Die supportive Therapie ist essenziell für den Erfolg der onkologischen Behandlung. Evidenzbasierte Leitlinien (LL) empfehlen die besten Möglichkeiten der Supportivtherapie. Onkologische LL sind evidenzbasierte Behandlungsempfehlungen in der medizinischen Versorgung. Wirksame Strategien zur Umsetzung und Einhaltung von LL spielen eine entscheidende Rolle bei der Optimierung der onkologischen Versorgung.

Mit 6 repräsentativen retrospektiven epidemiologischen Studien in Deutschland wurde seit 2013 die Adhärenz an die S3-LL Supportivtherapie der Deutschen Krebsgesellschaft, der DGHO, ESMO, ASCO und ggf. anderer relevanter Fachgesellschaften untersucht.

Methodik der Studien

Es wurden 6 retrospektive Studien als für Deutschland repräsentative Stichprobenerhebungen durchgeführt. Die Studien erfolgten je nach Fragestellung unter Hämatologen/Onkologen und onkologisch spezialisierten Fachärzten in Praxen und Kliniken. Die Daten wurden aus den originalen Behandlungsunterlagen der Patientinnen und Patienten (Pat.) erhoben.

Zunächst wurde die Versorgungsstruktur hinsichtlich Daten zu Versorgungsauftrag, Zertifizierung, Patientenaufkommen nach Therapielinien und Teilnahmebereitschaft analysiert. Die entsprechenden Einrichtungen wurden kontaktiert und auf Basis der Rückmeldungen wurden die Stichproben ausgesteuert, d. h., die Anzahl der zu dokumentierenden Pat. pro Einrichtung wurde anhand der Ergebnisse der Versorgungsstrukturanalyse festgelegt, um die reale Versorgungssituation in Deutschland repräsentativ abzubilden. Um einen Selektionsbias zu vermeiden, wurden die Zentren angewiesen, von einem bestimmten Stichtag an chronologisch alle einschlussfähigen Pat. zu dokumentieren, bis die vorgegebene Anzahl erreicht ist. In den Studien zur Neutropenieprophylaxe, zur Osteoprotektion und Immunglobulinsubstitution wurden die behandelnden Ärzte hinsichtlich Bedeutung und Umsetzung entsprechender LL und ihres Kompetenzprofils befragt. Zur Analyse möglicher Zusammenhänge zwischen der Einhaltung von LL und Berufsprofil der Ärzte wurde eine Classification-and-regression-tree-Analyse (CART) durchgeführt [1]. CART ist eine baumbildende binäre rekursive Partitionierungsmethode, bei der diejenige Variable oder Variablenausprägung ermittelt wird, welche die in sich homogensten Untergruppen bildet.

Die Datenerhebungen erfolgten vollständig anonymisiert. Als Referenz galten die zum Studienzeitpunkt jeweils gültigen LL.

Neutropenie-Studie 1: Einhaltung der Leitlinien für Granulozyten-Kolonie-stimulierenden Faktor (G-CSF) zur Verringerung der Inzidenz febriler Neutropenien nach Chemotherapie [1]

Die febrile Neutropenie (FN) stellt ein Risiko für Komplikationen, Morbidität, Sterberisiko, Verringerung der relativen Chemotherapiedosisintensität sowie Beeinträchtigung der Lebensqualität dar. Daher wird in den Leitlinien (LL) eine primäre G‑CSF-Prophylaxe nach einer Chemotherapie empfohlen, wenn das Risiko einer FN hoch (≥ 20 %) oder mittel (≥ 10–20 %) ist und zusätzliche Risikofaktoren vorliegen (siehe Abb. 1). Im Rahmen der retrospektiven Datenanalyse wurden Pat. berücksichtigt, die drei bis neun Chemotherapiezyklen eines Regimes mit einem FN-Risiko ≥ 10 % erhalten hatten. Die Informationen zum FN-Risiko der verschiedenen Therapieprotokolle wurden aus den Originaldaten übernommen, die in der Datenbank Onkopti (www.onkopti.de) mit digitalisierten Therapieprotokollen publiziert sind [2].

Abb. 1
figure 1

Indikation zur G‑CSF-Therapie entsprechend dem Risiko der febrilen Neutropenie der Chemotherapie, patientenbezogenen Risikofaktoren; Zusammenfassung von Leitlinien [8]

195 Hämatologen/Onkologen und auf Onkologie spezialisierte Pneumologen und Gynäkologen dokumentierten die Daten von 1928 Pat., davon 666 mit Lungenkarzinom (LC), 286 mit malignen Lymphomen (ML) und 976 mit Brustkrebs (BC), die insgesamt 7805 Chemotherapiezyklen erhielten. 85,1 % der Ärztinnen und Ärzte gaben an, die G‑CSF-LL einzuhalten. Die Einhaltung der LL bei allen Chemotherapiezyklen mit hohem FN-Risiko (FN-HR) betrug 15,4 % bei LC, 84,5 % bei ML und 85,6 % bei BC, und bei allen Chemotherapiezyklen mit mittlerem FN-Risiko (FN-IR) lag sie bei LC bei 38,8 %, bei ML bei 59,4 % und bei BC bei 49,3 %. G‑CSF wurde bei Pat. ohne zusätzliche Risikofaktoren bei 7,2 % der Zyklen bei LC, 16,8 % der Zyklen mit ML und 17,6 % der Zyklen mit BC übermäßig eingesetzt.

Neutropenie-Studie 2 (NP2): Einhaltung der G-CSF-Leitlinie in Deutschland, eine Aktualisierung mit einer retrospektiven und repräsentativen Stichprobenerhebung [3]

Die mäßige LL-Adhärenz (LLA) der Neutropenie-Studie 1 (NP1) wurde nach der Publikation in Expertenkreisen intensiv diskutiert. Es wurde daher in einer nachfolgenden kleineren Studie 2,5 Jahre später geprüft, ob sich die LLA der G‑CSF-Prophylaxe gebessert hat.

In dieser Studie wurden Daten von 573 Pat. mit LC und 801 Pat. mit BC aus 109 Krankenhäusern und 83 onkologischen Praxen mit 222 teilnehmenden Ärzten gesammelt. Im Vergleich zur NP1-Erhebung stieg die LLA bei der Hochrisikochemotherapie (HR) von LC und FN von 15,4 auf 47,8 % (p < 0,001) und bei der Chemotherapie mit mittlerem Risiko (IR) von 38,8 auf 44,3 % (p = 0,003). Bei BC und FN-HR-Chemotherapie blieb die LLA unverändert: 85,6 % gegenüber 85,1 % (p = 0,73), stieg aber bei FN-IR von 49,3 auf 57,8 % (p < 0,001). Bei allen IR-Chemotherapie-Zyklen gibt es auch keine signifikanten Unterschiede in der LLA zwischen dem ersten (51,3 %) und den nachfolgenden Zyklen (51,1 %; p = 0,948). Bei LC-Pat., die in zertifizierten Tumorzentren oder Comprehensive Cancer Centers (CENT) behandelt wurden, betrug die LLA bei FN-HR-Chemotherapie 53,0 % gegenüber 44,9 % in anderen Zentren (p = 0,295); bei FN-IR-Chemotherapie lag sie bei 45,1 % gegenüber 43,8 % (p = 0,750). Bei BC mit FN-HR-Chemotherapie betrug die LLA in CENT 85,4 % gegenüber 84,7 % in anderen Einrichtungen (p = 0,869); bei FN-IR-Chemotherapie lag sie bei 60,2 % gegenüber 55,0 % (p = 0,139). Die Unterschiede waren für beide Erkrankungen zusammen ebenfalls signifikant, siehe Abb. 2.

Abb. 2
figure 2

Neutropenie-Studie 2, Einhaltung der ASCO- und EORTC-LL zur Neutropenieprophylaxe nach Zertifizierung der Zentren (OnkoZert/DGHO/CCC) [3].

OR Odds Ratio, CI Konfidenz-Intervall

Die LLA bei der FN-HR-Chemotherapie und bei der FN-IR-Chemotherapie unterschied sich zwischen Pneumologen und Hämatologen/Onkologen (FN-HR: 25,0 % vs. 43,6 %, p < 0,001; 38,1 % vs. 48,6 %, p < 0,001). Im Vergleich zwischen Gynäkologen und Hämatologen/Onkologen lag die LLA bei der FN-HR-Chemotherapie bei 86,2 % bzw. 82,5 %. Bei der FN-IR-Chemotherapie lag die LL-Treue bei Gynäkologen und Hämatologen/Onkologen bei 58,6 % bzw. 55,6 % (p = 0,288; p = 0,424). Die CART-Analyse trennte zwischen Lungenfachärzten und anderen Fachärzten, wobei Letztere sich eher an die LL hielten (p < 0,001). Hämatologen/Onkologen und Gynäkologen mit einer mehr als 2‑jährigen Facharztausbildung in medizinischer Krebstherapie hielten sich stärker an die LL als andere (68,7 % vs. 46,2 %, p < 0,001). Lungenfachärzte, die jährlich an ≥ 2 nationalen Kongressen teilnehmen, hielten sich häufiger an die LL als andere Lungenfachärzte (44,8 % vs. 24,3 %, p < 0,001).

Fazit.

Die Einhaltung der G‑CSF-LL in Deutschland hat zugenommen, ist aber immer noch unzureichend. CENT weisen eine höhere Rate der LL-Implementierung auf. Bei der Einhaltung der LL gibt es nach wie vor Unterschiede zwischen den Krebsarten und zwischen den Fachärzten für Onkologie.

Studie antiemetische Prophylaxe bei Chemotherapie [4]

Chemotherapieinduzierte Übelkeit und Erbrechen (CINV) sind mit ernsten klinischen und ökonomischen Konsequenzen verbunden.

Die antiemetischen LL von ASCO und MASCC/ESMO empfahlen zum Zeitpunkt der Studie bei hochemetogener Chemotherapie (HEC, Brechreizrisiko > 90 %) durchgängig eine antiemetische Prophylaxe mit einer Kombination aus 5‑HT3-Rezeptor-Antagonist (5HT3RA), NK1-Rezeptor-Antagonist (NK1RA) und Dexamethason (DEX) in der akuten Phase (erste 24 h). In der verzögerten Phase sollte DEX zwei Tage lang mit NK1RA kombiniert werden, sofern dieses nicht bereits an Tag 1 intravenös verabreicht wurde. Bei einer Anthrazyklin- und Cyclophosphamid(AC)-haltigen Chemotherapie wird in der verzögerten Phase ein NK1RA mit DEX (ASCO) oder ohne DEX (MASCC) empfohlen. Olanzapin war seinerzeit in keiner LL empfohlen. Untersucht wurden die Tumorentitäten Mammakarzinom, Lungenkarzinom (NSCLC, SCLC), Magen‑/Ösophaguskarzinom und Kopf-Hals-Tumor mit einer hochemetogenen Cisplatinchemotherapie oder Frauen mit einer AC-Chemotherapie.

Pat., die zwischen 9/2013 und 8/2014 1–4 Zyklen einer cisplatinbasierten Chemotherapie (n = 1051) oder AC bei BC (n = 889) erhalten hatten, wurden in 78 Praxen und 122 Krankenhäusern retrospektiv dokumentiert.

6233 Chemotherapiezyklen von 1940 Pat. waren auswertbar. In der akuten Phase waren die fehlende (23,6 %) oder unzureichende (2 %) Anwendung von NK1RA die vorherrschenden Abweichungen. In 10,9 % der Zyklen wurden Kortikosteroide (4,3 % kein DEX, 5,5 % Unterdosierung, 1,1 % Überdosierung) und in 10,5 % 5HT3RA (4,4 % kein 5HT3, 3,8 % Unterdosierung, 2,3 % Überdosierung) nicht entsprechend den LL verabreicht.

In der verzögerten Phase wurde in 39,2 % der Zyklen ein 5HT3RA verwendet, was nicht der LL entsprach. In 34,1 % der Zyklen wurde kein NK1RA und in 17,6 % der Zyklen kein Kortikosteroid verabreicht, abweichend von den Empfehlungen der LL. In der akuten Emesisphase wurde der Standard in 36,1 % und in der verzögerten Phase bei 62,6 % der Zyklen der Chemotherapiezyklen nicht eingehalten.

Bei allen Chemotherapiezyklen war die LLA in CENT (71,8 %) im Vergleich zu anderen Einrichtungen (59,3 %) in der Akutphase signifikant höher (p < 0,001; Odds Ratio (OR) 1,75; 95 %-Konfidenz-Intervall (CI) 1,57–1,96). In der verzögerten Phase war der Unterschied zwischen CENT (45,8 %) und anderen Einrichtungen (32,5 %) ebenfalls signifikant (p < 0,001; OR 1,76; 95 %-CI 1,58–1,96). Die LLA in der Akutphase war bei Hämatologen/Onkologen (58,7 %) signifikant niedriger (p < 0,001) als bei anderen medizinischen Fachrichtungen (69,0 %), OR 0,64 (CI 0,58–0,71). In der verzögerten Phase lag die LLA bei Hämatologen/Onkologen bei 24,3 % im Vergleich zu anderen mit 47,8 % (p < 0,001), OR 0,35 (CI 0,31–0,39).

Das Fazit lautet, dass die LL nicht ausreichend eingehalten werden, insbesondere in der verzögerten Phase der HEC.

Studie Osteoprotektion: Leitlinienadhärenz bei der Therapie von Knochenmetastasen [5]

Knochenmetastasen sind bei fortgeschrittenem Krebs häufig und können mit klinisch relevanter Morbidität verbunden sein. Die Studie untersuchte die Umsetzung der ESMO-Leitlinie (2014) zur Knochengesundheit bei Pat. mit Knochenmetastasen (BM). Darüber hinaus wurde die die Umsetzung der osteoprotektiven Empfehlungen aus den jeweiligen nationalen S3-LL berücksichtigt.

Eingeschlossen wurden Unterlagen von Pat. mit Lungen(LC)-, Brust(BC)- und Prostatakrebs (PC).

Es wurden sowohl ein „weicher“ Standard ohne Berücksichtigung der Begleitmedikation als auch ein „strenger“ Standard definiert, bei dem die von der Leitlinie empfohlene Begleitmedikation berücksichtigt wurde.

Bei Knochenmetastasen ist eine Behandlung mit Bisphosphonaten oder Denosumab angezeigt. Beim PC hingegen empfiehlt die deutsche organspezifische S3-LL eine osteoprotektive Therapie in Abhängigkeit vom Krankheitsstadium.

Die Anzahl der Untersuchten betrug bei BC 803, bei PC 549, bei LC 414 und insgesamt 1766. 120 Kliniken und 130 Praxen mit insgesamt 268 Ärzten nahmen teil.

Bei allen Indikationen wurde eine positive Korrelation zwischen einer osteoprotektiven Therapie mit Bisphosphonaten oder Denosumab und einer Verbesserung der knochenbezogenen Beschwerden der Pat. nach 3 Monaten beobachtet (p < 0,001), wenn die osteoprotektive Therapie nicht später als 2 Monate nach der Diagnose von BM begonnen wurde. Allerdings war der Unterschied nur bei LC-Pat. statistisch signifikant (p < 0,001, r = 0,291).

Die Verbesserung der Knochenschmerzen korrelierte mit der Einhaltung der LL („weicher Standard“) bei LC (p = 0,012) und BC (p = 0,007), aber nicht bei PC (p = 0,758).

Ohne Berücksichtigung der empfohlenen Begleittherapie mit Kalzium und Vitamin D hielten sich die Ärzte bei LC, BC, oder PC zu 62 %, 92 % bzw. 83 % an die LL („weicher Standard“). Die Einhaltung lag bei 15 %, 42 % und 40 % („strenger Standard“), wenn die Empfehlungen für Begleitmedikation berücksichtigt wurden, siehe Abb. 3a–f.

Abb. 3
figure 3

Einhaltung der ESMO-LL zur osteoprotektiven Therapie [5]. ac Standard „weich“, ohne Berücksichtigung der Begleitmedikation; df Standard „streng“, mit Berücksichtigung der Begleitmedikation Kalzium + Vitamin D

Fazit.

Die Einhaltung der ESMO und deutschen LL variiert zwischen den medizinischen Fachrichtungen. Insbesondere Pat. mit LC und Knochenmetastasen erhalten häufig nicht die empfohlene osteoprotektive Behandlung und die erforderliche Supplementierung.

Studie: Immunglobulinsubstitution bei sekundärem Antikörpermangel bei chronischer lymphatischer Leukämie (CLL) und multiplem Myelom (MM) [6]

Infektionen sind eine häufige Todesursache bei Pat. mit CLL und MM. Bei einem Mangel an Immunglobulinen der Klasse G (IgG), der bei Pat. mit CLL und MM krankheitsassoziiert ist, treten Infektionen häufiger auf. Eine regelmäßige Substitutionstherapie mit IgG (IgRT) ist zum Standard bei sekundärem Antikörpermangel und häufigen Infektionen geworden, um die Rate an bakteriellen Infektionen zu senken.

Die LL von Fachgesellschaften, der European Medicines Agency (EMA) und der Deutschen Ärztekammer empfehlen die IgG-Substitution bei sekundärem Antikörpermangel bei Vorliegen der folgenden Bedingungen:

Sekundäre Immundefekte (SID) bei Pat. mit schweren oder wiederkehrenden Infektionen, unwirksamer antimikrobieller Behandlung und entweder nachgewiesenem spezifischem Antikörperversagen (PSAF) oder Serum-IgG-Spiegel von < 4 g/l. Die empfohlene Dosis für die IgG-Substitution beträgt 0,2–0,4 g/kg alle drei bis vier Wochen.

Auch die krankheitsspezifischen LL bei CLL und MM empfehlen die IgRT entsprechend diesen Bedingungen.

Zur Bewertung der LLA wurde in dieser Studie erstmals ein Guideline Adherence (GLAD) Score definiert [6]:

  • 2 Punkte für vollständige LL-Adhärenz

  • 1 Punkt für Abweichungen in Dosis oder Intervall (± 10 %) oder ein verspäteter Beginn der IgRT (> 28 Tage nach einer schweren Infektion [≥ Grad 3])

  • 0 Punkte für IgRT ohne Indikation (Übertherapie) oder unterlassene IgRT trotz Empfehlung (Untertherapie). Ebenfalls mit 0 Punkten wurde bewertet, wenn sowohl die Dosis als auch das Intervall von den GL-Empfehlungen abwich (z. B. unterdosierte Einmalgabe) oder wenn die IgRT trotz Hypogammaglobulinämie und mindestens einer schweren Infektion erst mehr als 3 Monate nach dieser begonnen wurde.

Es wurden Daten von 1086 Pat. (CLL 490, MM 596) aus 86 Zentren analysiert. Von allen Pat. entwickelten 34,8 % einen IgG-Mangel während der Therapie (CLL 35,5 %; MM 34,2 %). Eine IgRT wurde bei 23,5 % der CLL- und 14,4 % der MM-Pat. durchgeführt. GLAD bei Hypogammaglobulinämie und Indikation zur IgRT lag bei 23,3 % von 86 CLL- und 22,1 % von 77 MM-Pat. vor. Ohne GLAD betrug die Hazard Ratio (HR) für jede Infektion 4,49 (95 %-CI 3,72–5,42; p < 0,001) und für schwere Infektionen (Grad ≥ 3) 10,64 (95 %-CI 7,54–15,00; p < 0,001). Die Wahrscheinlichkeit einer Infektion war bei einem GLAD-Score von 2 oder 1 deutlich geringer als bei 0, das traf sowohl für alle als auch für schwere Infektionen zu, siehe Abb. 4.

Abb. 4
figure 4

GLAD-Score und Zeit bis zur nächsten schweren Infektion (Grad ≥ 3).

HR Hazard Ratio, CI Konfidenz-Intervall

Bei CLL gab es signifikante unabhängige Risikofaktoren für Infektionen: ein höherer Charlson-Komorbiditätsindex, IgG-Mangel und eine Behandlung in der dritten oder höheren Linie sowie eine Therapie mit BTK-Inhibitoren oder Chemotherapie. Nahezu alle CLL-Pat. hatten gegen CD20 gerichtete Antikörper erhalten (im Studienzeitraum oder zuvor), sodass hier keine signifikanten Unterschiede gemessen werden konnten. Eine multivariable Analyse ergab ein signifikant geringeres Risiko für schwere Infektionen nach Beginn der IgRT mit einer HR von 0,47 (95 %-CI 0,28–0,77; p = 0,003).

Fazit.

Die Einhaltung der LL korrelierte mit weniger und weniger schweren Infektionen, sie war jedoch bei Pat. mit Indikation zur IgRT gering. Das Risiko schwerer Infektionen war bei Pat. mit IgRT deutlich geringer.

Studie: Diagnose und Therapie der Anämie bei bösartigen Erkrankungen: Implementierung von Leitlinien [7]

Anämie ist die häufigste Begleiterkrankung bösartiger Erkrankungen, die durch diagnostische und therapeutische Eingriffe zunehmen kann. Die Symptome, Beschwerden, Fatigue und die Lebensqualität der Pat. korrelieren mit dem Grad der Anämie. Eine Anämie wirkt sich auch ungünstig auf den Verlauf und die Therapie der malignen Erkrankung sowie auf das Überleben aus. Im Rahmen der supportiven Therapie müssen sich alle Onkologen mit der Diagnose und Behandlung von Anämie bei Krebs befassen. Die ESMO und nationale Fachgesellschaften stellen evidenzbasierte LL für die Diagnose und Behandlung von Anämie bereit, siehe Abb. 5.

Abb. 5
figure 5

a Management der Anämie und des Eisenmangels bei Patienten mit Krebs: ESMO Clinical Practice Guidelines [9]. b Anämietherapie, GLAD-Score T (Therapie) und c entsprechender Anstieg des Hb-Werts nach der Anämiediagnose [7]

Ziel dieser Studie war es, die Umsetzung und Einhaltung der ESMO-Anämie-LL, der Onkopedia-LL der DGHO, der S3-LL der Deutschen Krebsgesellschaft zur supportiven Therapie und der Querschnitts-LL der Bundesärztekammer in der klinischen Routine bei Pat. mit soliden Tumoren und ML mit hohem Anämierisiko zu evaluieren.

Es wurden Daten zum Anämiemanagement von Pat. mit maligner Erkrankung und einer Anämie ≥ Grad 2 analysiert. Der GLAD-Score für Diagnose (GLAD-D) und Therapie (GLAD-T) wurde wie folgt definiert: 2 Punkte für vollständige, 1 Punkt für teilweise, 0 Punkte für keine Adhärenz.

Die Daten von 1046 Pat. wurden ausgewertet. Die Hb-Werte bei der Diagnose der Anämie lagen bei 899 (85,9 %) Pat. bei 8–10 g/dl, bei 92 (8,7 %) bei 7–8 g/dl und bei 52 Pat. unter 7 g/dl (5,0 %). Die Transferrinsättigung wurde bei 19 % der Pat. bestimmt. 456 Pat. erhielten Erythrozytenkonzentrate (43,6 %), 198 (18,9 %) Eisenersatz, 106 (10,1 %) erythropoesestimulierende Agenzien (ESA) und 60 (5,7 %) Vitamin-B12-Ersatz. 60,6 % der Pat., die ein Eisenpräparat erhielten, wurden intravenös behandelt, 39,4 % wurden oral behandelt.

Von den 785 Pat., die eine Transfusion erhielten, wiesen 288 (63,2 %) keine LL-gerechte Indikation auf. Der GLAD-D-Score betrug 2 bei 310 Pat. (29,6 %), 1 bei 168 (16,1 %) und 0 bei 568 (54,3 %). Der GLAD-T-Score betrug 2 bei 270 Pat. (25,8 %), 1 bei 320 Pat. (30,6 %) und 0 bei 456 Pat. (43,6 %). Ein höherer GLAD-D-Score korrelierte signifikant mit einem höheren GLAD-T-Score (τB = 0,176, p < 0,001). GLAD-T 2 war signifikant mit einem größeren Hb-Anstieg verbunden als GLAD-T 0/1 (p < 0,001) nach 28 Tagen (10,2 vs. 9,7 g/dl) und nach 2 Monaten (10,4 vs. 9,9 g/dl), siehe Abb. 5b, c.

Die Diagnostik war nur in 29,6 %, die Therapie nur in 25,8 % der Fälle LL-konform. 37,5 % der Bluttransfusionen waren nicht gemäß LL indiziert. Der Hb-Wert stieg signifikant höher an, wenn die Therapie den LL entsprach, als bei unzureichender oder fehlender GLAD.

Fazit.

Die Anämiediagnostik ist unzureichend, die Transfusionsraten sind zu hoch und die Eisen- und ESA-Therapie wird zu selten durchgeführt.

Classification-and-regression-tree(CART)-Analyse

Zur Analyse des „Faktors Arzt“ bei der LL-adhärenten Behandlung sowie zur Ermittlung von Faktoren für das Kompetenzprofil der jeweiligen Ärzte wurden die Ergebnisse der Behandlerbefragung mit den realen Behandlungsergebnissen kombiniert. Die CART-Analyse teilte die Gruppen nach der Anzahl der LL-konformen Behandlungen in Gruppen mit signifikanten Unterschieden auf. Folgende von den Experten als relevant bewertete Parameter wurden einbezogen: Alter, akademischer Titel, fachärztliche Ausbildung, Ausbildungsdauer in der Onkologie, Ausbildungsdauer in der medikamentösen Tumortherapie, Position in der Abteilung oder Praxis, Spezialisierung, Aktivität in Studiengruppen, Publikationen in Fachzeitschriften und Lehrbüchern, aktive Mitarbeit an LL und klinik- bzw. praxisinternen Richtlinien, Teilnahme an regionalen, nationalen und internationalen Kongressen, Teilnahme an Fortbildungen, Teilnahme an Qualitätszirkeln.

Die CART-Analyse in der Neutropenie-Studie 1 ergab eine Aufteilung zwischen Pneumologen und anderen Fachärzten, wobei Letztere sich eher an die LL hielten. Lungenfachärzte mit einer Ausbildung von weniger als 22,5 Jahren hielten sich besser an die LL, ebenso wie Gynäkologen oder Hämatologen/Onkologen mit einer Berufserfahrung von weniger als 8 Jahren [1]. Die CART-Analyse der Neutropenie-Studie 2 ist in Abb. 6 dargestellt.

Abb. 6
figure 6

Neutropenie-Studie 2; Classification-and-regression-tree-Analyse: CART, beginnend mit 3632 Chemotherapiezyklen; Sternchen: Die Untergruppen ①–④ wurden durch den CART-Algorithmus generiert, die Aufteilung wurde mit dem Gini-Index für diskrete Verteilungen berechnet; siehe Text für die Parameter der Gruppenbildung; die generierten Untergruppen wurden zusätzlich mit dem Chi-Quadrat-Test nach Pearson analysiert; RR relatives Risiko, Wahrscheinlichkeit einer nicht LL-gerechten Behandlung im linken Feld im Vergleich zum rechten Feld. Ausgangspunkt sind alle 3523 Chemotherapiezyklen mit einer LLA von 59,7 %. Die CART-Analyse teilte die Behandlung durch Hämatologen-Onkologen und Gynäkologen von der durch Pneumologen auf: ① Die Einhaltung der LL lag bei 65,0 % gegenüber 35,3 %, p < 0,001. ② Bei den Pneumologen teilte die Teilnahme an ≥ 2 oder < 2 nationalen Kongressen weiter auf: LLA 44,8 % vs. 24,3 %, p < 0,001. ③ Auf der linken Seite wurden die Hämatologen-Onkologen und Gynäkologen durch die Dauer der Ausbildung in onkologischer Pharmakotherapie > oder ≤ 2 Jahre aufgeteilt: LLA: 68,7 % vs. 46,2 %, p < 0,001. ④ Die Gruppe mit > 2 Jahren Ausbildungsdauer in der Pharmakotherapie wurde nach Spezialisierung aufgeteilt: Therapie verschiedener onkologischer Erkrankungen, überwiegend gynäkologische Karzinome oder keine Spezialisierung, überwiegend Lungenkarzinom: LLA 70,5 % vs. 52,1 %, p < 0,001.

CI Konfidenz-Intervall, RR relatives Risiko

Kommentar

In wesentlichen Bereichen der Leitlinienadhärenz bestehen erhebliche Defizite, allerdings mit Unterschieden zwischen den Fachdisziplinen, siehe Abb. 7.

Abb. 7
figure 7

Zusammenfassung wichtiger Ergebnisse der Studien zur Leitlinienadhärenz in Prozent der AIO und AGSMO

Insgesamt muss die LLA in der Supportivtherapie in Deutschland deutlich verbessert werden. Interessant ist die Antwort der Ärztinnen und Ärzte auf die in der Neutropenie-Studie 1 gestellte Frage, wie häufig sie die LL zur Supportivtherapie anwenden würden: regelmäßig (85,1 %), nur bei unklaren Therapiesituationen (12,8 %). Die Studienergebnisse zeigen jedoch, dass dies nicht zutrifft [1].

Unter den Qualitätsindikatoren der DKG bei der Zertifizierung onkologischer Zentren in Deutschland gibt es für die Supportivtherapie nur einen für die Antiemese bei hochemetogener Tumortherapie. In den Jahresberichten z. B. der Lungenkrebszentren 2023 kommt die Supportivtherapie unter den 28 Kennzahlen nicht vor.

Insgesamt müssen bei LL-Kommissionen, Fachgesellschaften, Kliniken, Praxen, Fachpersonal wie auch bei den Ärztinnen und Ärzten mehr zielorientierte Anstrengungen unternommen werden, um die LL-Implementierung für die optimale Versorgung der Pat. signifikant zu steigern.