Einleitung

Das funktionelle oder psychogene Querschnittsyndrom beschreibt das klinische Bild eines neurologischen Defizits in unterschiedlicher Ausprägungsform im Rahmen einer suszipierten Rückenmarkläsion bei fehlendem organischem Korrelat. Insbesondere in der Akutphase stellt dieser Symptomkomplex eine diagnostische Herausforderung dar. Dementsprechend soll dieser Fallbericht den klinischen Verlauf in der Erstversorgung veranschaulichen.

Fallbericht

Wir berichten über den Fall eines 19-jährigen Patienten, der in Notarztbegleitung über den unfallchirurgischen Schockraum unserer Abteilung eingeliefert wurde. Bei der Übergabe durch den Notarzt war der Patient bei stabilen Vitalparametern wach, ansprechbar und allseits orientiert. Er wurde liegend mit angelegtem Stiffneck eingebracht und bot einen kompletten sensomotorischen Querschnitt mit Kraftgrad 0 sämtlicher Kennmuskeln der beiden unteren Extremitäten und herabgesetztem Hautgefühl ab Höhe des Bauchnabels. Der Patient berichtete darüber, dass er soeben von einer anderen Person niedergestoßen worden und schließlich auf den Rücken gefallen sei. Außerdem berichtete der Patient darüber, dass ein ähnlicher Vorfall mit vergleichbarer Symptomatik vor wenigen Wochen stattgefunden habe. In der damaligen klinischen Abklärung in einem anderen Krankenhaus sei keine Verletzung detektiert worden. Im Verlauf sei es zu einer spontanen Remission der Symptomatik gekommen, woraufhin der Patient wieder entlassen wurde. Zu diesem Vorfall lag uns beim Eintreffen des Patienten keine Dokumentation vor.

An der psychiatrischen Abteilung unseres Krankenhauses war der Patient aufgrund einer rezidivierend depressiven Störung mit ausgeprägter Insomnie (F33.0) erstmalig etwa ein Jahr zuvor in Behandlung gewesen, die jedoch vom Patienten nach wenigen Monaten abgebrochen worden war. Die damals vorgeschriebene psychiatrische medikamentöse Therapie bestand aus Sertralin 50 mg 1‑0-0‑0 und Trazodon 150 mg 0‑0-0-2/3, welche der Patient selbstständig etwa sechs Monate zuvor abgesetzt habe. Auf direkte Nachfrage gab der Patient zwar mäßigen Alkoholkonsum an, wirkte aber vom klinischen Eindruck her nicht alkoholisiert. Auch Drogenkonsum wurde auf direkte Nachfrage verneint. Nach vollständiger Entkleidung des Patienten konnten in der klinischen Untersuchung keine äußerlichen Verletzungszeichen gefunden werden. Der Patient klagte über starke Schmerzen im Bereich der gesamten Wirbelsäule insbesondere auch über der gesamten Lendenwirbelsäule. Während sich im Bereich der beiden oberen Extremitäten keine sensomotorischen Defizite feststellen ließen, fand sich eine vollständige Plegie der beiden unteren Extremitäten. Das Hautgefühl wurde ab Bauchnabelhöhe als herabgesetzt angegeben. Der Patient gab außerdem Harndrang an, ein Versuch des Harnlassens in die bereitgestellte Harnflasche verlief jedoch frustran und die Anlage eines Harnkatheters wurde verweigert. Ein Priapismus lag nicht vor. Trotz der nun beschriebenen vorliegenden Symptomatik wirkte der Patient insgesamt desinteressiert und teilnahmslos.

Eindrückliche vollständige Anästhesie der beiden unteren Extremitäten

Nun erfolgte eine nativradiologische Abklärung der gesamten Wirbelsäule in zwei Ebenen ohne Hinweis auf eine traumatische Läsion. Im Anschluss wurde eine Computertomographie der gesamten Wirbelsäule ebenfalls ohne pathologisches Ergebnis durchgeführt. Nach Abnahme des Stiffnecks fanden sich weiterhin keine äußerlichen Verletzungszeichen bei freier Beweglichkeit der Halswirbelsäule. Im Anschluss erfolgte die neurologische Vorstellung.

Dabei wurde die Anästhesie für Schmerz, Berührung und Temperatur im Bereich beider unteren Extremitäten bei noch geringfügig erhaltener Sensibilität im Genitalbereich und die Paraplegie der beiden unteren Extremitäten bestätigt. Sämtliche Reflexe der beiden unteren Extremitäten stellten sich, abseits des negativen Babinski-Reflexes, seitengleich mittellebhaft dar. Als sensibles Niveau wurde Th11/12 festgelegt.

Das in weiterer Folge eingeholte psychiatrische Konsil ergab die Verdachtsdiagnose einer psychogenen Plegie (F44.4) unter Vorbehalt der noch ausstehenden weiterführenden bildgebenden Abklärung. Die im Anschluss durchgeführte Magnetresonanztomographie der gesamten Wirbelsäule ergab ebenfalls keinen pathologischen Befund (siehe Abb. 1). Nach Mitteilung des unauffälligen Befundes erhob sich der Patient von der Liege, tätigte problemlos einige Schritte im Ambulanzbereich und gab eine vollständige Remission seiner Symptome inklusive Wiedererlangen der willkürlichen Miktion an. Der Patient wurde schließlich, nach Vereinbarung eines Kontrolltermins an der psychiatrischen Ambulanz nach Rücksprache mit den behandelnden Psychiatern, entlassen. Rückblickend betrachtet war insbesondere die vollständige Anästhesie der beiden unteren Extremitäten auch unter Prüfung mit spitzer Nadel im Bereich der Fußsohle und der Harnverhalt bei beträchtlich gefüllter Harnblase (Abb. 1b) besonders eindrücklich.

Abb. 1
figure 1

Unauffällige magnetresonanztomographische Darstellung in der T2-Turbo-Spin-Echo-Sequenz der unteren Hals- und gesamten Brustwirbelsäule (a) sowie der gesamten Lendenwirbelsäule bei prall gefüllter Harnblase (b). Intaktes Myelon im Bereich der unteren Halswirbelsäule, sowie der Brust- und Lendenwirbelsäule (a, b)

Fazit für die Praxis

  • Das funktionelle Querschnittsyndrom ist eine Ausschlussdiagnose und stellt somit eine diagnostische Herausforderung in der Akutphase dar.

  • Neu aufgetretene neurologische Defizite nach Unfällen jeglicher Art müssen ohne Ausnahme vollständig abgeklärt werden.

  • Im Rahmen eines funktionellen Querschnittsyndroms können neurologische Defizite unterschiedlichster Ausprägung vorhanden sein. Wie unser Fallbeispiel zeigt, sind auch eine objektivierbare Anästhesie und Harnverhalt möglich.

  • Neben der gründlichen klinischen Untersuchung und neurologischen Begutachtung ist eine akute bildgebende Diagnostik entsprechend der klinischen Präsentation gefordert.

  • Auch im Verdachtsfall eines funktionellen Querschnittsyndroms, zum Beispiel bei Patientinnen und Patienten, die sich im Rahmen mehrmaliger Vorstellungen mit vergleichbarer Symptomatik präsentieren, ist das Vorliegen von organischen Ursachen (i.e. Verletzungen im Bereich der Wirbelsäule und des Rückenmarks) zweifelsfrei auszuschließen.

  • Psychiatrische Betreuung und Klärung der sozialen Hintergründe sollten bereits nach erstmaligem Auftreten eines funktionellen Querschnittsyndroms initiiert werden, sofern dies nicht bereits im Vorfeld erfolgt ist.

  • Im Falle von unauffälliger Bildgebung kann die Kontaktaufnahme mit Angehörigen und/oder betreuendem medizinischen Personal dazu beitragen, die Verdachtsdiagnose des funktionellen Querschnittsyndroms zu erhärten.

  • Bei anhaltender Symptomatik können somatosensible evozierte Potenziale (SEP) und motorisch evozierte Potenziale (MEP) zur Differenzierung von organischen und psychogenen Querschnittsyndromen behilflich sein.