen Abteilung vor. Da die Untersuchungen eine interventionsbedürftige hochgradige symptomatische ACI-Stenose links zeigten, wurde die Indikation zu Operation gestellt.

Die Operation wurde in Regionalanästhesie durchgeführt. Der Hautschnitt erfolgt entlang des Vorderrandes des M. sternocleidomastoideus mit einer Länge von etwa 8–10 cm. Nach Durchtrennung des Subkutangewebes, des Platysmas und der oberflächlichen Halsfaszie folgte die Freilegung der Gefäß-Nervenscheide der A. carotis und der V. jugularis interna. Im nächsten Schritt der Gefäßpräparation erfolgte die Unterscheidung der ACI von der ACE. Bei normalen anatomischen Gegebenheiten zeigt die ACE mehrere Gefäßabgänge zur extrakraniellen Blutversorgung. Diese sind bei der ACI hingegen nicht zu finden, da sie zugunsten der intrakraniellen Blutversorgung in der Halsregion einen direkten, unverzweigten Verlauf nimmt.

Diese sichere Unterscheidung der beiden Gefäße konnte im Fall unseres Patienten intraoperativ nicht eindeutig erfolgen, da beide Gefäße extrakranielle Gefäßabgänge aufwiesen. Nach gründlicher Präparation und Verfolgung der anatomischen Strukturen mit Ursprung und Verlauf wurde deshalb die Entscheidung getroffen, zunächst eine intraoperative digitale Subtraktionsangiographie (DSA) durchzuführen, um eine genaue Zuordnung der Gefäße zu ermöglichen. Dabei zeigte sich, dass hier eine anatomische Variante mit Abgang der A. occipitalis aus der ACI vorliegen musste.

Auf den Abbildungen des intraoperativen Situs und der CT-Angiographie ist der Abgang der linken A. occipitalis aus der linken ACI eindeutig zu erkennen (Abb. 1, Abb. 2).

Abb. 1
figure 1

Intraoperativer Situs mit dargestellter A. occipitalis sinstra (Pfeil) aus der linken A. carotis interna (ACI). Zusätzlich abgebildet sind der linke N. vagus (N. v.), der linke N. hypoglossus (N. h.) und die linke A. carotis externa (ACE)

Abb. 2
figure 2

CT-Angiographie mit Darstellung der A. occipitalis sinistra (Pfeil) aus der linken A. carotis interna (ACI). Zusätzlich abgebildet sind die linke A. carotis communis (ACC) und die A. carotis externa (ACE) mit Abgang der linken A. thyroidea superior (Stern)

Der intraoperative Verlauf war komplikationslos, insbesondere zeigten sich keine neurologischen Auffälligkeiten. Es erfolgte eine Thrombendarteriektomie mit einer Dacron®-Patchplastik der ACI sowie der A. carotis communis (ACC) mit zwischenzeitlicher Shunt-Einlage. Die DSA nach Abschluss der Gefäßrekonstruktion zeigte einen stenosefreien Fluss in der ACI und der Eingriff konnte nach 195 min beendet werden. Der postoperative Verlauf war komplikationslos. Die Wunde heilte primär, so dass der Patient in gutem Allgemeinzustand entlassen werden konnte. Auch die unmittelbar postoperative neurologische Kontrolluntersuchung zeigte sich unauffällig.

Vier Wochen später wurde der Patient erneut zu Verlaufskontrolle einbestellt. Zu diesem Zeitpunkt gab er keinerlei Beschwerden mehr an. Auch die FKDS konnte postoperativ keine hämodynamisch wirksamen Stenosen mehr nachweisen. Vier Monate nach der Operation wurde eine erneute Kontrolle durchgeführt. Der Verlauf war weiterhin unauffällig. Es traten postoperativ keine weiteren Episoden einer motorischen Aphasie bzw. Amaurosis fugax auf.

Diskussion

Die operative Versorgung hochgradiger Carotisstenosen hat in der heutigen Zeit eine gute Prognose und gehört zu den Routineeingriffen in der Gefäßchirurgie. Wie bei allen Operationen stellen anatomische Variationen des Operationsgebietes eine Herausforderung für den Operateur dar. In unserem Fall entdeckten wir bei einem 69-jährigen Patienten während einer Carotis-TEA links bei hochgradiger ACI-Stenose eine anatomische Variation des Abgangs der linken A. occipitalis. Sie entsprang nicht wie normalerweise aus der ACE, sondern aus der ACI.

Die Äste der ACE, wie z. B. die A. occipitalis, können als Gefäßvariation aus dem zervikalen Segment der ACI entspringen [1, 3, 4, 7, 9]. Gerade vor chirurgischen Eingriffen, Katheterembolisationen oder anderen kathetergestützten Interventionen ist das Wissen um solche Gefäßvariationen von großer Bedeutung, da Verwechslungen oder Verletzungen dieser Gefäße schwere Folgen nach sich ziehen können.

Die Äste der ACE können als Gefäßvariation aus der ACI entspringen

Anhand der Literatur ist die A. occipitalis der Ast der ACE, welcher am häufigsten als Gefäßvariation aus der ACI entspringt [1, 4]. Hyrtl war 1841 einer der ersten, der von dem Abgang der A. occipitalis aus der ACI berichtete [7].

Newton und Young konnten diese Gefäßvariation 1968 angiographisch nachweisen [9]. In einer neueren Studie führten Uchino et al. entsprechende Untersuchungen auch mittels MR-Angiographie durch [10]. Diese Studie umfasste insgesamt 2866 Patienten. In 6 Fällen zeigte sich eine Anomalie der A. occipitalis, was einer Inzidenz von 0,21% entspricht. Bei 4 dieser 6 Patienten zeigte sich ein Abgang der A. occipitalis aus der ACI (bei einem Patienten trat diese Anomalie beidseits auf). Bei einem dieser Patienten ist die A. occipitalis aus der Bifurkation der ACC entsprungen; bei einem anderen aus der A. vertebralis. Durch ihre Studie kamen sie zur Schlussfolgerung, dass eine Gefäßvariation der A. occipitalis sehr selten, aber dennoch vor geplanten Interventionen von klinisch großer Bedeutung ist [10].

Ähnlich wie in unserem Fall berichteten auch Benson [3], Bowen [4] und Aggarwal [1] über ähnliche Erkenntnisse. Benson und Hamer diagnostizierten bei einem Patienten, bei dem eine Carotis-TEA durchgeführt wurde, den Ursprung der rechten A. occipitalis aus der rechten ACI. Dies konnten sie sowohl angiographisch als auch intraoperativ nachweisen [3].

Bowen et al. beschrieben einen ähnlichen Fall [4]. Ein 67-jähriger Patient stellte sich mit symptomatischer ACI-Stenose vor. Die Duplex-Sonographie zeigte eine kleine segmentale Stenose des proximalen Gefäßteils, welche durch eine Anomalie der ACI verursacht wurde. Die darauffolgende Carotis-TEA zeigte, dass es sich bei der Anomalie um den Abgang der A. occipitalis handelte [4]. Es ist in diesem Fall also auch möglich, das die Gefäßvariation die Ursache für diese Stenose im Sinne einer Abgangsstenose war. Auch Agarwal et al. diagnostizierten bei einem 63-jährigen Patienten mit subarachnoidaler Blutung einen gemeinsamen Ursprung der A. occipitalis und A. thyroidea superior aus der ACI [1].

Anhand der wenigen Fallbeispiele und der verfügbaren Literatur lässt sich zeigen, dass trotz dieser relativ seltenen Gefäßvariationen eine genaue Duplex-Sonographie vor einem geplanten Eingriff von großer Bedeutung ist. Die FKDS muss dabei also nicht nur den Grad der Stenose bestimmen, sondern auch die Gefäßanatomie präzise klären. Die Kenntnis über die genaue Gefäßanatomie beugt intraoperativ bzw. während kathetergestützten Interventionen möglichen Komplikationen vor.

Eine genaue Duplex-Sonographie ist vor einem geplanten Eingriff von großer Bedeutung

Die genaue Ursache der oben beschriebenen Abgangsvarianten der A. occcipitalis ist bislang noch nicht eindeutig geklärt. Ernemann et al. erklärten diese Variation anhand der Embryologie des Carotissystems zwischen der 4. und 8. Gestationswoche [5].

Die proatlantale intersegmentale Arterie ist eine von 4 Anastomosen zwischen den fetalen carotid-vertebrobasilaren Arterienkreisläufen [6]. Diese Anastomosen bilden sich normalerweise im embryonalen Stadium und persistieren etwa eine Woche. Anschließend, nachdem sich die Vertebralarterien entwickelt haben, bilden sich die carotid-vertebrobasilaren Anastomosen zurück. Ist dies nicht der Fall, entdeckt man gelegentlich die Persistenz dieser Gefäße. Nach der Hypothese von Lasjaunias et al. ist die A. occipitalis ein Überrest der proatlantalen intersegmentalen Arterie und kann folglich auch aus der ACI entspringen [8].

Eine aktuelle Arbeit von Arning et al. [2] beschäftigt sich mit den neuen DEGUM-Ultraschallkriterien zur Graduierung von ACI-Stenosen. Hiernach soll der Stenosegrad nach neuen Guidelines vermessen werden [2]. Bisher orientierten sich die Ultraschallkriterien an der ECST-Definition des lokalen Stenosegrades (European Carotid Surgery Trial). Da sich aber bei den radiologischen Diagnostikverfahren die Stenosegraduierung der NASCET-Definition des distalen Stenosegrades (North America Symptomatik Carotid Endarterectomy) durchgesetzt hat, wird folglich auch diese empfohlen. Neu hinzugekommen ist die Einteilung in Haupt- und Zusatzkriterien. Der Vorteil, den man sich von diesen multiparametrischen Stenosegraduierungen verspricht, ist, dass sich die verschiedenen Kriterien ergänzen und demzufolge die Stenosegrade besser abzugrenzen sind. So können beispielsweise hochgradige Stenosen in 10%-Schritten graduiert werden. Arning et al. halten diese Einteilung für notwendig, um auch die Progredienz asymptomatischer Stenosen als wichtigsten Indikator für ein erhöhtes Schlaganfallrisiko zu erfassen.

Fazit für die Praxis

Grundsätzlich ist immer mit Normvarianten der Anatomie zu rechnen, die den Verlauf einer Operation erheblich beeinflussen können. Gerade vor einer Carotis-TEA ist eine präzise präoperative Diagnostik mit Aussage zur Anatomie für einen erfolgreichen operativen Eingriff bzw. die interventionelle Therapie essenziell. So kann das Risiko einer Verletzung von varianten Blutgefäßen und deren schweren Folgen deutlich reduziert werden.