Einleitung

Während die bipolare Störung, eine affektive Störung charakterisiert durch Veränderungen des Antriebs, der Aktivität und der Stimmung in Richtung Manie/Depression, eine viel untersuchte Erkrankung ist, bleibt die schizoaffektive Störung trotz der häufigen Diagnose im klinischen Alltag vergleichsweise wenig erforscht. Ausgehend vom 1933 von Kasanin geprägten Begriff der „schizoaffektiven Psychose“ stellen die schizoaffektiven Störungen aus heutiger Sicht eine heterogene Gruppe von Erkrankungen dar, die sich fließend zwischen den beiden Prototypen Schizophrenie und affektiven Störungen einreiht. Somit ist auch die derzeitige mangelnde Reliabilität der Diagnose (Kappa-Werte um 0,50 im Vergleich zur bipolaren Störung mit 0,77) nachvollziehbar.

Kasuistik

Eine 22-jährige Studentin dekompensiert innerhalb von wenigen Stunden im Rahmen einer Reise in Südostasien manisch-psychotisch. Zunächst kommt es zu Erleuchtungsgefühl und ausgeprägten Erregungszuständen, Beziehungs-, Größen- und Verfolgungsideen, kurz darauf zu Vergiftungsideen mit Nahrungsverweigerung, tröstenden und kommentierenden Stimmen, dem Gefühl des Gemachten, Gedankenabreißen und Zerfahrenheit sowie massiven Schlafstörungen. Die psychiatrische Versorgung vor Ort gestaltet sich als sehr komplex, die Patientin wird nacheinander in drei Spitälern aufgenommen, ohne dass es zu einer Besserung der Symptomatik kommt (die Medikation in diesem Zeitraum bleibt unklar). Nach dem Rücktransport nach Wien und der Verlegung in ein Wiener Spital kommt es unter Antipsychotika zum raschen Rückgang der Symptome, insbesondere der produktiv-psychotischen Symptomatik. In weiterer Folge vorwiegend depressive Symptomatik mit Antriebslosigkeit, sozialem Rückzug, depressiver Verstimmung, Grübelneigung sowie sporadischen Verfolgungsideen, insbesondere bei größeren Menschenmengen, sodass eine tagesklinische Aufnahme empfohlen wird.

Seit dem 17. Lebensjahr war die Patientin zwei Mal nach UbG auf einer psychiatrischen Abteilung aufgenommen. Auch war sie an einer Kinder- und Jugendpsychiatrischen Tagesklinik behandelt worden. Zu den stationären Aufenthalten kam es aufgrund von plötzlichen psychischen Dekompensationen mit starken affektiven Auslenkungen (1 × depressiv, 1 × manisch) sowie ausgeprägten psychotischen Symptomen. Die Patientin erholte sich von diesen Episoden meist rasch.

Im Laufe der Jahre wurden unterschiedliche Diagnosen gestellt: schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen (ICD-10-F32.3), bipolare Störung, gegenwärtig manische Episode mit psychotischen Symptomen (ICD-10-F31.2), paranoide Schizophrenie (ICD-10-F20.0) sowie histrionische Persönlichkeitsstörung (ICD-10-F60.4).

Die derzeitig behandelnde niedergelassene Fachärztin, die die Patientin seit zwei Jahren betreut, vertritt die Diagnose einer bipolaren Störung, wobei sie eine schizoaffektive Störung nicht ausschließt.

Die Patientin hatte in den letzten fünf Jahren unterschiedliche Medikamente aus der Gruppe der Antipsychotika erhalten: Risperidon, Ziprasidon, Aripiprazol und Quetiapin, wobei Aripiprazol und Ziprasidon aufgrund von Akathisie nach kurzer Zeit wieder abgesetzt wurden. Antidepressiv erhielt die Patientin zunächst Mirtazapin, worauf die Patientin eine hypomane Symptomatik zeigte. Über einen längeren Zeitraum erhielt die Patientin auch Escitalopram, wodurch es jedoch zu keiner Besserung kam. Als Phasenprophylaxe wurde die Patientin zunächst auf Lithium, dann Valproat und schließlich Lamotrigin eingestellt. Zum Zeitpunkt der tagesklinischen Behandlung war die Patientin auf Quetiapin und Lamotrigin eingestellt.

Die Patientin, die auch in stabileren Phasen Stimmungseinbrüche angab, war mit den Phasenprophylaktika wenig zufrieden und versuchte immer wieder die bestehende Medikation umzustellen. Einzig die Quetiapin-Medikation empfand die Patientin als hilfreich. Sie wünscht sich ein kontinuierlich hypomanes Zustandsbild, ein verzerrtes Konzept für psychische Normalität wird deutlich. Laut Familienanamnese waren väterlicherseits bei mehreren Verwandten ersten Grades affektive Erkrankungen mit Suizid bekannt. Der Verdacht einer paranoiden Schizophrenie bestand bei einem Großvater. Bei der jüngeren Schwester der Patientin war eine Intelligenzminderung sowie ebenfalls eine bipolare Erkrankung diagnostiziert worden. Es sind regelmäßige Konflikte im familiären Umfeld bekannt. Die Patientin selbst hält hartnäckig an der Diagnose Schizophrenie fest. In Abgrenzung zu den Familienmitgliedern und den häufig vorkommenden affektiven Erkrankungen wäre sie damit „etwas Besonders“.

Somatisch waren eine behandelte Hypothyreose sowie medikamentös induzierte Hyperprolaktinämie und Restless-Legs-Syndrom zu beobachten. Ansonsten war die Patientin körperlich gesund.

Differenzialdiagnostische Überlegungen

Nach der letzten Episode stellt sich nun bei der Patientin die Frage nach der Differenzialdiagnose bipolar affektive Störung versus schizoaffektive Störung. Nach ICD-10 können im Rahmen einer manischen Episode psychotische Symptome wie Wahnideen (am häufigsten sind Größen-, Liebes-, Beziehungs- und Verfolgungswahn) und Halluzinationen sowie Denkstörungen für eine kurze Zeit auftreten (Tab. 1).

Tab. 1 Manie mit psychotischen Symptomen nach ICD-10

Anders als bei typisch schizophrenem Wahn sind Wahnideen im Rahmen einer manischen Episode nicht bizarr oder kulturell unangemessen und bei den akustischen Halluzinationen handelt es sich nicht wie bei der Schizophrenie typisch um dialogisierende oder kommentierende Stimmen, die über den Patienten sprechen. Im DSM-5 kann die bipolare Erkrankung ebenfalls um die Zusatzkodierung mit psychotischen Merkmalen erweitert werden.

Bei der schizoaffektiven Erkrankung muss laut ICD-10 eine episodische Störung bestehen, bei der sowohl affektive Symptome als auch schizophrene Symptome in derselben Krankheitsphase auftreten, meistens gleichzeitig oder höchstens durch wenige Tage getrennt (Tab. 2). DSM-5 orientiert sich mehr am Verlauf. Es müssen zusätzlich die psychotischen Symptome alleine d. h. ohne affektive Symptomatik für mindestens zwei Wochen vorliegen (Tab. 3).

Tab. 2 Wesentliche Diagnosekriterien der schizoaffektiven Störung nach ICD-10
Tab. 3 Schizoaffektive Störung laut DSM-5

Im Fall dieser Patientin kann also nach den ICD-10 Kriterien die Diagnose einer schizoaffektiven Störung gegeben werden, da die Symptome Gefühl des Gemachten, Gedankenabreißen sowie die kommentierenden Stimmen die Schizophreniekriterien erfüllen. Unklar bleibt bei der Patientin, ob die drei schizoaffektiven Episoden (einmal schizodepressiv, zweimal schizomanisch) ausgeprägt und lang genug sind, um eine bipolare Diagnose infrage zu stellen. Dies ist im ICD-10 nur ungenau definiert. Geht man von DSM-5 aus, gibt es jedoch in der Anamnese keine gesicherte rein psychotische Episode von zwei Wochen oder mehr und im Längsverlauf stehen die affektiven Auslenkungen im Vordergrund.

Ein weiterer Unsicherheitsfaktor im Falle dieser Patientin ist, dass die spezifische Qualität und das tatsächliche Ausmaß der psychotischen Symptome der rezenten Episode unter den außergewöhnlichen Behandlungsbedingungen in Südostasien im Nachhinein nur bedingt eruierbar sind.

Fazit für die Praxis

  • In der ICD-10 ist die schizoaffektive Störung als episodische Erkrankung konzeptualisiert und stark an der Querschnittsymptomatik der Episode orientiert. Sowohl affektive als auch schizophrene Symptome treten hier in derselben Krankheitsepisode auf.

  • Gemäß DSM-5 liegt die Betonung mehr auf der Längsschnittsymptomatik, und es muss eine psychotische Symptomatik für mindestens zwei Wochen ohne affektive Symptomatik vorliegen (im Gegensatz zu ICD-10).

  • In der medikamentösen Therapie gibt es zwischen den beiden Diagnosen kaum relevante Unterschiede. In beiden Fällen sollten die psychotischen Symptome mit einem (vorzugsweise atypischen) Antipsychotikum therapiert werden.

  • Die ärztliche Information an PatientInnen und Angehörige soll aktiv und wohlüberlegt die Besonderheiten der Diagnose erklären.