Merkmale systemischer Therapie

Systemische Psychotherapie umfasst eine Fülle an Theorien, Hypothesen, methodischen Zugängen, Settings und stellt für verschiedenste Problemlagen professionelle Herangehensweisen zur Verfügung. Sie versucht auch den Kontext zu verändern, in dem ein Problem entsteht, und bezieht deshalb zuweisende Personen bzw. nahe Menschen mit ein. Ihrer Tradition gemäß hat sie ein Therapieverständnis, das sich primär an den Interessen und Besonderheiten der Klient:innen orientiert. Sie betrachtet sich als von Therapeut:innen und Klient:innen gemeinsam geschaffenes soziales System, in dem durch die kunstvolle Verwendung von Perspektivenvielfalt und Ideen im Dialog eine Neuselektion von Sinn und das Entdecken anderer Handlungsoptionen ermöglicht wird. Klient:innen lassen sich aus systemischer Sicht nicht heteronom bestimmen – Psychotherapie kann bei ihnen nur wirken, wenn sie ihrer aktuellen Struktur, Interessenslage bzw. ihrem Verstehenshintergrund entspricht. Die therapeutische Beziehung ist deshalb eine gemeinsame Suche, in der ständig von neuem gelernt wird.

Zugang zu theoretischen Bezügen

Systemiker:innen berufen sich auf unterschiedliche Theoriebausteine aus verschiedenen wissenschaftlichen Richtungen. Die von dort stammenden Begriffe, wie beispielsweise System, Autopoiese, Selbstorganisation, Kybernetik, Konstruktivismus und Konstruktionismus etc. werden verwendet, um die Subjektivität des Erkennens und die Nicht-Instruierbarkeit psychischer und sozialer Systeme zu betonen. Der Bezug auf diese Grundlagen dient unter anderem dazu, der Haltung, dem Interessensfokus und dem Interventionsverständnis einen theoriebezogenen Erlaubnisrahmen zu geben.Footnote 1

Zugang zur therapeutischen Praxis

In der therapeutischen Praxis ist es nötig, Klient:innen in ihrer spezifischen Eigenart entgegen zu kommen, um mit ihnen einen therapeutischen Prozess zu beginnen, der zu ihnen und zu ihren Anliegen passt.Footnote 2

Folgende Punkte sind Systemiker:innen dabei wichtig:

  • Die Vielfalt der Klient:innen und die Komplexität psychosozialer Situationen ist so groß, dass sich Therapeut:innen nicht für jeden Einzelfall vorbereiten können. Erfahrungen und erworbenes Wissen müssen immer wieder daraufhin geprüft werden, ob sie für das Gegenüber im gegenwärtigen Moment auch hilfreich sind.

  • Die Klient:innen werden dort abgeholt, wo sie sich mit ihren Eigenheiten und Bedürfnissen gerade befinden. Sie helfen den Therapeut:innen zu verstehen, was die nächsten Schritte im therapeutischen Prozess sein könnten. Es geht nicht darum, dass die Therapeut:innen selbst die richtigen Wege finden, sondern dass sie sich mit den Klient:innen gemeinsam auf deren Wegen und mittels deren Lösungsbewegungen vorantasten.

  • Das „Problem an sich“ gibt es aus Sicht systemischer Therapeut:innen nicht, sondern nur Wahrnehmungen, Beschreibungsformen, Denk- und Handlungsweisen über etwas, das als „problematisch“ betrachtet wird. An einem Problem und an einer Lösung ist deshalb nicht nur ein einzelner Mensch beteiligt. Es ist wichtig, herauszufinden, wer was von wem will und wer dabei welches Ziel und welche Lösungsideen hat.

  • Bei der Konkretisierung und Differenzierung von Beschwerden und Wünschen ist es sinnvoll, an Aufträgen zu arbeiten, die zu der therapeutischen Rolle und den therapeutischen Möglichkeiten passen.

  • Es wird auf Bereiche (im Wahrnehmen, Denken, Beschreiben, Verhalten) geachtet, die hilfreich und nützlich für das Erreichen der Ziele der Klient:innen sind. Bei allem Veränderungsfähigen und Veränderungsbedürftigen gibt es immer Dinge, Abläufe, Elemente von Situationen, Lebenslagen oder Personen, die so bleiben sollen, wie sie sind – diese lassen sich als Ressourcen für Lösungsbewegungen nutzen.

  • Die Förderung guter Beziehungen zu nahen Menschen und die Entwicklung einer guten Beziehung zu sich selbst helfen bei der Bewältigung vieler Problemlagen.

Zugang zur Diagnostik

Systemische Therapie hat sich immer wieder von der traditionellen medizinischen bzw. psychologischen Diagnostik zu distanzieren versucht und deshalb auch bisher den Begriff „Patient:in“ vermieden.Footnote 3

Aktuell ist der Umgang systemischer Therapeut:innen mit dem Themenfeld der Diagnostik in Bewegung geraten. Neben die fundamentale Ablehnung diagnostischer Schemata tritt – vor allem angesichts der erforderlichen Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen und Organisationen aus dem Gesundheitsbereich – zunehmend deren pragmatisch-strategische Übernahme im Sinne des „Störungsspezifischen Wissens“ (z. B. v. Sydow und Borst 2018). Es gibt Publikationen und Seminarangebote zu bestimmten Störungsbildern, in denen Hypothesen und Herangehensweisen zum systemischen Umgang mit solchen Phänomenen vermittelt werden.

Diagnostische Beschreibungen und darauf bezogene Behandlungsideen haben in der systemischen Therapie allerdings immer einen prozesshaften und vorläufigen Charakter. Systemiker:innen identifizieren sich nicht mit solchen Kategorien bzw. mit den Wissensinhalten oder methodischen Tools, die sich darauf beziehen. Sie halten sich trotz ihrer Kenntnisse beweglich und befassen sich gemeinsam mit den Klient:innen damit, was sich während des stattfindenden Gesprächs jeweils auftut. Eine „Störung“ ist für sie nicht bloß ein Ensemble diagnostischer Merkmale, sondern ein interaktionelles Phänomen – jemand fühlt sich durch eine bestimmte Umgebung gestört, reagiert entsprechend, was wieder jemanden anderen stört. Klassifikation von Phänomenen erfolgt in einer Form, die zwar die Beobachtung von Ähnlichkeitsfeldern ermöglicht – jedoch stets unter Einbeziehung des (Beobachtungs‑) Kontextes. Problematisch sind aus systemischer Sicht die Objektivierung diagnostischer Merkmale und die daraus für manche entstehende Hoffnung einer „raschen Behebung“ individueller Störungen bzw. einer ausschließlichen Fokussierung darauf. Psychotherapie als Reparaturinstanz zu verstehen, wird Menschen nicht gerecht, die von diesem geschützten Raum, in dem es um ihre persönlichsten und intimsten Lebensmomente geht, etwas für sie Wichtigeres erwarten.

Aktuelle Schwerpunkte systemischer Psychotherapieausbildungen am Beispiel der ÖAS

Zum Ausbildungsangebot der ÖAS

Die Lehrtherapeut:innen der ÖASFootnote 4 (Österreichische Arbeitsgemeinschaft für systemische Therapie und systemische Studien) haben in ihren Ausbildungsinteressen unterschiedliche Schwerpunkte und verschiedene methodische Bezüge. Sie vermitteln nicht Eindeutigkeit sondern Vielfalt und lenken gleichzeitig den Fokus auf das aus ihrer Sicht Wesentliche. Üblicherweise begegnen sie Studierenden als lernende und nicht bloß wissende Menschen. In den unterrichteten Ansätzen und den einzelnen Curricula werden immer wieder andere Blickwinkel auf die systemische Therapie eröffnet. Es gibt keine einheitlichen Konzepte, sondern stattdessen viele Möglichkeiten und Angebote.Footnote 5

Studierende sollen sich auf die Suche nach systemischen Vorgehensweisen begeben, die für sie als Menschen stimmig und für ihre jeweiligen Klient:innen geeignet sind. Die Ausbildungseinrichtung mutet ihnen damit auch zu, sich teilweise widersprüchlichen Perspektiven auszusetzen, Unterschiede in ihrem Potenzial zu nutzen und ihre spezifischen therapeutischen Wege im konkreten Einzelfall selbst zu wählen.

Dieses Ausbildungsverständnis ist sowohl im kollegialen Umgang als auch im Kontakt mit Studierenden, die sich in bestimmten Situationen standardisierte Vorgaben wünschen, eine spannende Herausforderung. Die Vielfalt der vermittelten systemischen Zugänge kann phasenweise zu Verwirrung und zu Widersprüchlichkeiten führen. Sie birgt auch die Gefahr einer zu geringen Vertiefung, weil für eine ausgiebige Schulung in den methodischen Strömungen und die Einübung einzelner Techniken nicht ausreichend Zeit bleibt. Im Blick auf das grundlegende Therapieverständnis bringt allerdings gerade das den Vorteil, dass man durch fehlende Eindeutigkeit offen bleiben muss für den gerade stattfinden Prozess mit den Klient:innen.

Zu den Erwartungen von Klient:innen, anderen Berufsgruppen und Studierenden

Aktuell wird viel über evidenzbasierte Medizin und evidenzbasierte Therapie gesprochen. Von Psychotherapeut:innen wird in institutionellen Kontexten und im multiprofessionellen Setting immer wieder verlangt, das eigene therapeutische Vorgehen professionell zu begründen. Auch manche Klient:innen wollen als mündige Kund:innen den Einsatz von Methoden erläutert bekommen und fordern die „Wirksamkeit“ des therapeutischen Vorgehens deutlicher ein, als dies vor einigen Jahrzehnten der Fall war. Außerdem scheinen sie eher bereit zu sein, sich psychiatrischen Zustandsbildern zuordnen zu lassen – vielleicht weil das eine Rückvergütung durch die Krankenkassen ermöglicht und psychische Gesundheit bzw. psychosoziale Herausforderungen in der öffentlichen Meinung inzwischen weniger stigmatisiert sind. In den Therapieprotokollen Studierender zeigt sich, dass die Störungsbilder von Klient:innen vermehrt mittels klassischer diagnostischer Kategorien beschrieben werden – die Idee, man müsse an der Behebung solcher tendenziell auf das Individuum bezogener Symptome arbeiten, findet mehr Raum. Es bleibt dabei allerdings unklar, ob Klient:innen andere Problemlagen in die Praxen angehender Therapeut:innen bringen oder ob die Studierenden einen anderen Blick auf sie werfen. Es könnte auch sein, dass Studierende damit den (zugeschriebenen) Erwartungen der Lehrtherapeut:innen zu entsprechen versuchen, die ihre Protokolle lesen.

Manche Studierende befürchten schlecht zu arbeiten, wenn sie sich primär an den Eigenheiten und Bedürfnissen ihrer Klient:innen orientieren und sich mit der erworbenen systemischen Haltung auf einen ergebnisoffenen therapeutischen Prozess einlassen. Sie fühlen sich immer wieder unter Druck, Therapie effizienter gestalten zu müssen – es soll „etwas weitergehen“, man möchte „sich nicht im Kreis drehen“, „die Therapie soll sich für Klient:innen lohnen“, sie „investieren ja Zeit und Geld“. Es gibt (durchaus auch im Klient:inneninteresse) die Sehnsucht nach „geeigneten Interventionen zum richtigen Zeitpunkt“. Von der Ausbildung erhoffen sie sich eine Fülle an Behandlungstechniken – einen „Werkzeugkoffer“, der ihnen die Sicherheit geben soll, nichts falsch zu machen. Methoden aus anderen Therapierichtungen werden (nicht nur von Studierenden) rasch in dieses Instrumentarium integriert – meist ohne ausreichende Rezeption und Auseinandersetzung mit der dahinter liegenden Epistemologie, wie dies auch Roesler (2023) anmerkte, dessen kritische Mahnung durchaus kontroversiell in der systemischen Gemeinschaft aufgenommen wurde. Beim engagierten Füllen eines solchen „Werkzeugkoffers“ wird oft übersehen, dass allgemeine Wirkfaktoren, wie die Person der Therapeut:in und die therapeutische Beziehung einen stärkeren Einfluss auf den Therapieerfolg haben als spezifische Interventionstechniken, die im Anschluss an eine vornehmlich ICD-basierte Diagnostik zum Einsatz kommen (Datler et al. 2021).

Die Variabilität in den Erwartungen der Studierenden ist groß – man kann (ohne entsprechende Forschungsergebnisse zur Verfügung zu haben) nicht einfach behaupten, dass die „jüngere“ Generation mehr an Störungsbildern und Techniken zu deren Behebung und und die „ältere“ mehr an therapeutischen Prozessen und der systemischen Haltung orientiert ist. Manche Studierende, die im 1. Ausbildungsabschnitt besonders viele Techniken gelernt haben, fühlen sich entlastet und erleichtert, wenn man ihnen in späteren Ausbildungsphasen nahelegt, diesen nicht allzu große Bedeutung beizumessen und sich stattdessen erneut an die grundlegenden Prinzipien des systemischen Therapieverständnisses zu erinnern. Sie freuen sich über die Gestaltungsfreiräume, die ihnen das eröffnet.

Im Rahmen der Ausbildung scheint deshalb beides wichtig zu sein. Einerseits muss man angehenden systemischen Therapeut:innen das entsprechende (sprachliche und methodische) Rüstzeug auch in Bezug auf störungsspezifisches Wissen mitgeben und passende Behandlungstechniken mit ihnen einüben. Andererseits darf man sie damit nicht zu einem mechanistischen, an Manualen orientierten Handeln einladen und muss sie phasenweise auch wieder davon befreien, um ihnen andere Bewegungsmöglichkeiten zu eröffnen.

Zu neoliberalistischen Einflüssen

Während sich die Familientherapie der 40er und 50er-Jahre in kritischer Abgrenzung zur Psychiatrie befand und die Idee hatte, dass sich primär die Umwelt und nicht das Individuum ändern müsse, gewinnen zunehmend therapeutische Technologien des Selbst mit dem ökonomischen Paradigma der Leistungssteigerung und der ständigen Verbesserung Einfluss (Elberfeld 2012, S. 169 ff.). Die Frage, ob wir in unseren Psychotherapien primär die Anpassungsleistungen der Klient:innen unterstützen oder ihnen auch in ihrem „Anderssein“ behilflich sind wurde bereits in einem Kongress 2006 aufgeworfen (dazu Klar und Levold 2007). Auf die Gefahr, dass Psychotherapie im aktuellen gesellschaftlichen Kontext zu einem neoliberalistisch gefärbten Instrument der Selbstoptimierung verkommen kann, hat unter anderem Angelika Grubner hingewiesen (Grubner 2017). Keupp forderte eine Gesellschaftsdiagnostik von der systemischen Therapie – eine kritisch-reflexive Achtsamkeit für die strukturellen Bedingungen menschlichen Lebens und Leidens (Keupp 2018).

Die ÖAS gestaltete in den Jahren 2016 bis 2018 einen Zyklus von mehreren Abenden zum Thema „Passt angepasst? Gesellschaftliche Rahmungen und Diskurse in der Psychotherapie“. Es ging dabei um neoliberalistische Phänomene, die hinter einzelnen methodischen Zugängen in der systemischen Therapie wirksam sein könnten. Bei der Lektüre exemplarischer Protokolle Studierender konnte u. a. der Einfluss von Machbarkeits- und Leistungsdiskursen beobachtet werden. Im Versuch, Anerkennung zu geben, erkundigten sie sich z. B. häufig danach, wie Klient:innen etwas „geschafft“ haben – die Frage suggeriert Machbarkeit und bestärkt Klient:innen in ihren sowieso schon leistungsorientierten Denkweisen. Es hätte auch offenere Möglichkeiten der Fragestellung gegeben (z. B. „Wie war das möglich?“, „Was hat dazu beigetragen?“). Manche Studierende konzentrierten sich auf den Versuch der raschen Behebung bestimmter Symptomlagen, obwohl für die Klient:innen das Besprechen anderer Gesichtspunkte ihrer Problematik wichtiger schien. Obwohl aus systemischer Sicht bereits das Stellen einer Frage, die Perspektiven eröffnet, eine Intervention darstellt, wurde in den Protokollen außerdem primär der Einsatz einzelner Techniken und die Vergabe von Hausübungen als „Intervention“ bezeichnet. Nur selten erkundigten sich Studierende danach, was ihre Fragen, Hypothesen und Ideen in den Klient:innen auslösten und begnügten sich dann oft mit eher oberflächlich wirkenden zustimmenden Antworten statt möglichen Widersprüchen und entgegenlaufenden emotionalen Befindlichkeiten ausreichend Raum zu geben (Genauer dazu: Klar und Trinkl 2018). Diese Eindrücke gilt es im Rahmen der Ausbildungen zu reflektieren und in der Lehre auf eine ausreichende Balance zu achten.

Zu den Akademisierungsbestrebungen

Eine der Herausforderungen besteht heutzutage darin, dass durch die Einflüsse der Krankenkassen und verwandter Berufsgruppen, die sich auf ihre je eigene Weise mit der menschlichen Psyche befassen, ein aus systemischer Sicht falsches Psychotherapieverständnis bestärkt werden könnte – nämlich eine standardisierte Behandlung klinischer Störungsbilder auf der Basis von primär theoretischem Vorwissen. Systemiker:innen haben schon immer zum Wohle ihrer Klient:innen eine bewusste Eigenstellung gegenüber „verobjektivierenden Therapieformen“ eingenommen. Solche Ideen über Psychotherapie könnten durch die Akademisierung im Rahmen des neuen Psychotherapiegesetzes aber wieder mehr Raum bekommen – vor allem dann, wenn die Ausbildung vor dem eigentlichen Fachspezifikum im universitären Kontext nicht ausreichend praxisorientiert erfolgt, das therapeutische Tun primär in klinischen Kontexten erbracht werden muss und abschließende Approbationsprüfungen keinen methodenspezifischen Schwerpunkt haben dürfen.

Perspektiven

All diese Aspekte zusammenfassend relativiert Systemische Therapie unabhängig von ihren verschiedenen methodischen Schwerpunkten die Bestimmungsmacht psychiatrischer und psychologischer Diagnostik, die Wichtigkeit klinischer Theorien und die starren Rollenzuschreibungen, die im Sozial- und Gesundheitsbereich häufig mit den Begriffen „Therapeut:in“, „Patient:in“ oder „Klient:in“ einhergehen (Levold und Wirsching 2023, S. 13 ff). Sie bezieht Umgebungsbedingungen ein und konzentriert sich nicht nur auf den Veränderungswillen der einzelnen Personen, sondern auch auf ihre störenden Lebensumstände. Jeder Klient/jede Klientin und jedes noch so befremdliche Kommunikationssystem wird bei seinen eigenen Lösungsversuchen begleitet. Systemischer Therapie steht zwar eine Fülle von Ideen und Werkzeugen zur Verfügung – neben den Grundprämissen, die sich vorrangig auf die Haltung und den Interessensfokus beziehen, bietet sie aber kaum allgemeingültige Vorgehensweisen und schon gar keine Therapiemanuale an. Systemiker:innen sehen sich dabei zu, wen bzw. was sie durch ihr Tun unterstützen und was sie damit bewirken bzw. verhindern. Sie sind sich dabei ihrer eigenen Begrenztheit bewusst und immer bereit, Vorannahmen hintanzustellen, die sie im Therapieprozess gerade jetzt nicht brauchen. Auch wenn sie umfassend ausgebildet sind und langjährige Erfahrungen haben, wissen sie bezogen auf die konkreten Menschen, mit denen sie zu tun haben, immer noch nicht genug und (er)finden gemeinsam mit ihren Klient:innen die für sie jeweils sinnvolle Therapie neu.

Allerdings wollen sich Systemiker:innen auf dem Markt therapeutischer Schulen behaupten. Sie passen sich deshalb sowohl dem Bedarf als auch den diversen Akademisierungsbestrebungen an und kooperieren mit Arbeitsstellen, überweisenden Institutionen, klinischen und universitären Einrichtungen, Krankenkassen und anderen Geldgeber:innen. Sie orientieren sich an gegebenen Strukturen und Aufträgen und versuchen Situationen, die man nur schwer verändern kann, positiv umzudeuten bzw. zu nutzen. Dadurch verändert sich auch die Art ihres therapeutischen Handelns. Eine wichtige Frage ist, ob es ihnen unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen gelingen wird, in ihrer manchmal andersartigen und durchaus kreativen Herangehensweise gemeinsam mit ihren Klient:innen Entwicklungen anzustoßen, die über das Therapieren individueller Störungen hinaus auch Umgebungsbedingungen ändern und bevorzugte Lebensbewegungen fördern können.

Angesichts der begrenzten Therapiezeit und der anfallenden Kosten ist es sicher wichtig, nicht blindlings mit den Klient:innen umherzuirren, sondern sukzessive mit ihnen gemeinsam einen für sie sinnvollen Fokus zu entwickeln. Die Idee, endgültig wissen zu können bzw. zu müssen „wo es langgeht“, stellt aus systemischer Sicht aber ein Hindernis für den therapeutischen Prozess dar, der aus einem immer von neuem beginnenden Versuchs-Irrtums-Lernen besteht und nicht aus einer gezielten Suche nach vorgegebenen („markierten“ bzw. „richtigen“) Wegen. Die Kunst systemischer Therapeut:innen besteht unter anderem darin, sich mit all ihren vielfältigen Angeboten in einem Spannungsfeld aus „noch-nicht-genug-Wissen“ und „das Wesentliche fokussieren“ zu bewegen.

Auch in der Ausbildung ist das Ausmaß verfügbarer Zeit begrenzt. Je mehr Stunden für die Vermittlung theoretischer Konzepte, unterschiedlicher methodischer Strömungen, störungsspezifischer Inhalte und das Lesen von Fachliteratur bzw. das Einüben diverser Techniken verwendet werden, desto weniger Raum bleibt für das offene Experimentieren mit Gesprächssituationen und für die Reflexion. Problem ist dabei unter anderem die Fülle des angeblich Relevanten, das sich als (be)merkenswert in den Vordergrund rückt – gleichzeitig aber daran hindert, sich nach dem zu erkundigen, was für Studierende eventuell wichtiger sein könnte. Würden Ausbildungseinrichtungen dem Unterrichten von Theorien und einzelnen Konzepten zur Behebung von spezifischen klinischen Zustandsbildern in Zukunft zu viel Raum geben (müssen), wäre die systemische Therapieszene bald von spezialisierten Expert:innen bestimmt, die eine eingeschränkte Art von privilegiertem Wissen über Symptomlagen und Behandlungsformen weitergeben, ohne der Entfaltung des therapeutischen Prozesses ausreichend Raum zu lassen. Das könnte zwar gängigen Erwartungen entgegenkommen, aber eine Auffassung psychotherapeutischer Qualifikation vermitteln, die der ursprünglichen systemischen Auffassung von Therapie keinesfalls entspricht.

Die Fülle an Techniken und Zugängen, die in den letzten Jahren an unterschiedlichen Standorten entwickelt wurden, ermöglicht als „Spielbein“ Flexibilität und Kreativität. Mit ihrer Hilfe bringen sich Systemiker:innen aktiv gestaltend in die therapeutische Beziehung ein. „Standbein“ muss aus der Sicht der Autorinnen aber die offene Haltung bleiben, die sich im Klient:inneninteresse nicht mit solchen Vorgehensweisen identifiziert und darauf fixiert. Künftige Systemiker:innen werden sowohl Expertise als auch Reflexionsbereitschaft brauchen, um zu unterscheiden, wann der Fokus auf Störungsbilder und der Einsatz konkreter therapeutischer Techniken zu ihrer Beseitigung hilfreich ist und wann es sinnvoll ist, genau das beiseitezulassen, um stattfindenden Prozessen und anderen Themen mehr Raum zu geben. Wissen „wo es lang geht“ könnte in diesem Sinn bedeuten, sich als Therapeut:in dieser Unterscheidung und dieser Möglichkeiten bewusst zu bleiben.