Das Theorie-Praxis-Verhältnis in der Psychotherapie

Im wissenschaftlichen Diskurs gibt es eine Position, die fordert, dass für die Psychotherapie die gleichen Standards gelten wie für die Medizin: Therapieverfahren bieten dementsprechend auf der Basis „zutreffender Theorien“ über psychische Prozesse Interventionen, die sich in Hinblick auf gewisse Störungen oder Symptome als nachweislich wirksam erwiesen haben. In der systemischen Therapie herrscht eine kritische Haltung gegenüber dieser Medizinalisierung von Psychotherapie vor. Psychotherapie kann demnach nicht als die Anwendung von Techniken, die auf zutreffenden Theorien über die Psyche beruhen, verstanden werden. Dafür spricht auch der zwischenzeitlich gut gesicherte Befund, dass die einzelnen Therapieverfahren, die sich auf ganz unterschiedliche theoretische Konzepte stützen, ungefähr gleich wirksam sind (vgl. Lambert 2013), was bedeutet, dass die methodenspezifischen Grundannahmen, Theorien und Techniken nur wenig zum Behandlungserfolg beitragen (vgl. z. B. Wampold 2001).

In Übereinstimmung mit Buchholz (2020, S. 96) verstehen wir Psychotherapie nicht als apersonale Anwendung von Technik und Prozeduren. Aufgrund der Komplexität zwischenmenschlicher Interaktionen sind psychotherapeutische Prozesse nicht normierbar. Theorie und Empirie können die psychotherapeutische Praxis nur informieren, nicht aber instruieren (Buchholz 2018, S. 291). Auch dafür finden sich Hinweise in der empirischen Psychotherapieforschung: In der Praxisstudie ambulante Psychotherapie (PAP-S), einem Forschungsprojekt der Schweizer Charta für Psychotherapie in Kooperation mit der Hochschule für Angewandte Psychologie Zürich und Volker Tschuschke, Universität Köln, wurde die treatment-fidelity, also die Konzepttreue von Vertreter:innen unterschiedlicher Therapieverfahren untersucht. Dabei zeigte sich, dass Therapeut:innen spezifische Interventionstechniken ihrer Methode und fremdschulische Interventionen ungefähr gleich häufig, nicht-spezifische Interventionen wie supportives Validieren oder empathisches Nachfragen aber am häufigsten verwenden. Erwartungsgemäß korreliert die treatment-fidelity nicht mit dem Behandlungserfolg und negativ mit dem Ausmaß der Berufserfahrung (Tschuschke 2016, S. 81).

Tschuschke erklärt das so: „Therapeut:innen beziehen aus ihrer schulenspezifischen Ausbildung ein basales Verständnis von normalem und abweichendem psychischen Erleben und eine grundlegende Orientierung für ihre therapeutischen Aktivitäten. Für eine effiziente psychotherapeutische Behandlung treten aber mit der Zeit weitere Elemente hinzu, die sich aus den Erfahrungen der alltäglichen Praxis ergeben“ (Tschuschke 2016, S. 80).

Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage nach der Bedeutung schulenspezifischer Theorien und Metatheorien. Damit ein Therapieverfahren als wissenschaftlich anerkannt gilt, muss es eine konsistente Theorie über Störungsentstehung (klinische Theorie), schulenspezifische Behandlungsstrategien und Wirkfaktoren vorlegen. Diese theoretischen Konzepte vermitteln ein Verständnis des Gegenstandsbereiches und sind damit für die professionelle Identitätsbildung unerlässlich. Auch wenn wir wissen, dass andere Theorien dasselbe leisten, also ebenfalls die Grundlage hilfreichen psychotherapeutischen Handelns bieten, ist Theorie nicht überflüssig oder beliebig. Wie wir als systemische Therapeut:innen unsere Profession verstehen, wie wir unsere Verantwortung in einem Heilberuf realisieren, hängt von unseren Theorien ab.

Die theoretischen Grundlagen der systemischen Therapie

Befragt man die aktuellen Ausgaben der gängigen Lehrbücher für Systemische Therapie und Beratung, z. B. von Arist von Schlippe und Jochen Schweitzer (2012), von Tom Levold und Michael Wirsching (2014) sowie von Reinert Hanswille (Hg. 2022), so finden sich zu den theoretischen Grundlagen der Systemischen Therapie jeweils Kapitel zu Kybernetik 1 und 2, zu Konstruktivismus und sozialem Konstruktionismus, zur Theorie autopoietischer Systeme nach Maturana und Varela, zur soziologischen Systemtheorie nach Luhmann sowie zur Synergetik und Personzentrierten Systemtheorie von Jürgen Kriz. Anders positionieren sich nur Kirsten von Sydow und Ulrike Borst, indem sie sich vom Radikalen Konstruktivismus distanzieren und die empirie- und diagnosekritische Haltung in der deutschsprachigen systemischen Literatur kritisieren. Sie weisen darauf hin, dass die Dominanz erkenntnistheoretischer Ausführungen ein Merkmal der deutschsprachigen systemischen Fachliteratur ist, während sich im internationalen akademischen Kontext die systemische Therapie an einer positivistischen Grundhaltung orientiert (2018, S. 53).

Kritische Äußerungen zur aktuellen systemischen Theorienlandschaft finden sich auch andernorts. Diese Kritik richtet sich gegen das unvermittelte Nebeneinander von teilweise widersprüchlichen Theorien (Levold 2014), gegen das Vorherrschen hochabstrakter Metatheorien und das weitgehende Fehlen klinischer Theorien (z. B. Geyerhofer 2011; Schmitt 2014). Letzeres ist allerdings theorieimmanent, wenn man systemische Praxis konsequent an Systemtheorie und konstruktivistischer Erkenntnistheorie orientiert.

Dass sich unter dem Dach eines Psychotherapieverfahrens unterschiedliche Ansätze mit unterschiedlichen theoretischen Fundierungen entwickeln, ist keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal systemischer Therapie. Auch andere Psychotherapieverfahren weisen eine erhebliche Binnendifferenzierung auf, sodass es weder „die Psychoanalyse“ noch „die Verhaltenstherapie“ gibt. Was die theoretischen Grundlagen systemischer Therapie von denen anderer Verfahren unterscheidet ist nicht das Nebeneinander unterschiedlicher Ansätze. Das Besondere ist vielmehr, dass es sich beim systemischen Ansatz um ein transdisziplinäres Projekt handelt – systemisches Denken lässt sich keiner einzelnen akademischen Disziplin zuorden (vgl. Levold 2014, S. 15) – vor allem nicht der Psychologie. Die systemtheoretischen Grundlagen stammen aus der Biologie, Soziologie, Philosophie und Physik – wurden also in beträchtlicher Distanz zu den psychosozialen Phänomenen, die den Gegenstandsbereich der Psychotherapie darstellen, entwickelt. Seit der konstruktivistischen Wende bezieht sich Systemische Therapie auf sehr abstrakte Metatheorien. Im Rahmen der Kybernetik II traten psychologische Konzepte in den Hintergrund und erkenntnistheoretische Überlegungen in den Vordergrund. Für Praktiker:innen ist es daher oft wenig attraktiv, sich mit der theoretischen Fundierung ihres Tuns auseinanderzusetzen.

Dennoch – oder deswegen? – soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, die therapiepragmatischen Konsequenzen der beiden im systemischen Diskurs aktuell vorherrschenden Metatheorien auszuleuchten. Es sind dies die soziologische Systemtheorie nach Luhmann, die Körper, Psyche und Kommunikation als drei autopoietisch geschlossene Systeme konzeptualisiert und die Synergetik, die Wissenschaft der Selbstorganisation nicht-linearer dynamischer Systeme. Viele Verfasser wichtiger theoretischer Texte lassen sich klar einer der beiden Denkschulen zuordnen: Kurt Ludewig, Fritz Simon, Arnold Retzer und Hans Lieb sind Autopoietiker, Günter Schiepek, Martin Rufer, Jürgen Kriz, Konrad Grossmann sind Synergetiker. Diese Theoriekontroverse wurde im „Streit ums Nadelöhr“ in Form einer Diskussion zwischen Jürgen Kriz und Fritz Simon (2019) dargestellt.

Ich selbst habe in früheren Texten, vor allem in Zusammenhang mit der emotionsbasierten systemischen Therapie (z. B. Wagner 2019), auf die Vorzüge der synergetischen Perspektive hingewiesen, weil hier das Konzept der Fühl-Denk-Verhaltens-Programme (infolge FDV-Programme) eine differenzierte Beschreibung intrapsychischer Prozesse ermöglicht. Andererseits eröffnet die soziologische Systemtheorie Beobachtungsperspektiven, die für ein systemisches Therapieverständnis zentral bedeutsam sind. In einem nächsten Schritt sollen diese beiden Grundlagentheorien daher in aller Kürze vorgestellt werden, um dann darzulegen, wie die beiden Theorien auch in einem Ergänzungsverhältnis differenziert genützt werden können.

Die soziologische Systemtheorie nach Luhmann

Das zentrale Element der soziologischen Systemtheorie ist – basierend auf dem Autopoiese-Konzept von Maturana und Varela – die Konzeptualisierung von Körper, Psyche und Kommunikation als drei operational geschlossene und aneinander gekoppelte Systeme. Durch Arnold Retzer wurde die Unterscheidung von gelebtem, erlebtem und erzähltem Leben in der systemischen Therapie verbreitet. Im Unterschied zu klassischen biopsychosozialen Theorien, wie sie der Medizin oder der Verhaltenstherapie zugrunde liegen, werden diese drei Systeme aber nicht als Teile einer gemeinsamen Überlebenseinheit „Mensch“ gedacht, sondern jeweils als Umwelten füreinander. Die wesentliche Frage lautet dann: „Welches System erzeugt das zu erklärende Phänomen als Element seiner eigenen Operationen, bzw. welche seiner Operationen erzeugen das Phänomen?“ (vgl. Lieb 2009, S. 47).

In der konsequenten Formulierung von Peter Fuchs (2005) heißt das: Was inhaltlich in der Psyche geschieht, kann man als psychosoziale Interpretation von (notwendig gleichzeitig stattfindenden) biochemischen Hirnprozessen definieren (vgl. Lieb 2014, S. 34). Diese Formulierung fordert uns auf, psychische Interpretationen von den zugrundeliegenden körperlichen Phänomenen zu unterscheiden. Dieser Logik folgend können wir körperliche Zustände nicht per se wahrnehmen, ohne Bedeutung zuzuschreiben, oder „Sinn“ zu produzieren. „Nur Psyche und Kommunikation operieren im Medium von Sinn. Sie müssen im Rahmen ihrer Logiken ihren Wahrnehmungen und Beobachtungen Sinn verleihen. Demgegenüber produziert der Körper keinen Sinn (weshalb die häufig verwendete therapeutische Idee, der Körper gebe der Psyche Signale, nur eine therapeutisch erfundene Metapher ist – manchmal nützlich, manchmal schädlich) (Lieb 2014, S. 41)“.

Die Sensibilisierung dafür, dass das Schaffen von Bedeutung, auch wenn es körperliche Phänomene betrifft, immer ein psychischer Prozess ist und die konkrete Bedeutungsschaffung nur eine von vielen möglichen – also kontingent – ist, halte ich für die wichtigste Implikation dieses Theorieentwurfes. Durch die Unterscheidung zwischen Nichtsinnförmigkeit des körperlichen Erlebens und Sinnförmigkeit psychischer Wahnehmung wird deutlich, wie jegliche Wahrnehmung von „Etwas“ den sozial angelieferten Sinn nutzt (vgl. Lassnig 2023). Gefühle sind damit mit Bedeutung versehene Körperzustände. Die Bereitstellung verschiedener Bedeutungskonstruktionen ist gesellschaftlich geprägt, wie meine Kollegin Brigitte Lassnig mit folgender Feststellung verdeutlicht: „Im bäuerlichen Leben meiner Mutter ist der Satz ‚Ich fühle mich nicht wertgeschätzt‘ nicht vorgekommen.“ Die Sensibilisierung dafür, wie gesellschaftliche Deutungsangebote („Sinnanlieferungen“) die individuelle Gefühlswahrnehmung prägen, halte ich für den größten Gewinn dieser theoretischen Position. Was als Kränkung, als Mobbing, als sexueller Übergriff erlebt wird, ist nicht in unserem Körper „eingeschrieben“. Die „Wirklichkeit“ dieser Gefühle ist nicht an den beteiligten Neurotransmittern zu erkennen, auch nicht an den beteiligten Hirnregionen. Die Beobachtertheorie macht damit deutlich, dass ein primär biologisches Verständnis von Emotionen, die ausschließliche Erfassung ihres „Ereignischarakters“ inadäquat ist.

Allerdings wirft die System-Umwelt-Konzeptualisierung hinsichtlich des Verhältnisses von Psyche und Körper auch viele Fragen auf. So kritisiert z. B. Jürgen Kriz, dass der Verweis auf die operationale Geschlossenheit gerade die Übergänge zwischen den Systemen Körper und Bewusstsein nur sehr vage konzeptualisieren lässt. Aufgrund der Theoriearchitektur der Systemtheorie Luhmann’scher Prägung bleiben damit sowohl die Funktionsweise des psychischen Systems als auch die Wechselwirkungen über die Systemgrenzen hinweg theoretisch nicht konzeptualisierbar, weil nicht vorhersagbar. Wenn der neurobiologische Wirkmechanismus eines Ansatzes plausibilisiert werden soll – wie z. B. in der (systemischen) Traumatherapie oder beim hypnosystemischen Ansatz, wird auf die neuronalen Grundlagen des Erlebens verwiesen, statt ein System-Umwelt-Verhältnis zu konzeptualisieren. Wenden wir uns daher nun der Synergetik als zweite wichtige Metatheorie für den systemischen Therapieansatz zu.

Synergetik

Die Synergetik ist die Theorie und Wissenschaft der Selbstorganisation komplexer dynamischer Systeme. Sie geht auf den Physiker Hermann Haken zurück und wurde v. a. durch Günter Schiepek und Jürgen Kriz in den systemischen Diskurs eingebracht. Die Grundvoraussetzung für Selbstorganisation ist das Vorliegen eines Systems aus mehreren Teilen, zwischen denen nichtlineare Wechselwirkungen bestehen, wie z. B. bei Molekülen in einer Flüssigkeit, Neuronen in einem neuronalen Netz oder den Interaktionssequenzen in einem sozialen System. Bestimmte Einflüsse aus der Umwelt (z. B. Energiezustrom) oder aus dem System selbst modifizieren die Wechselwirkungen zwischen den Elementen. Diese Einflussgrößen nennt man Kontrollparameter. Durch sich verändernde Kontrollparameter kann es zu einem „Phasenübergang“, also der Herausbildung einer neuen Ordnung im System kommen (vgl. Schiepek et al. 2013, S. 33).

Die Bedeutung von Selbstorganisation für die Konzeptualisierung der Funktionsweise neuronaler Systeme ist evident: Es gibt keine zentrale Steuerungsinstanz im Gehirn, sondern vielfach simultan tätige neuronale Netzwerke, die sich wechselseitig beeinflussen. Informationen von außen wirken als Sinnesreize, die nur entsprechend der Systemlogik verarbeitet werden können. Welche Information aus einem spezifischen Sinnesreiz gewonnen wird, hängt sowohl vom aktuellen Zustand des informationsverarbeitenden Systems als auch von spezifischen Vorerfahrungen und den daraus erwachsenden Bewertungsmustern ab. Biologische Systeme selektieren damit nicht nur ihre Kontrollparameter (das tun teilweise auch physikalische Systeme, indem z. B. Laser nicht auf thermische Erhitzung reagiert, sehr wohl aber auf elektrische Spannung oder Lichtimpulse), sie haben auch die Fähigkeit zu lernen: Ordnungszustände lassen, auch wenn sie sich wieder auflösen und sich andere Muster bilden, das System nicht mehr im gleichen Zustand zurück. Einmal entstandene Ordner werden leichter wieder hergestellt und verändern damit die Auftrittswahrscheinlichkeit anderer Ordner. Auf der Ebene der Neuronen findet hierbei eine nutzungsabhängige Funktionsmodulation von synaptischen und intrazellulären Prozessen statt, was zur bekannten „neuronalen Plastizität“ führt (vgl. Schiepek et al. 2013).

In mehreren Texten beschreibt Schiepek die neuronale Selbstorganisation des Selbst bzw. der Persönlichkeit (z. B. Schiepek 2006, 2007) und betrachtet die Synergetik als moderne, naturwissenschaftlich Fundierung einer schulenübergreifenden Psychotherapie. Noch umfassender formuliert Jürgen Kriz auf synergetischer Grundlage die „Personzentrierte Systemtheorie“, in der er neben der psychischen und interpersonellen auch die körperliche und kulturelle Prozessebene beschreibt, da Einflüsse aus kulturellen und körperlichen Prozessen das psychische und interaktionelle Geschehen in jedem Augenblick mitgestalten (vgl. Kriz 2017, S. 13).

Durch Bezugnahme auf das Konzept der States of Mind (Horowitz 1987), die als affektiv-kognitive Verarbeitungs- oder Erlebniszustände begriffen werden, ist darüber hinaus auch eine qualitative Erfassung dieser Muster, die zu einem bestimmten Zeitpunkt das Fühlen, Denken und Handeln einer Person zu einem kohärenten Ganzen organisieren, möglich. „States sind als (Quasi‑)Attraktoren interpretierbar, welche ‚Anziehungskraft‘ auf das Prozessieren des psychischen Systems ausüben. Sie bilden Bereiche des bio-psycho-sozialen Geschehens, in denen sich bestimmte Empfindungs‑, Denk- und Handlungsweisen mit erhöhter Wahrscheinlichkeit konstellieren und zu kohärenten Mustern verdichten“ (Schiepek 2006, S. 10). Emotionen und Motive haben dabei eine stark synchronisationsfördernde Wirkung. Die Parallelen zum weit verbreiteten Schemabegriff sind unübersehbar. Auf der praktisch- interventionellen Ebene wurde die Arbeit mit Ego-States bereits in die systemische Therapie integriert (vgl. Dietrich 2016).

Diese qualitative Erfassung von States of Mind und deren Veränderung im therapeutischen Prozess wurde bislang seitens Synergetik nur als idiographisches Verfahren für die Darstellung individueller intrapsychischer und kommunikativer Muster genutzt (vgl. Beirle und Schiepek 2002). Die Bezugnahme auf etablierte Konzepte für die systematische Erfassung psychopathologischer Auffälligkeiten wie z. B. strukturelle Defizite ist bislang nicht erfolgt. Das anfänglich beschriebene Fehlen von klinisch relevanten Modellbildungen für dysfunktionale psychische Prozesse besteht also weiter.

Klinische Theorien

Dieses Fehlen von differenzierten Konzepten für psychische Prozesse ist vor allem deshalb problematisch, weil sich die Praxis systemischer Therapie geändert hat. Während Kurt Ludewig in Zusammenhang mit der Nicht-Instruierbarkeit psychischer Systeme konsequenterweise „bescheidenes Intervenieren“ gefordert hat (Ludewig 1987), nützen systemische Therapeut:innen heute zunehmend auch erlebnisorientierte und affektaktualisierende Interventionen wie Teilearbeit, die Arbeit mit Bodenankern, Aufstellungselemente, Ego-States, etc. Wenn damit das „minimal invasive“ Vorgehen konstruktivistischer, lösungs-, ziel- und ressourcenorientierter Therapie verlassen und absichtsvoll zu einer Aktualisierung von schmerzhaften Gefühlen und leidvollen Aspekten der Biographie beigetragen wird, sollte dies auf der Basis einer differenzierten Erfassung psychischer Prozesse erfolgen. Die black-box Metapher für die Psyche und die Denkfigur der Nicht-Instruierbarkeit sind hier nur begrenzt hilfreich. In anderen Publikationen (Wagner 2010, 2019, 2020; Wagner und Russinger 2016; Wagner et al. 2023) war es mir daher eine Anliegen, eine mit systemtheoretischen Prämissen kompatible Konzeptualisierung psychischer Prozesse anzubieten. Durch Bezugnahme aus Luc Ciompis „Fühl-Denk-Verhaltensprogramme“ ist dies in einer synergetischen Perspektive möglich.

Aus meiner Sicht sollte die für Systemische Therapie typische erkenntniskritische Haltung nicht als ein Dogma missverstanden werden, keinerlei Konzepte für intrapsychische Prozesse für die Hypothesenbildung zu verwenden. Eine konkrete Erfassung des Funktionsnvieaus der Persönlichkeit, wie im ICD-11 gefordert, das Erkennen struktureller Defizite oder anderer psychopathologischer Phänomene kann für ein verantwortungsvolles therapeutisches Handeln hilfreich, wenn nicht sogar nötig sein. Insofern wäre es aus meiner Sicht wünschenswert, wenn auch in der systemischen Therapie psychopathologische Landkarten erarbeitet werden, die den Praktiker:innen Orientierung geben. „The map is not the territory“ heißt ja nicht, dass die Nutzung von Landkarten verboten ist. In einer synergetischen Perspektive ist es möglich, dysfunktionale Muster der intrapsychischen Selbstorganisation zu beschreiben, diese mit klinischen Symptomen in Zusammenhang zu bringen und in konkreten Therapieprozessen zu thematisieren, damit diese auch in der Kokonstruktion des Therapieauftrages berücksichtigt werden können.

An dieser Stelle sei noch darauf hingewiesen, dass auch Luhmanns Systemtheorie nicht für sich in Anspruch nimmt, eine naturalistische Abbildung der Realität zu liefern, sondern ein nützliches theoretisches Konzept v. a. für die Analyse sozialer Systeme bieten soll. Es muss daher differenziert überprüft werden, für welche Phänomene und Ordnungsleistungen diese Konzeptualisierung im Bereich der Psychotherapie nützlich ist und für welche nicht. In der Kontroverse zwischen Kriz und Simon kamen die beiden zu der Einschätzung, dass das Autopoiese-Konzept die ideale theoretische Grundlage für die Arbeit mit größeren Systemen wie Teams oder Organisationen ist, während in „personalen“ Systemen wie Einzel‑, Paar- und Familientherapie eine synergetische Perspektive überlegen sei. Vor allem bleibt zu bedenken, dass die Luhmann’sche Systemtheorie als eine Theorie der Beobachtung 2. Ordnung eine Metatheorie darstellt und damit nicht für sich in Anspruch nimmt, nützliche Theorien 1. Ordnung (also z. B. psychologische Theorien) zu ersetzen. Insofern kann man diese beiden Metatheorien auch in einem Ergänzungsverhältnis sehen. Wenn wir mit Einstein davon ausgehen, dass „die Theorie bestimmt, was wir beobachten können“, ist der absichtsvolle Zugriff auf verschiedene Theorien nicht nur vertretbar sondern sogar sinnvoll. Diese erkenntiskritische Position sollte daher auch in der Ausbildung vermittelt werden.

Systemische Therapeut:innen sind nicht nur Expert:innen für die Gestaltung von Veränderungsprozessen und erfahren im Umgang mit psychosozialen Problemkonstellationen. Zu ihrer Professionalität sollte auch gehören, dass sie sich auf hilfreiche Modelle für intrapsychische Funktionen beziehen können, welche die Prozess-Steuerung und die Beziehungsgestaltung „informieren“. Dabei können auch Konzepte aus anderen Disziplinen (der Psychologie, der Psychoanalyse oder der Phänomenologie, siehe Niel-Dolzer in diesem Heft) genützt werden, wenn dabei die therapeutische Haltung und die erkenntniskritische Position, wie sie für die systemische Therapie bestimmend ist, nicht aufgegeben werden. Allerdings würde viel dafür sprechen, dass diese Theoriebezüge auch in die Standardlehrbücher für Systemische Therapie aufgenommen werden, um zu verhindern, dass von Praktiker:innen auf unreflektierte Alltagstheorien über psychische Prozesse zurückgegriffen wird.

Fazit

Auf der Basis zweier Metatheorien – der soziologischen Systemtheorie und der Synergetik – und ergänzt um ein systemtheoretisch formuliertes Verständnis des Mentalen, das auch die Erfassung therapierelevanter dysfunktionaler psychischer Prozesse erlaubt, können systemische Therapeut:innen fallbezogen die verschiedenen Herangehensweisen, die sich innerhalb der systemischen Therapie entwickelt haben, nützen. Sie können ein lösungsorientiertes, ein narratives, strategisches, strukturelles oder hypnosystemisches Vorgehen wählen und dabei jeden Fall entsprechend der eingenommenen Perspektive reflektieren. Sie können diese Entscheidungen theoretisch begründen oder zumindest plausibilisieren. Die Wahl der konkreten therapeutischen Vorgehensweise ist dabei weder beliebig noch zwingend. Es geht nicht darum, das „einzig richtige“ therapeutische Vorgehen zu finden, sondern darum, sich in der Reflexion des therapeutischen Tuns seiner therapeutischen Absichten und der erwarteten Wirkung bewusst zu sein. In Kooperation mit den Klient:innen wird erarbeitet, was die Therapie bewirken soll, die Verantwortung für die Prozess-Steuerung liegt aber bei den Therapeut:innen. Absichtsvoller Zugriff auf Theorien erster und zweiter Ordnung kann die systematische Reflexion von therapeutischen Prozessen anreichern und vor erratischem Interventionieren schützen.