Einleitung

Jährlich erkranken 23,8 % der österreichischen Bevölkerung an psychischen Störungen [1, 2], wobei Angststörungen, Depression und somatische Belastungsstörungen den Hauptteil ausmachen. Von den registrierten Betroffenen werden 3,8 % psychotherapeutisch behandelt: je zur Hälfte von Psychotherapeut:innen (N = 11.495, Stand 21.10.2023) sowie Ärzt:innen und Fachärzt:innen mit einer Ausbildung in psychotherapeutischer Medizin (n = 1509, Stand 17.05.2022). Die beiden Berufsgruppen behandeln seit mehreren Jahrzehnten psychische und seitens der Ärzt:innen auch psychosomatische Leidenszustände, leisten wertvolle patient:innenzentrierte Arbeit und sind doch beruflich unterschiedlich sozialisiert. Eint die Arbeit und das Interesse an der Patientin/am Patienten, sollen hier mögliche Unterschiede in der Arbeits- und Kompetenzentwicklung untersucht werden.

Kompetenzentwicklung

Da der/die behandlungsbedürftige psychisch Erkrankte im Zentrum steht, muss sich die entsprechend verantwortungsvolle Behandlungskompetenz auch auf diese/n konzentrieren. Klinisch erfahrene Behandler:innen lassen sich hauptsächlich von Patient:innen-Parametern in ihren Behandlungsentscheidungen leiten [3], um einen Therapieerfolg zu erzielen.

Ein Arbeitsbündnis aufzubauen, benötigt analytische und intuitive Kompetenzen

Behandlungsentscheidungen zu treffen, Interventionen zu setzen, ein Arbeitsbündnis aufzubauen, benötigt analytische und intuitive Komponenten [4], die trainiert und erlernt werden müssen und können. Analytisches Denken, analoges Denken und „clinical reasoning“ sind ein wesentliches Werkzeug und Bestandteil aller Arten von Denk- und Lernprozessen. Die Ausbildung dieser Kompetenz besteht aus der Entwicklung von verinnerlichten Begrifflichkeiten (z. B. über Szenarien oder integrierte thematische Anweisungen) sowie deren Integration und Transfer in neue Situationen. Die Verwendung bekannter Muster zur Lösung neuer Probleme muss trainiert werden. Vor allem klinisches Denken kann spezifisch in intuitive und analytische Komponenten unterteilt werden [5, 6] und die Forschung zu mentalen Prozessen zeigt, dass für das Training der analytischen Komponenten „Frames“ (abgespeicherte Krankheitsmuster), klinische Szenarien, semantische Netzwerke/Qualifikatoren oder Krankheitsskripte als Schlüsselkomponenten gelten. Die wiederholte Präsentation von und die Übung anhand klinischer Fälle ist entscheidend für einen effizienten Lernprozess [6]. Intuitive Komponenten sind schwieriger zu trainieren und bedürfen der Einbeziehung von Emotionstheorien.

Aspekte wie die emotionale Zufriedenheit der Lernenden sind ein wesentlicher Einflussfaktor auf den Lernprozess und unterstützen oder behindern den Kompetenztransfer und den Transfer von deklarativem zu prozeduralem Wissen.

Um ein Trainingsinstrument zur Verfügung zu stellen, das Auszubildenden hilft, ihr deklaratives Wissen, das sowohl das tatsächlich verfügbare und bewusst abrufbare Wissen als auch das gesamte vorbewusste Wissen im Langzeitgedächtnis umfasst, auf neue Situationen zu übertragen, muss ein assoziativer Lernprozess stimuliert werden. Beim assoziativen Lernen wird die zeitliche Beziehung zweier Reize erkannt, die Person reagiert auf den ersten Reiz in Erwartung des zweiten (neuronale Verknüpfung/Assoziation = Grundlage), und durch die Neuzuordnung von Reizen und Reaktionen entstehen Antriebe (konditionierte Appetenz, konditionierte Aktion, konditionierte Aversion, konditionierte Hemmung). Das assoziative Lernen ist eine Grundlage des Gedächtnisses und kann affektiv ausgelöst werden. Für das klinische Denken, das über assoziatives Lernen trainiert wird, muss prozedurales Wissen über polythematisches/vernetzendes Denken aufgebaut werden. Die Fähigkeit, Informationen (Gedanken, Symbole, Bilder, Szenen) sinnvoll zu verknüpfen und zu beherrschen, erfordert kreative Prozesse, die bisher scheinbar unverbundene Bereiche (Domänen) miteinander verbinden, und ist trainierbar.

Professionelles Verhalten – Kontextorientierte Lernerfahrung in der fortlaufenden Kleingruppe

Der Schwerpunkt der Ausbildung liegt im Bereich der klinischen Praxis, die Theorievermittlung ist jeweils in konkretes Fallmaterial eingebunden. Die Gruppenarbeit ermöglicht ein detailliertes Studium von Fällen (problemorientiert, patient:innenzentriert) mit Aufarbeitung der relevanten Literatur in einer fortlaufenden Gruppe, die sich meist verpflichtend am Beginn und Ende eines Moduls sowie am Beginn und Ende eines Themenblockes, bei länger dauernden Themenblöcken oftmals 14-tägig über 3 oder mehrere Jahre trifft.

Theorievermittlung ist jeweils in konkretes Fallmaterial eingebunden

Die Lernfortschrittsdokumentation erfolgt über die Führung eines Portfolios/Rasterzeugnisses/Lerntagebuchs. Die Lehrenden setzen sich aus den jeweiligen Modulverantwortlichen und einer konstanten Lehrperson (z. B. Supervision) zusammen. Die Kontinuität der Gruppe der Teilnehmer:innen und der Ausbildenden ermöglicht über die reine Aneignung von Kenntnissen hinaus die Vertiefung einer für diese Ausbildungen spezifischen Sensibilität in Hinblick auf interaktionelle und interdisziplinäre Prozesse. Somit haben diese Ausbildungen (Psychotherapie und Psychotherapeutische Medizin) das Ziel, professionelles Verhalten im Sinne von adäquater Reflexionsfähigkeit, Beziehungsgestaltung, Aufgabenstellungsmanagement, Psychohygiene, Gruppendynamiken, Verantwortungsübernahme, Entscheidungs- und Durchhaltefähigkeit, Toleranz von Unsicherheit und Grenzen sowie von Abhängigkeiten zu trainieren und so den persönlichen und beruflichen Sozialisationsprozess zu begleiten. Zu Lerninhalten, die in der Präsenzzeit und im Selbststudium erarbeitet werden, sind meist offiziell geplante Kontaktzeiten im Rahmen der angeleiteten Unterrichtsformen vorgesehen.

Praxisorientierung – Interdisziplinäre Ausbildung

Die Lerninhalte orientieren sich an international kompetitiver Grundlagen-, translationaler und klinischer Forschung in definierten Schwerpunkten der Psychotherapieforschung, Gesundheitswissenschaften und an publizierten epidemiologischen Daten aus der psychotherapeutischen Versorgung. Wissen und Verständnis wird auf mehreren Ebenen (Grundlagenwissen, Bedeutungskontext, Fertigkeiten und wissenschaftliche Fundierung) erlernt und in der Selbsterfahrung/Lehrtherapie erlebt. Zur Heranführung an die klinisch-praktische Tätigkeit findet ein Ambulanz‑/Lehrpraxis‑/Krankenhauspraktikum statt, das durch eine erweiterte Berufsfelderkundung/psychosoziales Praktikum vorbereitet wird. Diese Struktur ist international sehr ident [7, 8], die Zugangswege zur klinisch akademischen Ausbildung sind unterschiedlich.

Beziehungskompetenz – Ausbildungsmodule

Wampold [9] definiert allgemein die therapeutische Beziehung als die Gefühle und Einstellungen, die Therapeut:innen und Patient:innen zueinander haben und wie diese ausgedrückt werden. Flückinger [10] und Wampold [9, 11] weisen auf die therapeutische Beziehung als einen zentralen Mediator des Therapieerfolgs hin und sehen den Therapeut:inneneffekt (neben allgemeinen Faktoren der Lebensumstände der Patient:innen oder angewandten Techniken) insgesamt mit 20 % erklärter Varianz maßgeblich für den Behandlungserfolg an. Die therapeutische Beziehung öffnet einen sozialen Lernprozess, von dem Patient:innen zwischen den Behandlungsstunden profitieren [12]. Dass der Faktor „therapeutische Beziehung“ einen wesentlichen Anteil am Heilungsprozess hat, haben inzwischen auch zahlreiche Studien bestätigt [13].

Demnach genügt in der psychotherapeutischen Behandlung nicht nur fallrekonstruktive Kompetenz, sondern, wie auch von der deutschen Bundespsychotherapeutenkammer (2014) [14] und der European Association of Psychotherapy (2013) [15] explizit gefordert, ist die Entwicklung der Beziehungskompetenz als Teil der personalen Kompetenz essenziell und hilfreich für einen möglichst heilenden Erfahrungsraum für Patient:innen. Notwendig hierfür ist die Fähigkeit des Perspektivenwechsels, ein Beleuchten des eigenen Selbstbildes oder Selbstkonzepts der Therapeut:innen. Dass sie ihre inneren und äußeren Repräsentanzen und äußeren Realitäten unterscheiden können sowie die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme bezogen auf Patient:innen haben [16], ist für die Empathiefähigkeit notwendig vorausgesetzt, da sonst unreflektierte Gegenübertragungsgefühle die therapeutische Beziehung stören.

Kontinuität der Gruppe der Teilnehmer:innen ermöglicht interdisziplinäre Prozesse

Empathie [17] bezeichnet die Fähigkeit, aber vor allem auch die Bereitschaft, die Empfindungen, Emotionen, Gedanken, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen, zu verstehen und nachzuempfinden. Seitz et al. [18] zeigten, dass Stress und Zeitdruck sowie Überforderung und Schwierigkeiten, sich von anderen Personen und deren Gefühlen abzugrenzen, die Empathiefähigkeit verringern. In Ausbildungsgruppen wird insbesondere auf diese Störungsquellen Bezug genommen.

Lernmöglichkeiten für die Kompetenz der Selbstreflexionsfähigkeit und Empathie

Kleingruppen (3–4 Personen) abwechselnd mit Großgruppen (max. 12 Personen) ermöglichen ein Klima der Freiheit [19, 20] für die Studierenden, sich einzubringen. Diese Übungsräume ermöglichen es damit, sich durch das Feedback der anderen in der eigenen kognitiven, emotionalen, somatischen Verfasstheit wahrzunehmen. Das Üben in der Kleinstgruppe (Patient:in, Therapeut:in, Beobachter:in) als weiterer Übungsraum ermöglicht die Reflexion der eigenen Empathiefähigkeit in der Nachlese der Gesprächstranskripte. Selbstreflexionstagebücher ergänzen laufend die Lernerfahrungen.

Bei genauer Betrachtung der unterschiedlichen Ausbildungswege wird der unterschiedliche Ausgangspunkt deutlich; die Voraussetzungen, die ein:e Kandidat:in mitbringt, bestimmen auch die Didaktik. Die Theorie-Praxis-Verknüpfung ist zentral, die Theorie kann je nach Ausgangspunkt bzw. bisher erreichtem Lernzielniveau praxisorientiert vermittelt werden (vgl. [21, 22]).

Da das zentrale Interesse aller Ausbildungsformate dem/r Patient:in gilt, ist in der Fallvignette die Kompetenz beispielhaft dargestellt, die es benötigt, dem Patient:in einen Einstieg in das Behandlungsnetz [2, 23] zu ermöglichen.

Fallvignette

Patientin A kommt mit Halsschmerzen und Atemnot zur Ärztin für Allgemeinmedizin mit einer Weiterbildung in psychosomatischer und psychotherapeutischer Medizin (ÖÄK-Diplom), die aufgrund ihrer Wahrnehmungskompetenz [24] den niedergeschlagenen Gesichtsausdruck der Patientin, den verminderten Muskeltonus beim Händedruck und das verringerte Sprechtempo bei gleichzeitig leiser, weinerlicher Stimme registriert. Die Resonanz- und Reflexionskompetenz der Ärztin [25] sowie ihre psychosomatisch-psychotherapeutische Interventionskompetenz ermöglichen im Anschluss an die körperliche Untersuchung, die außer eines leicht geröteten Rachens nichts ergibt, folgende Intervention: „Was nimmt Ihnen denn die Luft?“. Die Patientin weint auf diese Frage augenblicklich und berichtet von einem bereits länger dauernden Mobbing am Arbeitsplatz. Es folgen ein kurzes, empathisch-resonantes Entlastungsgespräch, Psychoedukation sowie eine Zuweisung an eine geeignete Psychotherapeut:in. Diese im allgemeinmedizinischen Alltag integriert-psychosomatische Intervention dauert nur kurz und beinhaltet sowohl fundierte psychosomatisch-psychotherapeutisch diagnostische und interventive Kompetenzen und Fertigkeiten.

Diskussion: Relevanz der Zusammenhänge

Um in gefährlichen Situationen mit höherer Wahrscheinlichkeit zu überleben, reagieren Menschen auf Stress mit bestimmten physiologischen und neurokognitiven Abläufen. Im Rahmen einer solchen physiologischen Stressreaktion verschieben sich die kognitiven Funktionen von komplexen, assoziativen Programmen hin zu unbewussten emotionalen Erinnerungen. Daran beteiligt sind mehrere Gehirnareale, vor allem subgenualer präfrontaler Cortex, Locus caeruleus, Amygdala und die Hypothalamus-Hypophysen-Achse [26].

Die Fähigkeit zu komplexem, vernetztem Denken ist stark mit zwischenmenschlichem Vertrauen assoziiert

Es werden als Reaktion auf Stress Neurotransmitter und Hormone ausgeschüttet, insbesondere corticotropin-releasing hormone (CRH) und in weiterer Folge Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol. Diese Hormonantwort führt zu weitreichenden somatischen Folgen, die sich vor allem bei Überaktivierung der CRH-Ausschüttung beobachten lassen, wie es oftmals bei depressiven Patient:innen der Fall ist. Die vermehrte Ausschüttung von Noradrenalin führt über Interleukin IL‑6 zu einer proinflammatorischen und prothrombotischen Situation, in der sich vermehrt Akute-Phase-Proteine wie C‑reactive protein (CRP) und Fibrinogen im Blut nachweisen lassen. Cortisol, das ebenfalls übermäßig ausgeschüttet wird, verursacht eine Insulinresistenz und andererseits den vermehrten Aufbau von viszeralem Fettgewebe. Beides sind wiederum Prozesse, die langfristig die Entzündung im Körper befeuern und das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse (Herzinfarkt, Schlaganfall etc.) erhöhen [26].

Ein wichtiger Baustein für effektive Psychotherapie ist das Vertrauen zwischen Patient:in und Therapeut:in, das zum Aufbau einer Beziehung notwendig ist [9]. In einer rezenten Studie im Zusammenhang mit der COVID-Pandemie waren Optimismus, soziodemografische und Lebensstilfaktoren sowie insbesondere die Fähigkeit zum komplexen, vernetzten Denken („complexity thinking“) stark mit zwischenmenschlichem Vertrauen („interpersonal trust“) assoziiert [27]. Viele dieser Faktoren waren bereits bekannt – neu ist, dass ein starker und auch nach Adjustierung für andere Variablen bestehender Zusammenhang zwischen komplexem Denken und zwischenmenschlichem Vertrauen gezeigt werden konnte. Auch wenn dies sicherlich nicht der einzige Weg ist, bieten breit aufgestellte akademische Ausbildungen eine ideale Basis für komplexes, vernetztes Denken.

Fazit für die Praxis

  • Mentalisierende Gesprächsführung mit unmittelbarer Interventionswirksamkeit kann gelernt werden

  • Theorie-Praxis-Verknüpfung führt zu nachhaltiger Veränderungswirksamkeit

  • Kontinuierliche fallorientierte Lernerfahrungen fördern Lern- und Changeprozesse und unterstützen indirekt die Therapieadhärenz