Einleitung

Im November 2001 stellte Friedel M. Reischies die von ihm mitentwickelte „Zehn-Wort-Merkliste mit Imaginations-Einspeicherhilfe“ [1] bei einem Vortrag in Wien vor. Zwei Monate vor diesem Vortrag zur Demenzdiagnostik eröffnete das Gerontopsychiatrische Zentrum (GPZ) der Psychosozialen Dienste Wien [2]. Der Autor dieser Zeilen, Mitbegründer des GPZ, war gerade auf der Suche nach schnell durchführbaren, aussagekräftigen Demenztests und probierte die „Zehn-Wort-Merkliste“ am nächsten Tag aus.

Mittlerweile wurden im GPZ 4079 KlientInnen mit dem Verfahren untersucht, der Test bewährt sich in der Arbeit des Zentrums bei der Früherkennung von Demenzerkrankungen sehr gut. Die positiven Erfahrungen mit dieser Merkliste zur Erfassung episodischer Gedächtnisleistungen werden im Artikel weitergegeben.

Episodisches Gedächtnis in der Demenzdiagnostik

Der bedeutende französische Demenzforscher Bruno Dubois stellte neue Kriterien für die Demenz vom Alzheimertyp auf [3]. Dabei steht die Störung des episodischen Gedächtnisses an erster Stelle. Dazu kommen einer oder mehrere positive Biomarker (Atrophie des medialen Temporallappens in der Magnetresonanztomographie (MRT) und/oder Hypometabolismus parietotemporal in der Positronen-Emissions-Tomographie (FDG-PET) und/oder niedriges β‑Amyloid 1–42 und hohes Gesamt-Tau im Liquor).

Zur Prüfung des episodischen Gedächtnisses entwickelte Dubois mit seinen MitarbeiterInnen einen Test mit fünf Wörtern, „Les 5 mots“ [4]. Bei diesem Verfahren wird den KlientInnen eine Liste mit den Wörtern musée – limonade – sauterelle – passoire – camion (Museum, Limonade, Heuschrecke, Küchensieb, Lastwagen) präsentiert. Zur Einspeicherung wird gefragt: „Wie heißt das Getränk, das Küchenutensil, das Fahrzeug, das Gebäude und das Insekt?“ Die KlientInnen sollen sich unmittelbar danach an die Wörter erinnern und nach etwa drei bis fünf Minuten noch einmal. Bei nicht spontan erinnerten Wörtern kann gefragt werden: „Wie hieß das Getränk etc. …?“

Für das unmittelbare Erinnern und die verzögerte Erinnerung werden jeweils fünf Punkte vergeben. Alle zehn Punkte sollten erreicht werden. In einer Studie erzielte der Test eine Sensitivität von 91 % und eine Spezifität von 87 % zur Erkennung von PatientInnen mit einer Demenz vom Alzheimertyp [4].

Die Prüfung des episodischen Gedächtnisses ist für die Demenzfrüherkennung wesentlich

Die Gedächtnisschule von Endel Tulving [5] gliedert das Gedächtnis in hierarchisch aufeinander aufbauende Systeme. Das episodische Gedächtnis ist als höchststehende Gedächtnisform mit bewusstem Reflektieren verbunden und wegen seiner Komplexität damit gegen Störungen (z. B. Hirnschäden) besonders anfällig. Darunter folgt in der Hierarchie das Wissens- oder Kenntnissystem, welches aus kontextfreien Fakten (z. B. „Oslo ist die Hauptstadt von Norwegen“) besteht. Das prozedurale Gedächtnis ist hierarchisch noch tiefer stehend, weitgehend an motorische Fertigkeiten geknüpft (z. B. Autofahren, Skifahren, ein Musikinstrument spielen) und läuft ohne bewusstes Reflektieren ab [6]. So können Menschen mit einer fortgeschrittenen Demenz meist technisch noch sehr lang Autofahren und diese Fertigkeit bereitet Angehörigen oft große Sorgen.

Die Prüfung des episodischen Gedächtnisses ist für die Demenzfrüherkennung so gut geeignet, da die höchststehende Gedächtnisform bei einer Demenzerkrankung besonders früh verloren geht.

Die Zehn-Wort-Merkliste

Die Zehn-Wort-Merkliste ist ein für die klinische Praxis konzipiertes Verfahren zur Erfassung von episodischen Gedächtnisleistungen [1]. Für die Liste wurden die Wörter Kartoffel, Brief, Meer, Uhr, Sessel, Foto, Wald, Polizist, Säugling und Katze gewählt. Die Auswahl erfolgte nach den Kriterien hohe Bildhaftigkeit, hohe Konkretheit sowie hoher subjektiver Bedeutungsgrad und mittlere Häufigkeit. Die Aufgabe, sich die Wörter zu merken, wird verbunden mit der Aufforderung, sich den vom Wort abgebildeten Begriff vorzustellen und mit einem Tisch hinsichtlich der Größe zu vergleichen. Durch diese Vorgabe wird erreicht, dass für die Merkwörter bildliche Vorstellungen generiert werden (Durchführung des Tests im Gerontopsychiatrischen Zentrum des PSD Wien siehe Infobox 1).

Eine im Rahmen einer Gedächtnisambulanz durchgeführte erste Studie mit 116 Personen unterstrich die hohe diskriminative Bedeutung des Verfahrens [1]. Menschen mit Demenz erinnerten im Durchschnitt 1,6, KlientInnen mit einer leichten kognitiven Störung 4,3 Wörter. PatientInnen mit einer nicht organischen psychiatrischen Erkrankung konnten sich im Schnitt 7,0 und Personen ohne psychiatrische Diagnose 7,1 Wörter merken. Die Korrelation zur Mini-Mental State Examination betrug in dieser Studie 0,78, die Retestreliabilität oder Stabilität des Verfahrens lag bei 0,86 und entsprach den Anforderungen an die Zuverlässigkeit.

Die Autoren des Originalartikels zur Zehn-Wort-Merkliste sehen als großen Vorzug des Tests die „Verarbeitungstiefe“, welche durch die visuelle bzw. visuell-räumliche Vorstellung der Merkitems erreicht wird. Mit dieser Prozedur wird die Enkodieraktivität vereinheitlicht. Zudem kommt es nicht, wie bei unmittelbarer Wiedergabe konventioneller Lernlisten zum „recency effect“, dem Abruf der letzten Wörter aus dem Primärgedächtnis.

Untersuchung: Gerontopsychiatrisches Zentrum der PSD Wien

Das Gerontopsychiatrische Zentrum (GPZ) ist eine ambulante, sozialpsychiatrische Einrichtung der „Psychosozialen Dienste der Stadt Wien“ [2]. Die Früherkennung und Behandlung von Demenzerkrankungen ist ein Schwerpunkt der Arbeit. Im Rahmen der neuropsychologischen Untersuchungen bemüht man sich um eine moderne und humane Demenzdiagnostik, bei der in angenehmer Atmosphäre in relativ kurzer Zeit möglichst viele Informationen gewonnen werden sollen [7, 8].

Die Sensitivität der Zehn-Wort-Merkliste beträgt 89 %, die Spezifität liegt bei 84 %

Im GPZ wurden bislang bei den neuropsychologischen Erstuntersuchungen 4079 KlientInnen (66 % Frauen, 34 % Männer) mit der „Zehn-Wort-Merkliste“ untersucht. Das Verfahren wird sehr gut akzeptiert und ist in etwa zwei Minuten durchführbar. Mit den Ergebnissen wurde eine retrospektive Datenauswertung durchgeführt. Das durchschnittliche Alter der untersuchten Personen betrug 75,4 Jahre, der durchschnittliche Wert in der Mini-Mental State Examination (MMSE) [9, 10] 24,3 von 30 möglichen Punkten. Beim Test zur Früherkennung von Demenzen mit Depressionsabgrenzung (TFDD) [11] erzielten die KlientInnen im Schnitt 34,8 von 50 möglichen Punkten, im Uhrentest nach Sunderland (UT) [12] 7,4 von 10 Punkten. Auf der Global Deterioration Scale (GDS) [13], einer siebenstufigen Skala, erreichten die Personen im Durchschnitt die Stufe 3,2 (Geringe kognitive Leistungseinbußen).

In der Gesamtgruppe erinnerten die KlientInnen bei der „Zehn-Wort-Merkliste“ durchschnittlich 3,9 Wörter. Menschen ohne kognitive Beeinträchtigung merkten sich im Schnitt 6,9, im Mild-Cognitive-Impairment-Bereich wurden 5,3 und bei einer Demenzerkrankung 2,5 Wörter erinnert (Tab. 1). Von den 4079 Personen erreichten 13 (0,3 %) das Maximum von 10 Wörtern. Je weniger Wörter erinnert wurden, desto schlechter sind die Testergebnisse in den anderen durchgeführten Verfahren (siehe Tab. 2).

Tab. 1 Retrospektive Datenerhebung der Testergebnisse von 4079 Klientinnen des Gerontopsychiatrischen Zentrums (GPZ) des PSD Wien; Vergleich von Menschen ohne kognitive Beeinträchtigung, KlientInnen im Mild-Cognitive-Impairment-Bereich (MCI) und PatientInnen mit einer Demenzerkrankung
Tab. 2 Anzahl der erinnerten Wörter in „Zehn-Wort-Merkliste mit Imaginations-Einspeicherhilfe“ im Vergleich zu anderen Testergebnissen bei 4079 KlientInnen des Gerontopsychiatrischen Zentrums (GPZ) des PSD Wien

Von 2463 untersuchten Patientinnen, die 0–4 Wörter in der „Zehn-Wort-Merkliste“ erinnerten, wurden 2213 richtig als dement diagnostiziert, die Sensitivität beträgt somit 89 %. Die Spezifität liegt bei 84 %; 1331 von 1581 Personen mit 5–10 erinnerten Wörtern wurden korrekt als nicht dement eingestuft (Tab. 3).

Tab. 3 Retrospektive Datenauswertung der Testergebnisse von 4079 KlientInnen, die mit der „Zehn-Wort-Merkliste“ untersucht wurden. Zur Erkennung einer Demenzerkrankung beträgt die Sensitivität 89 % und die Spezifität 84 %

Die Korrelation zwischen der Zehn-Wort-Merkliste und dem MMSE-Test betrug 0,73. Der TFDD korrelierte mit 0,78 und die GDS-Skala mit −0,76. Neben den Erstuntersuchungen wurde die Zehn-Wort-Merkliste im GPZ mittlerweile auch bei 3370 Kontrolluntersuchungen (von der 1. Kontrolle bis zur 14. Kontrolle) angewendet und erweist sich dabei als sehr verlässlicher, stabiler Test.

Kasuistik

Der 66-jährige Patient kam mit seiner Ehefrau zur Erstabklärung ins GPZ. Die Gattin vereinbarte den Termin, ihr fiel auf, dass der Ehemann viel vergisst. Der Patient bemerkte auch subjektiv Gedächtnisprobleme, er war von Beruf Universitätsprofessor für Germanistik und brauchte bereits Zettel zum Unterrichten. Er hatte noch drei Jahre bis zu seiner Pensionierung zu arbeiten.

Bei der neuropsychologischen Erstuntersuchung ergab sich der mögliche Verdacht auf eine beginnende demenzielle Entwicklung. Die Ergebnisse in der „Mini-Mental State Examination“ (MMSE: 29/30) und im „Test zur Früherkennung von Demenzen mit Depressionsabgrenzung“ (TFDD: 44/50) waren mit dem hohen Ausgangsniveau des Patienten noch sehr gut. Bei der „Zehn-Wort-Merkliste“ (6 von 10 erinnerte Wörter) und im „Uhrzeichentest nach Sunderland“ (9/10) hatte der Patient bereits leichte Probleme (Tab. 4). Im FDG-PET zeigte sich eine verminderte Glukoseutilisation hochparietal sowie parietooccipital beidseits, welche typisch für eine beginnende Demenz vom Alzheimertyp ist. Es wurde die Diagnose „Demenz bei Alzheimerkrankheit mit frühem Beginn“ (DAT, Form/F00.0) gestellt. Der Patient erhielt als antidementive Therapie zunächst Rivastigmin.

Tab. 4 Testergebnisse des Patienten, bei Erstuntersuchung 66 Jahre alt

Bei der 1. Kontrolluntersuchung nach 16 Monaten verschlechterte sich die kognitive Leistungsfähigkeit im TFDD von 44 auf 34 Punkte. Der MMSE-Wert blieb bei 29 Punkten stabil und in der „Zehn-Wort-Merkliste“ erinnerte sich der Patient an fünf von zehn Wörtern. Ab diesem Zeitpunkt wurde er mit der Kombinationstherapie (Memantin und Rivastigmin) behandelt. Bei der 2. Kontrolle erzählte der Patient, dass er sich bei den Vorlesungen viel aufschreiben muss und bei der 3. Kontrolle war er bereits offiziell emeritiert. Der Patient fühlte sich medikamentös gut eingestellt und berichtete, dass er sich gelegentlich noch mit netten KollegInnen trifft, die Lehrtätigkeit hat er ganz aufgegeben. Bei der 5. Kontrolluntersuchung, sechs Jahre nach der Erstabklärung, meinte der Patient, dass er sich manchmal „pudelwohl“ fühlt, aber „ohne die Drohung im Hintergrund, was das alles bedeuten kann“, würde es ihm besser gehen.

Die Kasuistik zeigt, dass die „Zehn-Wort-Merkliste“ neben dem „Uhrzeichentest nach Sunderland“ bei PatientInnen mit einem sehr hohen Ausgangsniveau ein ausgezeichneter Früherkennungstest ist.

Diskussion und Ausblick

Die Ergebnisse der ersten Studie zur Zehn-Wort-Merkliste mit 116 PatientInnen [1] werden von den Resultaten der retrospektiven Datenauswertung von 4079 untersuchten KlientInnen im GPZ bestätigt. Personen ohne kognitive Beeinträchtigung erinnerten sich im GPZ im Durchschnitt an 6,9 Wörter, in der Ausgangsuntersuchung merkten sich Menschen ohne psychiatrische Diagnose im Schnitt 7,1 Worte. Während die Korrelation zwischen der Zehn-Wort-Merkliste und dem MMSE-Test in der ersten Studie 0,78 beträgt, liegt sie in der GPZ-Auswertung bei 0,73. Der TFDD korreliert im GPZ mit der Merkliste mit 0,78.

Viele Menschen mit demenziellen Entwicklungen kommen mehrere Jahre immer wieder zu Kontrolluntersuchungen ins GPZ. Wenn man sich bei diesen PatientInnen rückblickend ansieht, welche Testverfahren am frühesten Hinweise auf eine Demenzerkrankung gaben, sind es meist zwei Tests. Der Uhrentest nach Sunderland [11] mit Problemen beim Einzeichnen der Zeiger auf die richtige Zeit [14] und die Zehn-Wort-Merkliste. Der „Sprung“ von sieben auf vier erinnerte Wörter geht nach den Erfahrungen im GPZ meist sehr schnell. Im mittelschweren Demenzbereich werden oft nur mehr 1–2 Wörter oder kein einziges Wort erinnert.

PatientInnen mit einer depressiven Erkrankung schneiden aufgrund von Aufmerksamkeits- und Konzentrationsdefiziten bei herkömmlichen Lernlisten oft schlechter ab. Im GPZ sieht man immer wieder, dass diese Menschen wegen der besseren „Verarbeitungstiefe“ bei der Zehn-Wort-Merkliste oft im Normbereich von sieben erinnerten Wörtern liegen. In der Gesamtbeurteilung mit allen anderen Untersuchungsergebnissen kann dann meist eine Demenzentwicklung ausgeschlossen werden.

Die Zehn-Wort-Merkliste bewährt sich bei der Diagnostik mit MigrantInnen

Derzeit sind im GPZ etwa 20 % der untersuchten Personen in einem anderen Land aufgewachsen. Die Zehn-Wort-Merkliste bewährt sich hier bei der Diagnostik mit MigrantInnen als bildungsunabhängiges Verfahren sehr gut [15]. Aufgrund der positiven Erfahrungen des GPZ wären weiterführende, kontrollierte prospektive Studien wünschenswert.

Leider wird die Zehn-Wort-Merkliste derzeit im deutschsprachigen Raum in der Demenzdiagnostik noch wenig verwendet. Es bleibt zu hoffen, dass der praktikable, schnell durchführbare und aussagekräftige Demenzfrüherkennungstest durch diesen Artikel in Zukunft eine weite Verbreitung finden wird.

Infobox 1 Vorgabe der „Zehn-Wort-Merkliste mit Imaginations-Einspeicherhilfe“ im Gerontopsychiatrischen Zentrum (GPZ) des PSD Wien

Durchführung der Zehn-Wort-Merkliste

„Nun habe ich eine Gedächtnisaufgabe für Sie, bei der ich Ihnen ein paar Wörter vorlese. Bei jedem Wort werde ich Sie fragen, ob der Begriff größer oder kleiner ist als ein Tisch“ (wenn möglich auf einen gewöhnlichen Tisch zeigen). „Sie machen sich dadurch ein Bild zu den Begriffen und merken sich dann die Wörter leichter.“

„Das erste Wort ist die Kartoffel . Ist die Kartoffel größer oder kleiner als ein Tisch?“

Danach werden die Wörter Brief, Meer, Uhr, Sessel, Foto, Wald, Polizist, Säugling und Katze vorgegeben. Bei Entscheidungsschwierigkeiten oder falls kein Größenvergleich angestellt wird, soll die Frage nochmals gestellt werden.

Nach Vorgabe der Wortliste: „An welche Wörter können Sie sich jetzt noch erinnern?“

Bei einer längeren Unterbrechung kann man fragen: „Fällt Ihnen noch ein soeben gehörtes Wort ein, das größer oder kleiner ist als ein Tisch?

Fazit für die Praxis

  • Bei der Demenzfrüherkennung ist die Erfassung episodischer Gedächtnisleistungen sehr hilfreich.

  • Die „Zehn-Wort-Merkliste mit Imaginations-Einspeicherhilfe“ ist ein schnell durchführbarer aussagekräftiger Test zur Prüfung des episodischen Gedächtnisses.

  • Nach den Erfahrungen des Gerontopsychiatrischen Zentrums der PSD Wien bewährt sich die Zehn-Wort-Merkliste als bildungsunabhängiger Test bei der Demenzdiagnostik für MigrantInnen.