Der Wandel im Verständnis von „Verhaltenstherapie“

Das Verständnis dessen, was „Verhaltenstherapie“ heute ist, hat sich wesentlich verändert. Die Verhaltenstherapie zählt zweifellos zu den – historisch und wissenschaftlich betrachtet – fundamentalen Psychotherapietraditionen (Margraf 2018). Allerdings: Das heute weit gefächerte Spektrum verhaltenstheoretischer Therapieansätze hat eine durchaus bewegte Geschichte hinter sich. Die vielen inzwischen etablierten theoretischen und praktischen Ansätze wie z. B. Kognitiv-Behaviorale Therapie (CBT)/Kognitive Therapie/Verhaltensmodifikation/Rational-Emotive Therapie (RET)/Multimodale Therapie/Breitband-Verhaltenstherapie/Interpersonelle Verhaltenstherapie/Behaviorale Familientherapie/Interaktionelle Verhaltenstherapie/Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT)/Verhaltensmedizin und Biofeedback/Erfahrungswissenschaftlich-Integrative Psychotherapie oder Psychologische Psychotherapie/Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT)/Achtsamkeitsorientierte Kognitive Therapie (MBCT)/Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy (CBASP)/Achtsamkeitsorientierte Körper-Verhaltenstherapie/Schematherapie/Weisheitstherapie u. a. ergeben längst kein einheitliches „Schulengebäude“ mehr. Und dennoch verbindet alle „verhaltenstheoretischen“ Konzepte die Forderung nach empirisch-wissenschaftlicher Überprüfung ihrer Vorgehensweisen und Wirkelemente. Für die verschiedenen theoretischen Ansätze bzw. praktischen Behandlungskonzeptionen bietet das epochale bio-psycho-soziale Modell von Gesundheit (bzw. Krankheit) eine metatheoretische Integration (vgl. Egger 2017; WGPM o.J.). Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte weist – wissenschaftstheoretisch logisch – überwiegend in Richtung einer weitgehend schulenoffenen Psychologischen Psychotherapie.

Es waren gewichtige Entwicklungsprozesse („Wellen“ mit weitreichenden theoretischen wie praktischen Auseinandersetzungen und Veränderungen) bis aus der ursprünglich streng empirischen Konzeption die unter der heutigen Sammelbezeichnung „Verhaltenstherapie“ firmierenden therapeutischen Ansätze entwickelt wurden. Sukzessive wurden die jeweils aktuellen Ergebnisse der Kognitions- und Emotionsforschung, aber auch der zwischenmenschlichen Kommunikation in ein immer komplexer werdendes Theoriekonzept eingearbeitet. Nimmt man alle jene Therapieformen zusammen, die aktuell der kognitiv-behavioralen Richtung zuzuordnen sind, gilt diese Therapierichtung laut empirischer Psychotherapieforschung als die zurzeit relativ effektivste Behandlungsform innerhalb gesundheitsmedizinischer Anwendungsbereiche (vgl. Egger 2015; Grawe 1998). Die prinzipiell in Psychotherapien nachgewiesenen Wirkfaktoren sind in Abb. 1 zusammengefasst. Hier lassen sich auch die unterschiedlichen Schwerpunkte der einzelnen psychotherapeutischen Orientierungen erkennen.

Abb. 1
figure 1

Wirkfaktoren in Psychologischen Therapien. Der Behandlungsfokus kann dabei primär auf einem intrapersonellen Ansatz liegen (die Therapie richtet sich an Patient:in) oder auch auf einem interpersonellen Ansatz (die Therapie richtet sich an ein Paar, eine Familie oder Gruppe). (Modifiziert nach Grawe et al. 1994)

Im Übrigen weist die Gruppe der Verhaltenstheoretischen Psychotherapien eine gute Passform mit einer Reihe anderer therapeutischer Ansätze auf, da ihr theoretischer Überbau mit seiner bio-psycho-sozialen Fundierung ein enorm integratives Potenzial besitzt. Diese metatheoretische Konzeption wird u. a. auch gestützt von Ansätzen der Kognitions- und Emotionspsychologie, der Handlungstheorien, von Konzepten der Sozial- und Kommunikationswissenschaften, der Neurobiologie, Humanmedizin und Evolutionstheorie – ein Rahmen, der die Aufnahme weiterer Ansätze jederzeit ermöglicht, sofern die Grundbedingungen der empirischen Überprüfbarkeit und wissenschaftlichen Stichhaltigkeit erfüllt sind. Es ist diese Orientierung, die zu einer steten Entwicklung und Veränderung des verhaltenstherapeutischen Spektrums geführt hat und auch weiterhin führen wird.

Grundprinzipien der aktuellen „Verhaltenstherapie“

Die „Verhaltenstherapie“ von heute vertritt ein ganzheitliches Bild des Menschen. Der Mensch wird als ein Wesen gesehen, das Fähigkeiten und Fertigkeiten besitzt, aus seinen vielfältigen Erfahrungen Nutzen zu ziehen, um sowohl seine Innenwelt wie auch seine Umwelt aktiv zu gestalten, wohl wissend, dass er selbst von dieser Umwelt beeinflusst wird. Im Gegensatz zur Psychoanalyse, die in Analogie zum traditionellen medizinischen Krankheitsmodell davon ausgeht, dass das direkt erfassbare Symptom nur Ausdruck einer tieferliegenden Störung (eines unbewussten Konflikts) ist, stellt sich für die Verhaltenstherapie das „Symptom“ (das Sichtbare, Augenscheinliche, Erkennbare bzw. Erlebbare) selbst als Teil des Problems dar (Margraf 2018). Daher steht hier eine umfassende, mehrdimensionale „Problemanalyse“ am Beginn der Behandlung. Jedes Verhalten (ob als „gesund“ oder als „Störung“ betrachtet) ist eng mit den inneren und äußeren Lebenswelten verknüpft, sodass es gilt, die jeweils individuelle Denk- und Gefühlswelt sowie die konkreten Lebensbedingungen – bis hin zum Kulturkreis – des Hilfe suchenden Menschen zu erfassen (vgl. Roediger 2016; Young et al. 2005).

Mit der Konzeption als „Integrative Verhaltenstherapie“ soll ausgedrückt werden, dass prinzipiell alle bekannten empirisch nachweisbaren Wirkprinzipien der Psychotherapie berücksichtigt werden, wenngleich nicht in jedem therapeutischen Fall in gleicher Ausprägung, da dies von Art und Ausmaß der Störung abhängig ist. Die Tendenz zur Erforschung bisher noch nicht ausreichend genutzter, aber von der vergleichenden Psychotherapieforschung ausgewiesenen Wirkfaktoren hat im Laufe der letzten Jahrzehnte zu einer dramatischen Verbreiterung der Behandlungsansätze geführt. Das Motto dieser therapeutischen Herangehensweise könnte als „Heilen durch Einsicht und Erfahrung“ beschrieben werden: Erkennen und (aktive) Veränderung werden als zusammengehörende Teile einer Problemlösung gesehen (vgl. Zarbock 2010; Linden und Hautzinger 2015).

Typisch für die konkrete Arbeit ist die systematische Problemanalyse und das gezielte therapeutische Vorgehen. Geprägt durch die bio-psycho-soziale Forschung und die erfahrungswissenschaftliche Ausrichtung wird besonderer Wert auf ein geplantes therapeutisches Procedere gelegt, welches sowohl Einsicht vermittelnde als auch übende Behandlungselemente umfasst. Die Patient:innen sind aktiv und verantwortlich an ihren Änderungsprozessen beteiligt, die Therapeut:innen fördern das Selbsthilfepotential der Patient:innen (vgl. Kanfer und Schmelzer 2006; Kanfer et al. 2012):

Die Verhaltenstherapie ist in ihrem praktischen Vorgehen

  • problemorientiert,

  • zielorientiert,

  • aktionsorientiert,

  • sie nutzt auch unkonventionelle, aber erprobte effiziente Änderungstechniken,

  • transparent und

  • Hilfe zur Selbsthilfe vermittelnd.

Der Begriff „Verhaltenstherapie“ führt insofern in die Irre, da er das Augenmerk ausschließlich auf das Verhalten (Handeln) lenkt. In der aktuellen Verhaltenstherapie steht aber die Untersuchung des beobachtbaren Verhaltens gleichrangig neben der Betrachtung von Gedanken, Gefühlen und körperlichen Prozessen. Die „Verhaltensanalyse“ mag zur Veranschaulichung des mehrdimensionalen diagnostischen Vorgehens und als Beispiel für die der Beschreibung eines bestimmten „Verhaltens in einer Situation“ beitragen (Linden und Hautzinger 2015; Schermer et al. 2006; s. a. dgvt o.J. oder oegvt o.J.).

Am Beginn der Therapie wird auf das Problem der Patient:innen eingegangen, das unerwünschte Verhalten wird detailliert und auf mehreren Ebenen (handlungsmäßig, gedanklich, gefühlsmäßig, körperlich) erhoben. Diese Eingangsphase steht zugleich im Dienste einer komplementären Beziehungsgestaltung, in welcher Vertrauen und Kooperationsbereitschaft aufgebaut werden sollen. Die Therapeut:innen beziehen nicht nur den biografischen Hintergrund der beklagten Symptomatik, sondern auch die persönliche Entwicklungsgeschichte und die konkreten (bio-psycho-sozialen) Lebensbedingungen mit in die Therapieplanung ein. Dazu sind in den letzten Jahrzehnten ausführliche Prozessformen entwickelt worden, z. B. im Rahmen der Kognitiven Therapie bzw. Plananalyse, der Grundbedürfnisbefriedigung sensu Grawe oder der Schematherapie.

Natürlich werden zuerst die beklagten Probleme erfasst, aber in der Folge werden auch die Ressourcen und Stärken der Patient:innen und des individuellen Umfeldes miterhoben. Es wird gemeinsam herausgearbeitet, welche Änderung am dringlichsten erscheint und zugleich die größte Motivation auf Seiten der Patient:innen aufweist und mit welchen Methoden dies am effektivsten erreicht werden kann (Reinecker 2009).

Für die therapeutische Behandlung selbst sind drei „Fragen“ besonders wichtig (Fliegel et al. 1998):

  • Was ist das zu verändernde Verhalten? (Dimensionen des Verhaltens: Gedanken, Gefühle, Handeln, physiologische Körperreaktionen)

  • Was sind die Bedingungen, die dieses Verhalten aufrechterhalten? (interne und externe Faktoren)

  • Wodurch wird eine Veränderung des unerwünschten Verhaltens am effektivsten erreicht? (individuelle Kompetenzen und wissenschaftliche Evidenz)

Als Basisvoraussetzungen für jegliche therapeutische Veränderung gelten folgende 3 Aspekte:

  1. (1)

    „WISSEN“ … Verständnis, Problemeinsicht, Wissen um alternative Verhaltensmöglichkeiten (im Denken und Handeln)

  2. (2)

    „KÖNNEN“ … Vorliegen der entsprechenden Verhaltenskompetenz, die erwünschte Handlungsmöglichkeit muss im Verhaltensrepertoire des Menschen vorhanden sein bzw. aufgebaut werden

  3. (3)

    „WOLLEN“ … subjektive „gute Gründe“ (Motivation) für bestimmtes Verhalten

Für jegliche Problemlösung – im Sinne einer therapeutisch induzierten Veränderung – braucht es also drei Grundbedingungen: (1) Wissen: Ich muss wissen, wie mein Problem zu verstehen ist und ob es alternative Verhaltensmöglichkeiten gibt (z.B. „Kann ich das Problem primär durch eine konkrete Aktion verändern oder führt eher eine Einstellungsänderung zu einer Verbesserung?“). (2) Können: Ich muss über die Kompetenz verfügen, um die Veränderung durchzuführen („Habe ich ausreichende Fähigkeiten oder Fertigkeiten, das Problem – auf gedanklicher, gefühlsmäßiger, körperlicher und/oder auf der Handlungsebene – anzugehen?“). (3) Wollen: Ich muss ausreichend motiviert sein, um die Veränderung des Problems anzugehen und diese zum Erfolg führen zu können („Reicht mein Wille aus, die erforderlichen Schritte zur Veränderung zu verwirklichen?“; Kanfer et al. 2012).

Die Einbettung der Integrativen Verhaltenstherapie in das erweiterte biopsychosoziale Modell von Krankheit bzw. Gesundheit lässt erkennen, warum diese auch gut mit dem biomedizinischen Ansatz kombinierbar ist. Die naturwissenschaftliche Medizin erscheint nämlich als reduktionistischer Ansatz innerhalb des größeren biopsychosozialen Rahmens, sodass eine Verbindung zur psychologischen Datenebene jederzeit möglich ist, wenn dies gewünscht oder aufgrund der wissenschaftlichen Fakten notwendig erscheint. Dabei müssen die „Organmediziner:innen“ keine „andere Medizin“ (eine „Psycho-Welt“ ohne direkte Verbindung zu der ihnen vertrauten physischen Wirklichkeit) akzeptieren, sondern vielmehr eine dimensionale Erweiterung ihres medizinischen Ansatzes. Die Neurowissenschaften stellen hier eine hervorragende Brücke zwischen den somatischen und psychologischen Phänomenen her (Egger 2017, 2020).

Die Integrative Verhaltenstherapie ist prinzipiell systemisch zu verstehen, da es kein „Verhalten“ gibt, das nicht durch das entsprechende Milieu mitgesteuert wird – einerlei ob es sich um

  • körperliche Reaktionen mit ihren physiologischen Milieubedingungen handelt oder um

  • Gedanken mit ihren im kognitiven Wissensspeicher abgelegten Erfahrungen oder um

  • Gefühle mit ihren darin gespeicherten (nichtbewussten) individuellen wie evolutionären „Welterfahrungen“ oder um

  • Handlungen, die sich auf konkrete äußere oder innere Erlebnissituationen beziehen.

Für die praktische Handhabung dieses auf dem bio-psycho-sozialen Modell basierenden Prinzips einer ganzheitlichen Betrachtung menschlichen Verhaltens in Gesundheit und Krankheit mag Abb. 2 hilfreich sein (Egger 2015).

Abb. 2
figure 2

Idealtypisches Ablaufschema für den therapeutischen Prozess in der aktuellen Verhaltenstherapie. Anmerkung: Sollten sich an einem beliebigen Punkt nicht lösbare therapeutische Ereignisse ergeben, so muss auf die jeweils vorgeschalteten Stufen zurückgegangen werden, und von dort aus ein neuer therapeutischer Ansatz erarbeitet werden (vgl. Egger 2015)

Die integrative Perspektive

Die meisten verhaltenstheoretischen Ansätze unterstützen per definitionem die aktuelle Entwicklung in der wissenschaftlichen Psychotherapie zu einer sog. integrativen Perspektive. Über eine primär empirisch vorgehende Wirksamkeitsforschung sollen die nachweisbaren effektiven Konzepte auf einer weitgespannten bio-psycho-sozialen Grundlage zu synoptischen Ansätzen aufbereitet werden. Das sehr engagierte Ziel besteht in der Entwicklung einer allgemeinen theoretischen Plattform für Psychotherapie, die durch eine gute metatheoretische Fundierung einen unerwünschten Eklektizismus vermeidet. Durch die Nutzung weiterreichender Wissensbereiche und aktueller Forschungsergebnisse (wie z. B. aus den Bereichen evolutionspsychologischer und neurobiologischer Erkenntnisse) erwachsen ernstzunehmende Versuche zur Überwindung des „Schulendenkens“ der herkömmlichen Psychotherapie (vgl. „Allgemeine Psychotherapie“ sensu Orlinsky, „Psychologische Therapie“ und „Neuropsychotherapie“ sensu Grawe, „Integrative Therapie“ sensu Petzold u. a.; s. dazu z. B. Egger 2015, 2022; Grawe et al. 1994; Grawe 1998).