Einleitung

Die Prävalenz psychischer Störungen ist weltweit im Jahr 2019 um 48,1 % im Vergleich zu 1990 gestiegen [11]. Die damit einhergehende Krankheitslast ist groß: Psychische Störungen stellten 2019 weltweit den siebthäufigsten Grund für Disability-Adjusted Life Years (DALYs) und den zweithäufigsten Grund für Years Lived with Disability (YLDs) dar [11]. Dennoch suchen Menschen mit psychischen Problemen u. a. aufgrund von Stigma und Diskriminierung, die mit psychischen Störungen verbunden werden, professionelle Unterstützung häufig nicht oder verspätet auf [4]. Darüber hinaus werden somatische Erkrankungen bei Menschen mit psychischen Störungen häufig von der psychischen Symptomatik überschattet [14]. Eine solche Überschattung wird auch als „diagnostic overshadowing“ bezeichnet [18].

Die Problematik verschärft sich dadurch, dass Menschen mit psychischen Störungen häufiger Risikofaktoren, wie Übergewicht [1] oder Rauchen [7], aufweisen als die Allgemeinbevölkerung. Solche Risikofaktoren tragen entscheidend zur globalen Krankheitslast bei [12]. Des Weiteren sind Krebserkrankungen nach dem Suizid die zweithäufigste Todesursache in dieser Gruppe [6]. Somatische Erkrankungen stellen daher eine zusätzliche potenzielle Problematik für Menschen mit psychischen Erkrankungen dar. Eine verspätete oder fehlende Behandlung psychischer Störungen oder somatischer Erkrankungen kann sich jedoch negativ auf den Behandlungserfolg auswirken [13] und mit schwerwiegenden negativen gesundheitlichen Konsequenzen einhergehen.

Eine Verbesserung der Health Literacy, d. h. der Gesundheitskompetenz, sowie ein Ausbau des Empowerments von Menschen mit psychischen Störungen stellen in diesem Zusammenhang einen wichtigen Ansatzpunkt zur Gesundheitsförderung und Verringerung von Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung von Menschen mit psychischen Störungen dar.

Eine Verbesserung von Health Literacy und Empowerment trägt zur Gesundheitsförderung bei

Health Literacy wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als ein stärkerer Prädiktor für Gesundheit als Einkommen, Erwerbstätigkeit, Bildungsniveau und ethnische Gruppenzugehörigkeit eingestuft und somit als eine Schlüsseldeterminante für Gesundheit beschrieben [29]. Sie umfasst u. a. Kompetenzen zur Erlangung und Aufrechterhaltung der Gesundheit, zur Erkennung von Erkrankungen und zur korrekten Anwendung von Behandlungen [15].

Darüber hinaus beinhaltet Health Literacy u. a. das Wissen dazu, wie und wo eine Person gesundheitsbezogene Informationen findet, sich Zugang zur Gesundheitsversorgung verschaffen kann, wie sie diese Aspekte evaluieren kann, welche Rechte sie im Zusammenhang mit Gesundheit hat und wie sie sich für Verbesserungen im Gesundheitssystem einsetzen kann.

Aus dem Konzept der Health Literacy hat sich inzwischen zusätzlich das Konzept der Mental Health Literacy entwickelt. Mental Health Literacy umfasst neben dem Fokus auf psychische Gesundheit und dem Wissen zu psychischen Störungen u. a. auch den Abbau von Stigma und das Wissen dazu, wann und wo Hilfe aufgesucht werden sollte [15].

Health Literacy stellt eine Ressource dar

Health Literacy stellt somit eine Ressource dar [15]. Höhere Health Literacy hängt mit Lebensqualität [30] und mit höherem Empowerment, verbesserter Entscheidungsfindungskompetenz und einer aktiveren Rolle im Verlauf der Behandlung zusammen [25]. Geringe Health Literacy erschwert jedoch den Zugang zum Gesundheitssystem und wirkt sich negativ auf die Gesundheit aus [17]. Im Einklang damit hängt geringe Health Literacy mit erhöhter Mortalität zusammen [10].

Ähnlich wie Health Literacy spielt auch Mental Health Literacy eine entscheidende Rolle für die Lebensqualität und die psychische Gesundheit. Eine geringere Mental Health Literacy führt dazu, dass psychische Probleme seltener berichtet und psychische Störungen dadurch seltener erkannt werden [24]. Dies kann dazu führen, dass psychische Störungen unbehandelt bleiben und die Arbeitslosigkeit und Morbiditäts- und Mortalitätsraten steigen [24].

Vor diesem Hintergrund erscheint es äußerst problematisch, dass, wie Ergebnisse der European Health Literacy Survey (HLS-EU) zeigen, mit 47 % ein großer Teil der Bevölkerung eine geringe Health Literacy aufweist [23]. Die Mental Health Literacy ist in der Allgemeinbevölkerung ebenfalls niedrig [24]. Diese Problematik spitzt sich für Menschen mit psychischen Störungen weiter zu, da diese Gruppe, wie oben ausgeführt, ein erhöhtes Risiko für Erkrankungen aufweist. Insbesondere Menschen mit schweren psychischen Störungen, die dadurch definiert werden, dass eine psychische Störung mit einer schwerwiegenden Funktionsbeeinträchtigung in wichtigen Lebensbereichen einhergeht [19], weisen größere Schwierigkeiten auf, gesundheitsbezogene Informationen zu verstehen [3].

Dringend notwendig ist eine gezielte Förderung der Health Literacy und der Mental Health Literacy

Es besteht daher eine dringende Notwendigkeit, die Health Literacy und auch die Mental Health Literacy in der Allgemeinbevölkerung und gezielt bei Menschen mit (schweren) psychischen Störungen zu fördern und auszubauen. Interventionen sollten dabei an die Bedürfnisse der Patient:innen angepasst werden, und die Informationsdarstellung sollte einfach gehalten werden [25].

Zudem sollten Interventionen die drei Dimensionen von Health Literacy berücksichtigen: funktionale, interaktive und kritische Health Literacy [25]. Funktionale Health Literacy beschreibt die Vermittlung von Wissen zu Gesundheitsrisiken sowie zur Nutzung des Gesundheitssystems [20]. Interaktive Health Literacy beinhaltet zusätzlich die Möglichkeiten zum Ausbau der individuellen Fähigkeiten im Rahmen eines unterstützenden Umfelds. Kritische Health Literacy umfasst darüber hinaus den Kompetenzausbau, der auf die Unterstützung von individuellen, sozialen und politischen Aktionen abzielt [20].

In Österreich wurde mit dem Ziel, die Health Literacy in der Bevölkerung zu stärken, die Österreichische Plattform Gesundheitskompetenz (ÖPGK; [21]) eingerichtet. Dafür hat die ÖPGK die folgenden fünf Schwerpunkte festgelegt: (1) qualitativ hochwertige gesundheitsbezogene Informationen, (2) qualitativ hochwertige Gespräche im Gesundheitssystem, (3) die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen in verschiedenen Settings und Organisationen für die Stärkung der Health Literacy, (4) Empowerment und (5) Messung der Health Literacy [21].

Empowerment ist entscheidend für den Behandlungserfolg

Neben Health Literacy ist Empowerment von großer Relevanz für die psychische Gesundheitsversorgung [26] und entscheidend für den Behandlungserfolg [2]. Empowerment ist mit verbesserter Gesundheit [27, 28] und Lebensqualität [22] assoziiert. Empowerment beinhaltet u. a. Aspekte von vorhandener Selbstkontrolle, den Ausbau von Wissen und Fähigkeiten, eine Stärkung des Selbstwerts und Selbstbildes, sowie das Erkennen von einschränkenden Bedingungen und deren Veränderung [5].

In der Praxis kann Empowerment durch die Möglichkeit zur Selbstbestimmung sowie Mitsprache, ein partizipatives Vorgehen, den Abbau von Diskriminierung und die Entstigmatisierung von psychischen Störungen gefördert werden [26]. Darüber hinaus kann eine verbesserte Health Literacy zu einer Stärkung des Empowerments beitragen, führt jedoch nicht zwingend dazu [5]. Für die Stärkung des Empowerments ist es notwendig, dass Health Literacy soziale Gesundheitsfaktoren und die individuelle, subjektive Wahrnehmung von Gesundheit und Gesundheitsbedürfnissen beachtet. Auch in diesem Zusammenhang sollten funktionale, interaktive und kritische Health Literacy einbezogen werden [5].

Für psychisch schwer erkrankte Personen sind bei den sozialen Umgebungsbedingungen zusätzlich die Möglichkeiten der Verarbeitungshilfe besonders relevant [16]. Hier werden Expert:innen gebraucht, die der Subjektivität des Menschen adäquaten Verarbeitungsraum geben können und die mit den individuellen, oft verzerrten Wahrnehmungen zu Gesundheit und Krankheit professionell umgehen, handeln, entscheiden können und Verantwortung übernehmen. Gerade bei Patient:innen mit psychischen Erkrankungen ist die Verarbeitungskompetenz gesondert zu beachten, wie beispielsweise bei einer Patientin mit rezidivierend depressiver Störung (unipolarer Depression), die immer wieder unter schweren Episoden mit psychotischen Symptomen leidet:

Fallbeispiel

„Ich bin schuld“, antwortet Frau A., 56 Jahre alt, auf die Frage, wie es ihr mit der Diabeteserkrankung und der Zuckereinstellung geht. Sie zeigt sich im Antrieb vermindert, berichtet Grübeltendenzen, die Mutter mache „ohnehin keine Vorwürfe“, aber sie werde einsam, „werde wie die Mutter isoliert sein“. Die Mutter lebt in einer Senior:innenresidenz und ist ebenfalls an Diabetes erkrankt. Die Patientin ist überzeugt, dass sie „noch nicht“ isoliert ist, sie werde wie die Mutter eine Sehstörung entwickeln, das sei ihr bekannt, was sie dagegen tun kann, weiß sie nicht. Im Gegenteil, sie vermutet, dass ihr Ehemann sie verlassen werde, da sie sich zurückziehe und nicht mehr wegen der Zuckerkrankheit außer Haus gehen könne, „so wie ihre Mutter“. Ob dies tatsächlich ihr Mann so sagt oder ob das ihre Angst vor einem Verlassenwerden und Verlust ist, kann die Patientin nicht beantworten, wirkt aber sehr erleichtert, dass dies angesprochen wird.

Deutlich ist die schuldwahnhaft eingeengte Verarbeitung, die Notwendigkeit einer Verifizierung durch Angehörige und eine wiederholte Information über somatische Erkrankungen, deren Vorbeugung und längerfristige Behandlung. Je nach Krankheitsbild kann die psychische Erkrankung abhängig von der Symptomatik auf die Kommunikation mit den Patient:innen eine Auswirkung haben.

Gerade aus diesem Grund sind hier die Health Literacy Prinzipien sehr wichtig (vgl. z. B. Calgary-Cambridge Guide zur Kommunikation; [9, 21]). Zusätzlich kommt aber hier eine gesonderte Aufgabe hinzu, die des affektiven Containments, das die Fertigkeit des „Emotionen ansprechens“ (Calgary-Cambridge-Guide) übersteigt. Erst bei ausreichendem Durcharbeiten des negativen Spitzenaffekts, des Schuldgefühls und bei ausreichender Bedeutungsgebung (mentalisierter Affektivität) kann eine belastbare Adhärenz und Arbeitsallianz mit der Patientin erreicht werden (vgl. [8]). Letztere ist unabdingbar für eine gute Gesundheitsvorsorge, Gesundheitskompetenz und für die präventiven Maßnahmen.

Schlussfolgerung

Menschen mit (schweren) psychischen Störungen sind mit Schwierigkeiten der psychischen und somatischen Gesundheit sowie einem erschwerten Zugang zur psychischen und somatischen Gesundheitsversorgung konfrontiert. Dies kann mit schwerwiegenden gesundheitlichen Konsequenzen einhergehen. Förderung und Verbesserung der (Mental) Health Literacy und des Empowerments von Menschen mit (schweren) psychischen Störungen sind essenziell und stellen einen wichtigen Ansatzpunkt zur Verbesserung der Gesundheit und der Lebensqualität dar. Das behandelnde Gesundheitspersonal sollte dabei eine Schlüsselrolle einnehmen.

Das Gesundheitspersonal kann entscheidend zur Gesundheitsförderung beitragen

Um einen Beitrag zur Verbesserung der Health Literacy, des Empowerments, der Gesundheit und der Lebensqualität von Menschen mit psychischen Störungen zu leisten, wird zurzeit zusätzlich zur bereits erwähnten ÖPGK [21] das EU(Europäische Union)-finanzierte Projekt CO-CAPTAIN (https://cocaptain.eu/) durchgeführt. Ziel des Projekts ist die gezielte Gesundheitsförderung, insbesondere durch Maßnahmen der primären Krebsprävention, bei Menschen mit psychischen Erkrankungserfahrungen. Dieses Ziel soll durch die Umsetzung eines auf diese häufig benachteiligte Gruppe zugeschnittenen Patient:innen-Navigations-Modells erreicht werden.

Im Rahmen des Projekts besprechen sog. Patient:innen-Navigator:innen individuell die Gesundheitsrisikofaktoren sowie Möglichkeiten zur Gesundheitsförderung und primären Krebsprävention mit Menschen mit psychischen Erkrankungserfahrungen und unterstützen sie bei der Umsetzung durch die Vermittlung von Angeboten, wie z. B. Kursen zur Bewegungsförderung.

CO-CAPTAIN findet zeitgleich in Österreich, Griechenland, Polen und Spanien statt und wird von der Medizinischen Universität Wien unter der Leitung von Ap. Prof. Priv.-Doz. DDr. Igor Grabovac koordiniert. Bei Interesse an dem Projekt, einer Teilnahme oder an der Weiterleitung von Informationen an Patient:innen, freut sich das Studienteam über eine Kontaktaufnahme über cocaptain.wien@gmail.com.

Fazit für die Praxis

  • Menschen mit (schweren) psychischen Störungen sind zusätzlich zu gesundheitlichen Schwierigkeiten auf psychischer und somatischer Ebene mit Barrieren im Zugang zur Gesundheitsversorgung konfrontiert.

  • Die Verbesserung der (Mental) Health Literacy und des Empowerments allgemein und insbesondere bei Menschen mit (schweren) psychischen Störungen stellen wichtige Ansatzpunkte zur Verbesserung der Gesundheit und der Lebensqualität der Patient:innen dar.

  • Bei Interesse an dem EU-geförderten Projekt CO-CAPTAIN zur Gesundheitsförderung, insbesondere durch Maßnahmen der primären Krebsprävention, bei Menschen mit psychischen Erkrankungserfahrungen, ist eine Kontaktaufnahme über cocaptain.wien@gmail.com möglich.