Aus neurologischer Sicht

Long COVID als Begriff wurde erstmals im März 2020 von einer italienischen Twitter-Nutzerin verwendet und beschreibt Beschwerden im temporären Zusammentreffen nach einer SARS-CoV-2-Infektion. Eine Vielzahl von unterschiedlichen Präsentationen wurde seither berichtet von initial vorherrschenden pulmologischen Manifestationen mit interstitieller Lungenerkrankung, kardialen Manifestationen wie Myokarditis, akute/dekompensierte Herzinsuffizienz, dermatologischen Manifestationen, neuropsychiatrischen Manifestationen, endokrinologischen Manifestationen und dem Autor dieser Zeilen am nächsten stehenden neurologischen Manifestationen [1]. Ein Versuch der ontologischen Phänotypisierung [2] erbrachte eine Vielzahl von Symptomen von Fatigue, Atemnot, Gangstörung, Angst, Depression, Husten, kognitiven Störungen, Muskelschmerzen, posttraumatischer Stressbelastung, Kopfschmerzen und vielen anderen.

Diese Vielzahl an unterschiedlichen Präsentationen, die sich je nach Fachrichtung unterscheiden, lässt am Syndromcharakter zweifeln. Auch 2021 wurde von infektiologischer Seite hingewiesen, dass Begriffe wie „post“, „chronisch“ oder „Syndrom“ problematisch sind, da die zugrunde liegende Pathophysiologie dafür verstanden sein sollte [3]. Eine rezente Publikation definierte aus den vielen unterschiedlichen Beschreibungen der Folgen nach SARS-CoV-2-Infektion drei wesentliche Themengebiete in epidemiologischen Studien: pulmologische Erkrankungen, neuropsychologische Erkrankungen und kardiovaskuläre Komplikationen [4]. Speziell die kardiovaskulären Komplikationen bekommen laut dieser Arbeit in den Industrie gesponserten Studien nur sehr wenig Funding und verdienen mehr Aufmerksamkeit.

Josephine Butler schrieb nach der „russischen Influenza“ – wahrscheinlich eine Coronavirusinfektion: „I dont think I ever remember being so weak“ und drei Monate später: „I am so weak that if I read or write for half an hour, I become so tired and faint that I have to lie down“. Diese Zeilen wurden 1892 geschrieben [5].

De facto betrachten wir hier postvirale Syndrome, die in der Neurologie bekannt sind und auch in den vergangenen Jahrzehnten eingehend untersucht wurden. In meinem spezielleren Interessengebiet autonomes Nervensystem sehe ich postvirale autonome Folgeerkrankungen seit 20 Jahren, aber bisher gab es noch nie ein derart großes Interesse daran. Neuroautonome postvirale Syndrome lassen sich über Jahrzehnte mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten zurückverfolgen. Wie vor über 100 Jahren war ein gehäuftes Auftreten im Rahmen einer viralen Pandemie zu erwarten. Das jetzt gehäuft auftretende, früher wohl unterdiagnostizierte posturale Tachykardiesyndrom (POTS) ist neben anderen Erkrankungen des autonomen Nervensystems derzeit regelmäßig zu beobachten und wird auch zunehmend in Fallserien beschrieben (Swedish paper, mein Editorial). Ob es sich bei „Long COVID POTS“ um ein eigenes Syndrom handelt oder ob es sich überhaupt von POTS nach anderen viralen Erkrankungen unterscheidet, ist bisher nicht klar. Damit lässt sich auch auf die Literatur über POTS der letzten 40 Jahre in der Behandlung unserer Patient:innen zurückgreifen und man muss nicht „von 0 starten“. Eine genauere Beschreibung des Syndroms würde diesen Artikel sprengen und ich darf stattdessen auf das Long COVID Webtool verweisen, in dem das Syndrom zusammengefasst wird [6].

Zusammenfassend ist es schwer, Long COVID als einheitliches Syndrom zu fassen und wir verstehen mehr und mehr, dass es sich um ein Spektrum unterschiedlicher Long COVIDe handelt, die wohl am besten als „postvirale Erkrankungen“ zusammengefasst werden können.

Ein Teil dieser Erkrankungen sind Erkrankungen des autonomen Nervensystems – ein Teil des Nervensystems, über den wir stetig neu lernen, dessen Syndrome zunehmend besser verstanden, leichter diagnostizierbar und besser behandelbar werden. In Anerkennung dieser Entwicklung wurde auch zuletzt erstmals ein paneuropäischer Universitätslehrgang ins Leben gerufen, den ich leiten darf und der im Sommersemester 2023 beginnt [7].

Eingehende symptomfokussierte, patient:innenorientierte Herangehensweisen an „Long COVID“ lassen oft zu, hinter diesem Schlagwort sehr unterschiedliche Erkrankungen zu entdecken – deshalb sollte eine Feststellung von „Long COVID“ nicht der Abschluss, sondern eigentlich der Beginn eines pragmatischen diagnostischen Prozesses und des Managements für unsere Patient:innen sein.

Aus psychiatrischer Sicht, die subjektive Seite von Long COVID

In unserer modernen Gesellschaft und vor allem in den modernen Naturwissenschaften zählen objektive Fakten. Ist der Einzelne betroffen, zählt für ihn selbst vor allem das subjektive Erleben. Gerade in der Psychiatrie nimmt die subjektive Wahrnehmung einen hohen Stellenwert ein. Jeder Mensch kann sich als Subjekt wahrnehmen und erlebt seinen Weltbezug unmittelbar in der Welt, daraus entsteht ein Dreieck („Ich und Welt“, „die Welt in mir“ und „Ich in der Welt, in der ich bin, meine Welt“). Subjektives und objektives Geschehen kann als Prozess verstanden werden. Im bio-psycho-sozialen Modell werden Körper, Psyche und Soziales als selbstreferentieller Prozess verstanden. Ist zwischen „Ist-Zustand“ und „Soll-Zustand“ eine Diskrepanz, nennen wir dies Stress. Kann der Stress bewältigt werden, wird dies Eustress genannt, tritt eine Überforderung ein, Distress. Mit der COVID-Pandemie ist nicht nur eine neue Viruserkrankung aufgetreten, sondern auch neu definierte Krankheiten, Long COVID, Post COVID.

Long COVID beschreibt gesundheitliche Langzeitfolgen nach einer COVID-19-Erkrankung. Häufige Symptome sind zum Beispiel Kurzatmigkeit, Erschöpfung, verminderte Leistungsfähigkeit sowie Gedächtnis- und Konzentrationsprobleme. Die berichteten Symptome können jedoch sehr verschieden sein. Long COVID umfasst eine lang anhaltende COVID-19-Erkrankung (ab 4 Wochen Symptomdauer) und das sogenannte Post-COVID-Syndrom (ab 12 Wochen Symptomdauer). Von Long COVID spricht man ebenfalls, wenn nach einer COVID-19-Erkrankung neue Beschwerden hinzukommen, die anderweitig nicht erklärbar sind [8]. Das österreichische Bundesministerium für Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz empfiehlt auf seiner Homepage als erste Anlaufstelle für Long-COVID-Betroffene die Primärversorgung. Jeder in Österreich, der den Verdacht hat, an Long COVID zu leiden, soll sich an die Hausärztin bzw. den Hausarzt wenden. Bei Bedarf wird eine Vermittlung an weitere niedergelassene Fachärzt:innen und auch Therapeut:innen vorgenommen.

Ein sekundäres Assessment in spezifischen, interdisziplinären und multiprofessionellen Versorgungsangeboten, wie zum Beispiel Spezialambulanzen oder Gesundheitszentren der ÖGK, kann zur Abklärung und weiterführenden Diagnostik komplexer Fälle im Wege einer Zuweisung aus dem niedergelassenen Bereich notwendig sein. Sowohl nach Behandlung einer COVID-19-Erkrankung in einer Krankenanstalt als auch bei einer zu Hause auskurierten Erkrankung wird je nach Schweregrad und auftretenden Symptomen bei Rehabilitationsbedürftigkeit und gegebener Rehabilitationsfähigkeit eine stationäre oder ambulante Rehabilitation zu veranlassen sein. Zur Unterstützung der Primärversorgung von Long COVID wurde ein Webtool entwickelt, ein online Point-of-Care-Tool, das rasch verfügbare Unterstützung für alle Personen, die an Long-COVID-Erkrankte behandeln und betreuen, darstellen soll. Weiterführende Informationen sind auf der Website der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften zu finden [9].

In dem Onlinetool wird darauf hingewiesen, dass zwar das Syndrom nach Infektion mit SARS-CoV‑2 neu ist, aber Ähnlichkeiten mit bereits bekannten postviralen Syndromen zu erkennen sind – Pathomechanismen, Verlauf, Behandlung und Prognose sind noch weitgehend unklar. Diagnose‑, Behandlungs- sowie Betreuungsstrukturen sind noch nicht gut etabliert und oft schwer aufzufinden. Dennoch muss den Betroffenen geholfen und Entscheidungen getroffen werden. Entsprechend der S1-Leitlinie [10] ist die Symptomatik der unter dem Begriff Long COVID zusammengefassten Erscheinungen inter- und intraindividuell sehr variabel, der Schweregrad reicht von Störungen des Befindens bis zu massiver Einschränkung des alltäglichen Lebens. Ein Teil der Patient:innen erholt sich nach der Erkrankung über Wochen bis Monate nicht oder erfährt Rückfälle. Möglich sind persistierende Beschwerden ebenso wie eine undulierende Symptomatik (bekannt als „Corona-Coaster“). Bekannt ist auch ein Wieder- oder Neuauftreten von Symptomen nach einem beschwerdefreien Intervall. Eine Reihe relevanter struktureller Erkrankungen sowie plötzliche Todesfälle nach COVID-19 sind beschrieben. Entsprechend der diskutierten Pathomechanismen der Erkrankung sind auch deren mögliche Späterscheinungen sehr vielfältig und können ganz unterschiedliche Organsysteme betreffen. In Bezug auf die Symptome, deren Häufigkeiten und Verlauf ist die Literatur heterogen. Weitgehende Einigkeit besteht darüber, dass sich der Großteil der Betroffenen nach einigen Wochen bis Monaten vollständig erholt. Als häufigste Symptome finden sich: Müdigkeit, eingeschränkte Leistungsfähigkeit, Schwäche (unterschiedlicher Schweregrade bis zum Fatigue-Syndrom). In den meisten Studien werden anhaltender Verlust des Riech- und/oder Schmeckvermögens, Atemnot (frühe Phase), Insomnie (späte Phase) und körperliche Schmerzen und Missempfindungen beschrieben.

In der Psychiatrie kommen da die Erschöpfungssyndrome Neurasthenie, Depression und die in der ICD-11 erst kürzlich gefasste Körperbelastungsstörung ins Spiel. Der Begriff Neurasthenie (F48.0), also Nervenschwäche, wird im ICD-10 gefasst:

Im Erscheinungsbild zeigen sich beträchtliche kulturelle Unterschiede. Zwei Hauptformen überschneiden sich beträchtlich. Bei einer Form ist das Hauptcharakteristikum die Klage über vermehrte Müdigkeit nach geistigen Anstrengungen, häufig verbunden mit abnehmender Arbeitsleistung oder Effektivität bei der Bewältigung täglicher Aufgaben. Die geistige Ermüdbarkeit wird typischerweise als unangenehmes Eindringen ablenkender Assoziationen oder Erinnerungen beschrieben, als Konzentrationsschwäche und allgemein ineffektives Denken. Bei der anderen Form liegt das Schwergewicht auf Gefühlen körperlicher Schwäche und Erschöpfung nach nur geringer Anstrengung, begleitet von muskulären und anderen Schmerzen und der Unfähigkeit, sich zu entspannen. Bei beiden Formen finden sich eine ganze Reihe von anderen unangenehmen körperlichen Empfindungen wie Schwindelgefühl, Spannungskopfschmerz und allgemeine Unsicherheit. Sorge über abnehmendes geistiges und körperliches Wohlbefinden, Reizbarkeit, Freudlosigkeit, Depression und Angst sind häufig. Der Schlaf ist oft in der ersten und mittleren Phase gestört, es kann aber auch Hypersomnie im Vordergrund stehen. Ist eine vorausgegangene Krankheit angegeben worden, soll eine zusätzliche Schlüsselnummer benutzt werden [11].

Schon alleine die Überlappung der Symptombereiche zwischen Long COVID und Neurasthenie ist auffällig. Darüber hinaus spielen immunologische Faktoren bei psychischen Erkrankungen eine wichtige Rolle [12]. Die Immunhypothese der Depression geht davon aus, dass Immunreaktionen, die zur Abwehr einer Infektion geeignet sind, eine „Sickness“-Reaktion auslösen, die mit sozialem Rückzug und körperlicher Schonung eine soziale und eine individuelle Schutzfunktion hat. Der soziale Rückzug schützt andere vor Ansteckung und das Schonverhalten ermöglicht dem Immunsystem, die Ressourcen für die Abwehr der Krankheitserreger zu bündeln. Mit Verstärkung und Verlängerung der Krankheitsphase und Abklingen der Infektion würde dann eine Depression „übrig bleiben“.

Diese Hypothese hat vor allem mit den Befunden zur Verbesserung des Verlaufs einer COVID-Infektion durch das Antidepressivum Fluvoxamin [13] wieder an Aktualität gewonnen.

Die umfassende Behandlung in der Psychiatrie mit ihrem bio-psycho-sozialen Ansatz braucht noch Evidenzbasierung, ist aber bei Nichtansprechen der Erstbehandlung eine vielversprechende Möglichkeit für die betroffenen Long-COVID-Patient:innen. In der Psychiatrie ist es wichtig, den Einzelnen zu stärken, um ihn an der Teilhabe an der Gesellschaft zu unterstützen.