Einleitung

Die unipolare Depression stellt global die vorherrschende Ursache für Arbeitsunfähigkeit dar [4], mit einer Lebenszeitprävalenz von circa 20 % [1]. Eine Analyse der Krankenkassen-Abrechnungsdaten in Deutschland zeigt einen markanten Anstieg der Diagnoseprävalenz behandelter depressiver Störungen: von 12,5 % im Jahr 2009 auf 15,7 % im Jahr 2017, was einem Zuwachs von 26 % entspricht [1]. Diese Zunahme spiegelt auch die internationale Entwicklung wider. Insbesondere während der COVID-19-Pandemie wurden weitere bedeutende Anstiege der Krankheitsinzidenzen verzeichnet [8]. Diese Entwicklungen unterstreichen die wachsende Relevanz der Depression in der ambulanten und stationären Versorgung.

Vor diesem Hintergrund ist die Aufnahme von internet- und mobilbasierten Interventionen (IMIs) als Therapieoption für depressive Patient:innen in die aktuelle Nationale VersorgungsLeitlinie (NVL) Unipolare Depression von besonderer Bedeutung [1]. Diese Interventionen sollen in ein umfassendes therapeutisches Gesamtkonzept integriert werden. Eine Soll-Empfehlung ist für Patient:innen mit aktueller leichter depressiver Episode gegeben. Im Falle einer erstmalig auftretenden leichten depressiven Episode wird empfohlen, einer IMI einer Face-to-Face-Psychotherapie den Vorzug zu geben. Für andere Schweregrade der Depression wird eine Kann-Empfehlung ausgesprochen, womit IMIs hier als add-on Therapie eingesetzt werden können. Analoge Empfehlungen finden sich in der aktuellen NICE-Leitlinie für unipolare Depression [7].

In Deutschland wurde am 9. Dezember 2019 durch das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) [5, 9] die „App auf Rezept“ eingeführt, was eine problemlose Verordnung durch Ärzt:innen und eine vollständige Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenversicherungen ermöglicht. Diese Apps werden als digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) bezeichnet und im DiGA-Verzeichnis [2] des BfArM inklusive Fachinformationen gelistet. Ähnliche gesetzgeberische Entwicklungen haben in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und anderen EU-Ländern stattgefunden, während in Österreich und der Schweiz eine explizite Regelung zur Kostenübernahme noch aussteht [6]. Der Nutzen evidenzbasierter digitaler Therapeutika in der Depressionstherapie konnte kürzlich auch durch Real-World-Daten belegt werden [3].

DiGAs verbessern die Versorgung depressiver Patient:innen

Die Empfehlung einer digitalen Therapie als First-Line-Therapie bei leichter Depression und als Zusatztherapie bei allen anderen Schweregraden ist ein Novum sowohl für die klinische Praxis von Ärzt:innen als auch für Patient:innen. Dies stellt eine signifikante Veränderung für die Behandlungslandschaft dar. Um das Potenzial und die Anwendung von DiGAs im klinischen Alltag zu illustrieren, wird im Folgenden mittels der DiGA edupression.com® (SOFY GmbH, Klosterneuburg, Österreich) der Einsatz digitaler Therapiemöglichkeiten anhand von verschiedenen klinischen Szenarien detailliert dargestellt.

Fallbericht: digitale Monotherapie

Der Fall eines 39-jährigen Patienten illustriert die Anwendung einer DiGA in der Behandlung leichter depressiver Episoden. Der Patient, der aufgrund seiner beruflichen Anforderungen und häufiger Geschäftsreisen nicht in der Lage war, eine regelmäßige psychotherapeutische Behandlung in Anspruch zu nehmen, wurde erstmalig mit einer leichten depressiven Episode (ICD-10: F32.0) mit melancholischer Symptomatik in einem ambulanten Setting vorstellig. Zu diesem Zeitpunkt nutzte der Patient ohne Erfolg Baldriantropfen als Monotherapie. Die Behandlungsempfehlung umfasste die Verordnung der DiGA edupression.com® als Monotherapie. Diese Plattform bot dem Patienten die notwendige Flexibilität in räumlicher und zeitlicher Hinsicht, die für seine Lebenssituation essenziell war. Die DiGA beinhaltet die für den Patienten wichtigen Elemente der Psychoedukation und psychotherapeutischen Verfahren zur Depressionsbehandlung, die der Patient unabhängig von Zeit und Ort durchführen kann.

Im Behandlungsverlauf trat nach 3 Monaten eine vollständige Remission auf, was einem Punktewert von 2 im Gesundheitsfragebogen für Patient:innen (PHQ-9) [1] entsprach, ausgehend von einem Ausgangswert von 9 Punkten, wobei bereits beim 1. Kontrolltermin nach 4 Wochen eine Verbesserung auf 6 Punkte beobachtet werden konnte. Das Fazit dieses Falles unterstreicht die Wirksamkeit von edupression.com® als Monotherapie bei einem Patienten mit leichter Depression. Die DiGA ermöglichte eine wirksame Behandlung trotz der Herausforderungen, die durch die beruflichen Verpflichtungen des Patienten entstanden waren. Dieses Fallbeispiel verdeutlicht das Potenzial digitaler Therapieoptionen in der Behandlung depressiver Störungen, insbesondere bei Patient:innen mit eingeschränkter Verfügbarkeit für konventionelle Therapieformen.

Fallbericht: Verbesserung der Depressionskompetenz

Bei einer 27-jährigen Patientin wurde eine rezidivierende depressive Störung mit aktueller mittelgradiger depressiver Episode diagnostiziert (ICD-10: F33.1), die von gelegentlichen komorbiden Panikattacken begleitet wurde. Aus der Anamnese ist eine psychopharmakologische Vorbehandlung bekannt, allerdings mit häufig unregelmäßiger Einnahme und vorzeitigem Absetzen aus Sorge vor Langzeitnebenwirkungen, was zu mehreren Rückfällen geführt hat. Zudem hatte die Patientin bisher keine kontinuierliche psychotherapeutische Behandlung erfahren, sondern lediglich sporadische Termine bei verschiedenen Therapeuten wahrgenommen. Zum Zeitpunkt der Vorstellung nahm die Patientin unregelmäßig 10 mg Escitalopram ein. Die Behandlungsempfehlung bestand in der Integration von edupression.com® als Zusatztherapie. Diese digitale Anwendung sollte die Patientin speziell über Nebenwirkungen medikamentöser Therapien aufklären und Empfehlungen zur Intensität und Dauer einer psychotherapeutischen Behandlung geben. Zudem wurden Entspannungsverfahren und psychotherapeutische Techniken aus der kognitiven Therapie zur Depressionsbehandlung vermittelt.

Ein wesentlicher Bestandteil der Überlegung zur Verordnung der DiGA war auch das Tracking der Medikationseinnahme. Der Behandlungsverlauf war positiv: Innerhalb von sechs Wochen reduzierte sich der PHQ‑9 Score von 12 auf 6, und nach zwölf Wochen erreichte die Patientin eine vollständige Remission mit einem PHQ‑9 Wert von 2, was zu einem großen Teil auf die nun regelmäßige Medikationseinnahme und die zusätzlichen antidepressiven Effekte der DiGA zurückzuführen sein dürfte. Das Fazit dieses Falles unterstreicht die Bedeutung digitaler Therapien als Ergänzung zu pharmakologischen Behandlungsstrategien. Durch gezielte Psychoedukation und Medikationstracking konnte die Therapieadhärenz der Patientin verbessert und somit die pharmakologische Therapie wirksam unterstützt werden. Zudem erlernte die Patientin durch die DiGA relevante Entspannungsverfahren und psychotherapeutische Techniken, die wesentlich zur Bewältigung ihrer Depressions- und Angstsymptome beigetragen haben.

Fallbericht: digitale Zusatztherapie

Bei einer 35-jährigen Patientin wurde eine gegenwärtig mittelgradige depressive Episode im Rahmen einer rezidivierenden depressiven Störung (ICD-10: F33.1) diagnostiziert, die nur unvollständig im Intervall remittierte. Die Symptomatik der Patientin bestand bereits seit über zwei Jahren, was auf eine chronische und therapieresistente Depression (TRD) hindeutet. Dies wird durch anamnestische Angaben gestützt, da zuvor mehrere Therapieversuche mit verschiedenen selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRIs) keinen Erfolg zeigten.

Zum Zeitpunkt der ambulanten Vorstellung war die Patientin auf eine Medikation von Escitalopram 20 mg und Mirtazapin 30 mg täglich eingestellt.

Digitale Zusatztherapie ist immer möglich

Sie befand sich seit fast einem Jahrzehnt in psychoanalytischer Behandlung, allerdings seit mehreren Jahren nur noch in monatlichen Sitzungen. Die Behandlungsempfehlung umfasste eine Medikamentenumstellung auf Venlafaxin 225 mg und Mirtazapin 45 mg täglich. Zusätzlich wurde edupression.com® als ergänzende digitale Therapie verordnet. Die Plattform sollte der Patientin verschiedene Therapiemöglichkeiten bei chronischer bzw. therapieresistenter Depression aufzeigen und zahlreiche bisher nicht angewandte psychotherapeutische Verfahren vermitteln. Im Verlauf der Behandlung zeigte sich nach 12 Wochen eine Reduktion des PHQ‑9 Scores von 14 auf 9, was einer Teilremission entspricht und eine signifikante klinische Besserung darstellt. Während dieser Zeit erfolgte auch ein Wechsel zu einem Therapeuten mit einer Ausbildung im Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy (CBASP), die speziell für chronisch depressive Patient:innen entwickelt wurde. Das Fazit dieses Falles verdeutlicht, dass digitale Therapien als ergänzende Maßnahme zu einer Kombination aus pharmakologischer Behandlung und Psychotherapie auch bei chronischen oder therapieresistenten Depressionen unterstützend wirken können.

Fazit für die Praxis

  • Integration digitaler Therapien: Die Einbindung von digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs) in die Therapie depressiver Störungen eröffnet Patient:innen eine zusätzliche Behandlungsoption.

  • Psychoedukation: Die im klinischen Alltag aufgrund des hohen Zeitaufwands schwierig zu integrierende Psychoedukation kann mittels DiGAs komplementär einfach bereitgestellt werden und das ambulante Therapieangebot bereichern.

  • Digitale Psychotherapie: Auch bei rein medikamentöser Therapie im ambulanten Setting können depressiven Patient:innen mittels einer DiGA einfach evidenzbasierte psychotherapeutische Verfahren und Techniken ergänzend zur Verfügung gestellt werden.

  • Flexible Behandlungsoptionen: DiGAs ermöglichen eine zeitlich und örtlich unabhängige Behandlung, was Wartezeiten oder lokale Versorgungsengpässe überbrücken kann.

  • Entstigmatisierung: Die Angst vor Stigmatisierung verzögert oft das Aufsuchen von Professionisten im Mental-Health-Bereich. DiGAs können dabei behilflich sein, schneller evidenzbasierte Therapien in Anspruch zu nehmen.