Zusammenfassung
Nach einem Schlaganfall treten häufig relevante depressive Symptome (poststroke depression, PSD) auf, die in der klinischen Praxis häufig übersehen oder unterschätzt werden. Die rasche Erkennung und angemessene Behandlung der PSD sind für die Rehabilitation und die Chance auf ein optimales funktionelles Ergebnis von entscheidender Bedeutung. Selektive Serotonin-Rückaufnahme-Inhibitoren (SSRI) sind sehr gut für die Behandlung der PSD untersucht, für die kognitiv-behaviorale Therapie gibt es gute Evidenz. Für eine regelhafte prophylaktische Verwendung eines SSRI nach jedem Schlaganfallereignis gibt es keine Empfehlung, in Einzelfällen sollte eine solche Prophylaxe diskutiert werden. Von Bedeutung ist die routinemäßige Erfassung kognitiver Dysfunktionen, da sowohl Schlaganfälle als auch depressive Störungen mit behandlungsbedürftigen kognitiven Störungen einhergehen können.
Abstract
Relevant depressive symptoms, which are often overlooked or underestimated in clinical practice, frequently manifest after stroke (post-stroke depression, PSD). Rapid recognition and appropriate treatment of PSD are essential for rehabilitation and for the chance to achieve an optimal functional outcome. Selective serotonin reuptake inhibitors (SSRIs) for the treatment of PSD have been very well studied, and there is good evidence for cognitive behavioural therapy. Regular prophylactic use of an SSRI after every stroke event is not recommended; in individual cases, such prophylaxis should be discussed. Routine assessment of cognitive dysfunction is important, as both strokes and depressive disorders can be associated with cognitive dysfunction requiring treatment.
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Einleitung
Eine Depression nach einem Schlaganfall (auf Englisch: poststroke depression, PSD) ist häufig (in bis zu 45 % der Schlaganfälle), wird allerdings vielfach nicht adäquat erkannt und ausreichend behandelt.
Eine Depression nach Schlaganfall wird vielfach nicht adäquat erkannt und behandelt
Randomisierte kontrollierte Studien zur Prävention der PSD haben gezeigt, dass Antidepressiva im Vergleich zu Placebo signifikant die Inzidenz einer PSD verringern. Aktuelle Metaanalysen randomisierter kontrollierter Studien für die Behandlung von PSD haben die Wirksamkeit von Antidepressiva gezeigt. Die frühzeitige antidepressive Behandlung von PSD scheint sowohl die körperliche als auch kognitive Erholung nach einem Schlaganfall zu verbessern und könnte zu einer höheren Zehnjahresüberlebensrate nach einem Schlaganfall führen. Es wurden zuletzt auch Fortschritte beim Verständnis der Pathophysiologie der PSD beschrieben [1, 2]: Inflammatorische Prozesse können mit dem Beginn von zumindest einigen depressiven Symptomen verbunden sein. Weiters dürften genetische und epigenetische Faktoren, Erkrankung der weißen Substanz, zerebrovaskuläre Dysregulation, veränderte Neuroplastizität und Veränderungen in der Glutamatneurotransmission eine Rolle in der Pathophysiologie spielen.
Zur Assoziation von neuropsychiatrischen Erkrankungen mit zerebrovaskulären Erkrankungen nennen Robinson und Jorge [1] depressive Störungen, Angststörungen, Apathie, kognitive Störungen, Manie, Psychose, pathologische Affektivität (z. B. Affektinkontinenz), Müdigkeit und Anosognosie.
Empirische Studien zeigten den Zusammenhang zwischen vaskulären Schädigungen und Depression [3] und stellten fest, dass depressive Störungen deutlich häufiger vorkommen bei Patienten mit Schlaganfall im Vergleich zu Patienten mit vergleichbaren körperlichen Beeinträchtigungen durch orthopädische Verletzungen [4].
Depressive Störungen treten meist in den ersten Wochen nach einem Schlaganfall auf. In dieser Zeit müssen viele Betroffene die Erfahrung verarbeiten, dass ihr Leben sich von heute auf morgen verändert hat, müssen lernen, mit den psychischen und meist körperlichen Funktionseinschränkungen umzugehen. Nach schweren Schlaganfällen entwickeln sich häufiger depressive Störungen als nach leichteren; ebenso bei Menschen, die bereits an einer Depression gelitten haben oder leiden. Wie ausgeprägt die Depression ist, kann mit dem Ausmaß der körperlichen und geistigen Leistungseinschränkung nach dem Schlaganfall assoziiert sein.
Fallbeispiel
Eine 78-jährige Patientin wird mit der Rettung an die nächstgelegene Stroke Unit gebracht, da dem Ehemann eine Stunde zuvor eine plötzliche Sprachstörung und ein Verwirrtheitszustand auffielen. Bei der Aufnahme präsentierte sich die Patientin wach, es bestand eine vorwiegend nonfluente Aphasie mit auch etwas eingeschränktem Sprachverständnis und eine geringe motorische Halbseitensymptomatik rechts. Der Ehemann berichtet, sie sei immer sehr aktiv und sehr geordnet und von einer auf die andere Sekunde würde er sie nicht mehr wiedererkennen.
In der akut durchgeführten Magnetresonanztomographie (Abb. 1) zeigt sich eine ischämische Läsion im anterioren Thalamus.
Der Ereigniszeitpunkt war genau eruierbar, sodass 75 min nach Symptombeginn nach Ausschluss anderer Kontraindikationen eine intravenöse Thrombolyse mit rtPA verabreicht wurde.
Einige Stunden später kam es zu einer geringen Besserung der Symptomatik, insbesondere des Verwirrtheitszustandes.
Nach intensiver Diagnostik (Ultraschall der Halsgefäße, Echokardiographie, Langzeit-EKG etc.) ergab sich der Befund eines paroxysmalen Vorhofflimmerns, sodass die Patientin sekundärpräventiv auf eine Therapie mit einer oralen Antikoagulation eingestellt wurde.
Eine neurophysiologische Bewegungstherapie, eine Ergotherapie und vor allem logopädische Therapie wurden nach 24 h begonnen und bis zur Überstellung in eine stationäre Rehabilitation drei Wochen später fortgesetzt. Die Patientin machte ganz gute Fortschritte, hatte aber immer wieder emotionale Einbrüche.
Ungefähr 2 Tage nach Beginn der stationären Rehabilitation wurde die Patientin wieder rücktransferiert, da ein mangelndes Rehabilitationspotenzial bestünde.
Therapeutische Überlegungen zur PSD
Der dargestellte Fall unterstreicht die Notwendigkeit einer raschen Therapie von psychiatrischen Symptomen nach einem Schlaganfall, das gilt sowohl für die Depression [5] als auch für das Symptom der Affektinkontinenz [6]. In beiden Fällen haben sich selektive Serotonin-Rückaufnahme-Inhibitoren (SSRI) als effektiv erwiesen. Wichtig ist das rasche Erkennen der behandelbaren Symptomatik, da ansonsten der Erfolg der Rehabilitation stark gefährdet ist. Ein volles Ausschöpfen der Möglichkeiten in Hinblick auf Wiederherstellung und funktionellem Ergebnis ist in Anwesenheit einer relevanten Depression nicht möglich.
In diesem Zusammenhang sind drei Ansätze in der Literatur untersucht worden:
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1.
Der „klassische“ Ansatz geht von dem Gedanken aus, dass eine Depression nach Schlaganfall rasch erkannt werden sollte und konsekutiv eine antidepressive Behandlung begonnen wird. Dieser Ansatz ist sehr gut untersucht [7]: Für die Therapie mit SSRI besteht eine sehr hohe Evidenz. Des Weiteren hat sich die kognitiv-behaviorale Therapie (CBT) im klinischen Alltag als effektiv erwiesen [8]. Dieser Ansatz hat den Vorteil, dass nur solche Personen eine Therapie erhalten, die diese auch wirklich benötigen. Das ist nicht nur ein ökonomisches Vorgehen, sondern erspart potenziell problematische unerwünschte Arzneimittelwirkungen von SSRIs: Interaktionen mit anderen Pharmaka (Paroxetin z. B. ist ein potenter CYP2D6-Inhibitor [9]), Hyponatriämien, Erhöhung des Blutungsrisikos, sexuelle Dysfunktion, Verstärkung oder Demaskierung einer Parkinson-Symptomatik [10]. Der Nachteil des Ansatzes ist, dass (a) möglicherweise im klinischen Alltag eine Depression spät oder gar nicht erkannt wird und (b) Antidepressiva im Zusammenhang mit ihren präsynaptischen [11] und postsynaptischen [12] Wirkungen eine charakteristische Wirklatenz besitzen, während der wertvolle Zeit für die Rehabilitation verloren gehen kann.
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2.
Angesichts des hohen Risikos von Menschen, nach einem Schlaganfall eine Depression zu entwickeln, ist es statthaft, einen antidepressiven „Schutz“ frühzeitig anzusetzen. Eine rezente Metaanalyse [13] zeigte bei einer frühzeitigen, prophylaktischen SSRI-Gabe eine signifikante Verringerung des Auftretens einer PSD im Vergleich zu Placebo (relatives Risiko: 0,75 [95 % KI, 0,66–0,86]). Allerdings erhöhte die SSRI-Therapie im Vergleich zu Placebo das Risiko von Knochenbrüchen und Übelkeit. Die Autoren empfehlen durch künftige Forschungen Hochrisikopatienten für PSD zu identifizieren, um die Nutzen-Risiko-Abwägung einer prophylaktischen SSRI-Gabe in der klinischen Praxis zu verbessern.
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3.
Der dritte Ansatz geht davon aus, dass SSRIs die Behinderung nach einem Schlaganfall durch direkte Wirkung auf das Gehirn verringern könnten. Eine Cochrane-Übersicht kommt 2021 [14] zum Schluss, dass es hochwertige Belege dafür gibt, dass SSRIs im Vergleich zu Placebo oder der üblichen Behandlung keinen Unterschied in Bezug auf Behinderung, Unabhängigkeit oder Lebensqualität nach einem Schlaganfall machen.
Zusammenfassend sei folgendes Prozedere empfohlen:
Nach einem Schlaganfall sollte dem Behandlungsteam das hohe Risiko für das Auftreten einer PSD deutlich sein. Eine regelmäßige Erfassung des psychopathologischen Befundes ist erforderlich. Auf unterschiedliche Symptome sollte differenziert eingegangen werden. So kann etwa das Symptom der Agitation eine zentrale Herausforderung darstellen [15, 16], bezüglich Aggression ist der Zusammenhang mit der serotoninergen Neurotransmission beschrieben [17], was eine entsprechende Therapie mit einem SSRI nahelegen könnte. In der Therapie einer PSD sind SSRIs am besten untersucht, ihre Wirkung unterscheidet sich nicht von der bei depressiven Störungen ohne organische Assoziation [18].
SSRIs sind in der Therapie der Depression nach Schlaganfall am besten untersucht
Angesichts der differenzierten Wirkung der Rückaufnahmeinhibition von Serotonin vs. Noradrenalin [19,20,21,22] sollte bei bestimmten Symptomkonstellationen (z. B. Antriebsminderung und Apathie) an einen Serotonin-Noradrenalin-Rückaufnahme-Inhibitor (SNRI) gedacht werden.
Auch wenn ein klares Profil für einen prophylaktischen Einsatz noch nicht erarbeitet werden konnte, so seien folgende mögliche Faktoren genannt, die eine solche Verwendung begünstigen können:
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1.
Bestehende Depression vor dem Schlaganfallereignis, die bislang nicht behandelt wurde
-
2.
Vorliegen einer Vulnerabilität für (rezidivierende) depressive Störungen, auch im Rahmen einer bipolaren Störung
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3.
Vorliegen einer Familienanamnese für depressive Störungen
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4.
Vorliegen einer relevanten vaskulären Schädigung des Gehirns [3] über die aktuelle Läsion hinaus
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5.
Vorhandensein depressiver und ängstlicher temperamentaler Eigenschaften [23] sowie manifester Angststörungen und Zwangsstörungen [24], welche die Verarbeitung des Traumas Schlaganfall erschweren könnten
-
6.
Vorhandensein von relevanten kognitiven Störungen [25]
Unabhängig vom Zeitpunkt des Beginns einer antidepressiven Therapie: Das Problem der kognitiven Dysfunktion ist ein besonders relevantes. Zum einen kann der Schlaganfall selber eine Störung der Kognition bedingen, zum anderen ist die kognitive Dysfunktion ein charakteristisches und behandlungsbedürftiges Symptom der Depression [25]. Empfehlenswert ist die routinemäßige Erfassung der Kognition.
Nach einem Schlaganfall ist die routinemäßige Erfassung kognitiver Funktionen empfehlenswert
Für das Screening kognitiver Funktionen im psychiatrischen Alltag ist der Screen for Cognitive Impairment in Psychiatry in deutscher Sprache validiert worden (SCIP-G) [26, 27]: Ein Beispiel für seine Verwendung in der Praxis findet sich in einer rezenten Falldarstellung in dieser Zeitschrift [28].
Fazit für die Praxis
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Nach einem Schlaganfall ist die Erfassung einer Depression von großer Bedeutung für den weiteren Verlauf der Rehabilitation.
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Eine Depression nach Schlaganfall sollte rasch und konsequent pharmakologisch behandelt werden. In dieser Indikation sind SSRIs sehr gut untersucht.
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Für den Einsatz einer kognitiv-behavioralen Therapie bei Depression nach Schlaganfall gibt es gute Evidenz.
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In Einzelfällen kann nach einem Schlaganfall eine prophylaktische Gabe von SSRI diskutiert werden.
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Die Erfassung und Behandlung einer kognitiven Dysfunktion ist wichtig.
Literatur
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Ferrari, J., Sachs, G. & Erfurth, A. Depression nach Schlaganfall. psychopraxis. neuropraxis 25, 196–199 (2022). https://doi.org/10.1007/s00739-022-00830-8
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