Einleitung

Beziehungserfahrungen mit den primären Bezugspersonen prägen einen Menschen bis ins hohe Erwachsenenalter. Sie bedingen nicht nur die Qualität der späteren Beziehungen, sondern auch die Fähigkeit, mit eigenen Gefühlen und Bedürfnissen umzugehen, diese wahrzunehmen, zu regulieren und in emotionalen Belastungssituationen Unterstützung anzunehmen. Das Bedürfnis nach Bindung bezeichnet den Wunsch nach stabilen und verlässlichen emotionalen Beziehungen zu Personen, die in Krisensituationen Schutz und Unterstützung zur Verfügung stellen (Bowlby 1980). Als Begründer der Bindungstheorie beschäftigte sich John Bowlby (1969/1982) in seinen Arbeiten über Jahrzehnte mit diesem spezifischen Bedürfnis nach Fürsorge und Verbundenheit und dessen Relevanz für die seelische Gesundheit eines Menschen. Auf Basis der frühsten Erfahrungen von emotionaler Zuwendung, der Qualität und Zuverlässigkeit von Fürsorge und dem Umgang mit Gefühlen entstehen innere Arbeitsmodelle von Bindungsrepräsentationen, die Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Verhalten und im Erwachsenenalter den Sprachgebrauch im Zusammenhang mit Bindungserfahrungen steuern (Bretherton und Munholland 2008; Buchheim und George 2012).

Bindungsdiagnostik: Erfassen unbewusster Arbeitsmodelle

Basierend auf den frühen Bindungserfahrungen entstehen unbewusste mentale Repräsentationen, die das Denken und Verhalten eines Menschen steuern. Da diese Strukturen dem Bewusstsein nicht vollständig zugänglich sind, ist deren Erfassung nur anhand von Verhaltens- und Sprachmanifestationen möglich, die wiederum Rückschlüsse auf die dahinerstehenden mentalen Operationen zulassen: Macht ein Kind beispielsweise wiederholt und über einen längeren Zeitraum die Erfahrung, dass eine Bezugsperson auf dessen emotionale Bedürfnisse nicht eingeht, sich stattdessen abwendet oder gar abweisend, belächelnd oder entwertend reagiert, wird diese Reaktion antizipierbar und führt zu automatisierten Verhaltensweisen: Um sich vor den erwartbaren emotionalen Frustrationen der Zurückweisung zu schützen, bildet ein Kind einen scheinbar bedürfnislosen, abgewandten Handlungsstil dieser Bezugsperson gegenüber aus, was später zu automatisierten Verhaltensweisen in vergleichbaren Beziehungssituationen führt. Die beobachtbaren Verhaltensweisen sind folglich als Ausdruck der Verarbeitung und Repräsentation spezifischer repetitiver Bindungserfahrungen zu verstehen. Zur Erfassung von Bindungsrepräsentationen bei Kindern wurde von Mary Ainsworth (Ainsworth et al. 1978) der „Fremde Situationstest“ entwickelt, bei dem Kleinkinder einer kurzen Trennung von ihren Bezugspersonen ausgesetzt, und ihre Reaktionen bei deren Wiederkehr beobachtet werden. Dabei lassen sich bei den Kindern spezifische Verhaltensweisen erkennen, die systematisiert und klassifiziert werden können und eindeutige Hinweise auf darunterliegende Bindungsrepräsentationen und den Grad der Bindungssicherheit geben. Kinder, die sich nach einer kurzen Trennung von ihrer Bezugsperson rasch trösten lassen und sich wieder ihrem Spiel zuwenden (sichere Bindung); Kinder, die die Bezugsperson nach Wiedervereinigung ignorieren und Vermeidungsreaktionen zeigen (unsicher-vermeidende Bindung); Kinder, die sich nicht beruhigen lassen und mit Wut und exzessivem Weinen reagieren (unsicher-ambivalente Bindung); und Kinder, die ängstliche, ziellose, aggressive oder stereotype Verhaltensweisen zeigen (desorganisierte Bindung). Anhand einer Analyse dieser spezifischen Verhaltensweisen kann so die kindliche Bindungskategorie bestimmt werden (Ainsworth et al. 1978). Diese bis heute vielfach untersuchten Bindungskategorien haben sich als über die Lebenszeit stabil und von hoher prädiktiver Qualität für psychische Gesundheit erwiesen (Hamilton 2000; Hesse 2016).

Im Laufe der Entwicklung eines Menschen bilden sich fortschreitend komplexere, sprachbasierte mentale Strukturen aus, durch die ein psychischer Binnenraum entstehen kann, Erfahrungen verarbeitet, Affekte gehalten, Verhalten gesteuert, und Narrative entwickelt werden können. Die Ausreifung einer spezifischen Abwehrstruktur bedingt diese Prozesse dabei maßgeblich: Abwehrmechanismen sind unbewusste mentale Operationen, die dazu dienen, unangenehme emotionale Erfahrungen aus dem Bewusstsein fernzuhalten und so maßgeblich deren Verarbeitung und die Reaktion darauf beeinflussen. Beispielhafte Mechanismen sind Verdrängung, Idealisierung, Entwertung, Affektabspaltung oder Rationalisierung, die dabei helfen, Erlebnisse gefühlsneutralisiert oder in einer verträglicheren Weise zu verarbeiten (Perry und Bond 2017). Die spezifische Beschaffenheit der Abwehrstruktur bedingt dabei maßgeblich, wie Bindungserfahrungen im psychischen Binnenraum repräsentiert werden, Gefühle wahrgenommen, und in Beziehungen reflektiert werden können (Mikulincer et al. 2009).

Diese mentale Reifung erfordert folglich auch eine andere Methode der Erfassung der zugrundeliegenden Bindungsrepräsentationen: Anstelle der Beobachtung der Interaktion mit Fürsorgepersonen (da diese als solche entweder keine lebenspraktische Relevanz mehr haben oder aber das Verhalten durch Anpassungsprozesse sozial erwünscht übersteuert ist) kann nun das Narrativ über diese Beziehungen relevante Hinweise über den zugrundeliegenden Verarbeitungsmodus geben. Zum Beispiel können anstelle von abweisenden Verhaltensweisen spezifische deaktivierende sprachliche Prozesse im Narrativ über Bindungsbeziehungen gefunden werden, die Rückschlüsse auf zugrundeliegende Bindungsrepräsentationen und Abwehr von frühen Beziehungserfahrungen zulassen. Eine ausführliche Beschreibung der Bindungskategorien bei Erwachsenen wird in den klinischen Fallbeispielen weiter unten gegeben.

Die Idee, Bindungsrepräsentationen anhand von linguistischen Analysen des Narrativs über Bindungserfahrungen zu messen, entstand auf Basis einer umfangreichen empirischen Auswertung von beobachteten sprachlichen Häufungen in Elterninterviews gemessen mit dem Adult Attachment Interview (AAI; George et al. 1985; Main und Goldwyn 1995, 1996; Main et al. 1985). Viele Studien konnten empirisch zeigen, dass aus der Analyse des Narrativs von Eltern über deren eigene Bindungserfahrungen die Bindungssicherheit ihrer Kinder vorhergesagt werden konnte (Fonagy et al. 1991; Steele et al. 1996; Van Ijzendoorn 1995; Waters et al. 2000). Das AAI und dessen valides Kodier- und Klassifikationsschema zur Diagnostik von unbewussten Bindungsrepräsentationen und zur Klassifikation von Bindungskategorien bei Erwachsenen wurde in Folge entwickelt und erfordert ein umfangreiches Reliabilitätstraining, um die Auswertung und Klassifikation vornehmen zu können (Buchheim und George 2012; Hesse 2016).

Das Adult Attachment Interview

Das Adult Attachment Interview (AAI; George et al. 1985) ist ein semi-strukturiertes Leitfadeninterview, das anhand einer Kombination von Skalen zum erinnerten elterlichen Fürsorgeverhalten und den Skalen zur dessen mentaler Verarbeitung die Klassifikation von Bindungsrepräsentationen bei Erwachsenen ermöglicht (Hesse 2016). Mit besonderem Augenmerk auf der Beschreibung bindungsrelevanter Situationen werden zunächst erinnerte Erlebnisse aus der Kindheit mit den frühen Bezugspersonen abgefragt. Neben einer kurzen Anamnese wird detailliert nach Erinnerungen zum Umgang der Eltern mit Trennungen, Krankheit, Verletzungen oder schwierigen Gefühlen des Kindes gefragt. Auch werden Formen der Bestrafung, Missbrauchserfahrungen, relevante Verluste und Beziehungen zu anderen wichtigen Bezugspersonen abgefragt. Zuletzt wird ein Transfer zu den aktuellen Elternbeziehungen und zum Umgang mit Ängsten bezogen auf die eigenen (ggf. imaginierten) Kinder erfragt. Die Erinnerungen des elterlichen Fürsorgeverhaltens werden dann in einem ersten Schritt auf den Skalen Liebevolles Verhalten, Zurückweisung, Vernachlässigung, Leistungsdruck, Rollenumkehr und Missbrauch bewertet.

Für die Analyse der unbewussten Prozesse nutzt das AAI darüber hinaus emotional aktivierende Elemente, um anhand von bestimmten Fragetechniken das Bindungssystem zu aktivieren und unter Stress zu setzen und damit mögliche unbewusste Abwehrreaktionen zu provozieren (Buchheim und George 2012). Diese zeigen sich dann in spezifischen verbalen Manifestationen im Narrativ über die erfragten Bindungserfahrungen, die das Ziel der im zweiten Schritt folgenden linguistischen Analyse darstellen. Eine besonders prominente Frage des AAI ist die Frage nach der spontanen Auflistung von fünf Adjektiven, mit denen die Interviewten ihre frühen Beziehungen zu Mutter und Vater zunächst beschreiben, und diese dann durch konkrete Erlebnisse und Erinnerungen belegen sollen. In der Analyse wird neben der inhaltlichen Klassifikation auf den Skalen zum Erinnerten Elterlichen Fürsorgeverhalten (s. oben) der mentale Verarbeitungsgrad des Narrativs anhand spezifischer Meta-Skalen ausgewertet: Erinnerungsblockaden, Idealisierung und Entwertungen, emotional aufgeladene (Ärger) oder vage Beschreibungen (Passivität), das Fehlen von oder unangemessen detailreiches zur Verfügung Stellen von Beispielen, die metakognitive Reflektion dieser Erfahrungen und die Kohärenz des Narrativs geben Hinweise auf die Repräsentation und den Grad der Integration der frühen Bindungserfahrungen. Weiterhin werden Verarbeitungsprozesse von Erfahrungen von traumatischen Erlebnissen oder Verlusten kodiert. Diese Analysekriterien (Main und Goldwyn 1996) haben sich in einer Fülle von empirischen Studien als replizierbar (reliabel) und inhaltlich zutreffend (valide) erwiesen (Buchheim 2018b; Buchheim und George 2012; Hesse 2016). Die einzelnen Marker für jede Bindungskategorie werden weiter unten anhand von klinischen Beispielen dargestellt. In Abb. 1 sind die prototypischen Auffälligkeiten auf den Skalen des AAI und die daraus resultierenden Bindungskategorien dargestellt.

Abb. 1
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Skalen und Bindungskategorien des AAI

Sprachliche Kommunikationsmaxime nach Grice

Die Analyse und Auswertung des Adult Attachment Interviews legt nach Main und Goldwyn (1996) die Kohärenz des Narrativs als entscheidendes Maß der Bindungssicherheit fest. Die Kohärenz des Narrativs wird auf Basis der von Grice (1975) festgelegten vier Kommunikationsmaxime bewertet, anhand derer beurteilt wird, inwiefern ein(e) Sprecher*in bereitwillig und kooperativ auf die Fragen im Interview antworten kann. Analysiert wird, inwiefern eine Antwort wahrheitsgemäß (vs. Idealisierungen, Globalisierungen, Verleugnungen, Beschönigungen), angemessen informativ (vs. Insistieren auf Erinnerungslücken, Aussparen emotionaler Inhalte, stark reduzierte Darstellungen) relevant (vs. Weitschweifigkeit, Themensprünge, irrelevante Details und Exkurse) und verständlich (vs. Satzabrisse, Fantasiewörter, fehlerhaft Analogien, Zeitsprünge) die Kindheitserfahrungen reflektiert. Spezifische Verstöße gegen die Maxime von Grice lassen sich als Determinanten bestimmter Bindungskategorien feststellen (Tab. 1).

Tab. 1 Kommunikationsmaxime nach Grice (nach Hesse 2016)

Die Bewertung der Kohärenz des Narrativs, die spezifische Klassifikation von Abwehrmechanismen und der Grad der emotionalen Aktivierung und Flexibilität erfolgt transkriptbasiert in einem umfangreichen Kodier- und Klassifikationsprozess.

Im Folgenden werden Auszüge aus dem Adult Attachment Interview als klinische BeispieleFootnote 1 für spezifische Manifestationen der vier Bindungskategorien dargestellt. Vorab wird jeweils ein Überblick über die Bindungskategorien und deren Verarbeitungsmodi gegeben.

Beispiele aus dem AAI zu den vier Bindungskategorien

Linguistische Marker einer sicheren Bindung

Menschen, die in die sicher-autonome Bindungskategorie fallen, haben in der Regel im Laufe ihrer Kindheit die Erfahrung gemacht, dass Bezugspersonen grundsätzlich fürsorglich, verlässlich und hilfreich sind und negative Erfahrungen und Gefühle einen Raum haben und integriert werden können. Im Erwachsenenalter zeigt sich dies durch ein insgesamt wertschätzendes, wenn auch nicht immer nur positives Gesamtbild der frühen Bindungserfahrungen mit flexiblen Fähigkeiten, emotionale Einflüsse auf die eigene Biografie zu reflektieren und diese als bedeutungsvoll zu bewerten. Im Narrativ des AAI ist ein offener Umgang mit eigenen Verletzlichkeiten, Bedürfnissen, negativen und positiven Erfahrungen uneingeschränkt möglich („fresh flow“). Die Erinnerungen an frühe Bindungserfahrungen sind emotional lebendig, spontan und kohärent und werden durch metakognitive Beschreibungen symbolisiert reflektiert und durch konkrete Erlebnisse belegt (Abb. 2).

Abb. 2
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Klinisches Beispiel und Analyse des Narrativs einer sicheren Bindung

Linguistische Marker einer unsicheren-distanzierten Bindung

Menschen, die in die unsicher-distanzierte Bindungskategorie fallen, haben in der Kindheit in der Regel die Erfahrung gemacht, dass ihre Bindungsbedürfnisse nicht beachtet oder als „Schwächen“ entwertet wurden und stattdessen autonomes Verhalten oder Leistung von den Bezugspersonen emotional verstärkt wurde. Im Dienste der Nähe war es für diese Kinder daher eine hilfreiche Strategie, die unbeliebten Bindungswünsche zu unterdrücken und aus dem Bewusstsein auszuschließen. Die unsicher-distanzierte Bindungskategorie bei Erwachsenen zeichnet sich äquivalent zur unsicher-vermeidenden Bindungsstrategie bei Kindern durch eine rigide Abwehr von negativer Emotionalität, Beziehungsbedürfnissen und Verletzlichkeiten aus, sowie durch die Betonung der eigenen Unabhängigkeit. In den Beschreibungen der vermutlich frustrierenden, abweisenden Elternbeziehungen finden sich oftmals idealisierte Beschreibungen und verallgemeinerte, heuristische Aussagen. Negative Erfahrungen werden weggelassen oder deren Wert für die persönliche Entwicklung betont, was zu inhaltlichen Inkohärenzen führt. Insgesamt ist das Narrativ emotional distanziert, kurz bis unvollständig, und in der Bewertung entweder abwertend oder stark positiv eingefärbt (Abb. 3).

Abb. 3
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Klinisches Beispiel und Analyse des Narrativs einer unsicher-distanzierten Bindung

Linguistische Marker einer unsicher-verstrickten Bindung

Menschen, die in eine unsicher-verstrickte Bindungskategorie klassifiziert werden, berichten gehäuft inkonsistente Bindungserfahrungen mit ihren frühen Bezugspersonen zwischen überschwänglicher Zuwendung und unberechenbarer Vernachlässigung oder Misshandlung. Auch kommt es gehäuft zu einer Rollenumkehr und Parentifizierung zwischen Kindern und Eltern: Nähe und Wärme entstanden nur dann, wenn die Eltern bedürftig waren und das Kind sich dann fürsorglich (dabei eigentlich selbst bedürftig) den Eltern zur Verfügung stellte. Im Narrativ über die Elternbeziehungen zeigt sich dies anhand von sprachlichen Verhaftungen im Kinder-Ich: Der Gebrauch von kindlichen Sprachelementen und gleichzeitig die Verwendung pseudo-erwachsenen „Psycho-Slangs“ sind für diese Bindungskategorie zentrale Marker. Durch Weitschweifigkeit, irrelevante und chaotische, vage Bezüge werden die Beziehungsbeschreibungen inkohärent. Im grammatikalischen Tempus fallen immer wieder Durchbrüche ins Präsens auf, wenn eigentlich über Vergangenes gesprochen wird, insbesondere bei Beschreibungen von Ärger auf die Bezugsperson. Die emotionale Überaktivierung von Wut und Trauer und deren Verstrickung bis ins Erwachsenenalter sind Hinweise auf die wenig metabolisierte Verarbeitung der frühen Bindungserfahrungen und -bedürfnisse. Dies führt auch im Erwachsenenalter zu einem Oszillieren zwischen Bindungsbedürfnissen und damit verbundenen Ängsten und negativen Emotionen und deren Reaktivierung in den erwachsenen Beziehungen (Abb. 4).

Abb. 4
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Klinisches Beispiel und Analyse des Narrativs einer unsicher-verstrickten Bindung

Linguistische Marker von unverarbeiteten Traumata und Verlusten

Menschen, die in die Kategorie unverarbeitetes Trauma/Verlust fallen, berichten von erlebten traumatischen Erfahrungen, die nicht vollständig verarbeitet werden konnten. Zu den potenziellen Traumata zählen massive Gewalt, das andauernde Gefühl von Bedrohung und Hilflosigkeit oder sexueller Missbrauch; zu den Verlusten zählt der plötzliche Tod/unverhoffte Abwesenheit einer wichtigen Bezugsperson. Nicht jede einer solchen traumatischen Erfahrung muss jedoch zu einer Bindungstraumatisierung führen: Maßgeblich ist der Grad der Verarbeitung, was sich im Narrativ über die Ereignisse an dessen Kohärenz und Integration ablesen lässt. Hinweise für unverarbeitete Traumata ist eine desorganisierte Erzählweise mit Sprüngen und Unschärfen in zeitlichen oder räumlichen Abfolgen, einer außergewöhnlichen Aufmerksamkeit auf scheinbar irrelevante Details, das wenig nachvollziehbare Herstellen nichtiger Zusammenhänge sowie eine starke psychologische Reaktion (bis hin zur Dissoziation) beim Erzählen oder ein traumatisch bedingter Erinnerungsverlust (Abb. 5).

Abb. 5
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Klinisches Beispiel und Analyse des Narrativs eines unverarbeiteten Traumas

Wissenschaftliche Befunde zum AAI

Es liegen mehrere Studien vor, die eine befriedigende Reliabilität (82 % bei drei Klassen; κ = 0,71; siehe Hesse 2016) der Bindungsklassifikationen aufzeigen und eine relative Stabilität des Konstrukts belegen. Die Untersuchungen zur diskriminanten Validität zeigten, dass es weder einen Zusammenhang zwischen den Bindungsklassifikationen und allgemeinen Intelligenz- oder Persönlichkeitsmaßen, Temperament, autobiographischen Gedächtnis und anderen Langzeit- und Kurzzeitgedächtnisleistungen gibt, noch Zusammenhänge zu sozialer Erwünschtheit herzustellen sind (Bakermans-Kranenburg und Van IJzendoorn 1993; Sagi et al. 1994). Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Fähigkeit, zum Thema Bindung einen kohärenten Diskurs zu entwickeln, nicht auf allgemeine psychologische Leistungen zurückzuführen ist, sondern ein bindungsspezifischer Marker ist.

In knapp 25 Jahren sind inzwischen weltweit mehr als 200 Studien mit dem AAI veröffentlicht und mehr als 10.500 Interviews durchgeführt worden. Die Autor*innen der ersten Metaanalyse (Bakermans-Kranenburg und van Ijzendoorn 2009) berichteten für gesunde Mütter, Väter, Jugendliche und Studierende in Stichproben aus verschiedenen Kulturkreisen bei dreifacher Klassifikation jeweils zu etwas mehr als der Hälfte „sichere“ Bindungsrepräsentationen. In kombinierten klinischen Stichproben gehörte eine große Mehrheit (73 %) der „unsicheren“ Bindungsrepräsentationen an. Nahm man die Kategorie „unverarbeitetes Trauma“ hinzu (4-fach-Verteilung) ergab sich folgende Verteilung: 23 % distanziert, 21 % sicher, 13 % verstrickt, und 43 % unverarbeitetes Trauma (U). Demnach war die U‑Kategorie in den klinischen Gruppen stark überrepräsentiert. Das Vorliegen eines unverarbeiteten Verlustes oder Traumas im AAI scheint nach den bisherigen Befunden deutlich mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung in Zusammenhang zu stehen (Buchheim und Diamond 2018).

Klinische Relevanz und Therapie

Das Ziel in einer bindungsorientierten Therapie ist die Modulation oder Verbesserung von dysfunktionalen inneren Arbeitsmodellen hin zu einem sicheren inneren Arbeitsmodell von Bindung (Strauß 2011). Unsichere Bindung wird häufig auch als Zielvariable von Psychotherapieforschung betrachtet. Dazu veröffentlichten Taylor et al. (2015) ein Review und auch weitere Autor*innen wiesen die Veränderbarkeit von Bindungsrepräsentationen durch Psychotherapie nach (Buchheim et al. 2017a; Hörz-Sagstetter et al. 2016; Kirchmann et al. 2012; Levy et al. 2006). Eine Mehrzahl von Studien berichtet von einer Zunahme an Bindungssicherheit, insbesondere unter der Behandlung mit psychodynamischen Verfahren (Buchheim 2018a). In einer Multicenter-Studie (Doering et al. 2010) wurden in einem randomisiert-kontrollierten Design insgesamt 104 Patientinnen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung mit einer Übertragungsfokussierten Psychotherapie (TFP; Kernberg et al. 2008) bzw. einer Therapie von erfahrenen Psychotherapeuten, sog. Experienced Community Psychotherapists (ECP), behandelt. Bei den 104 Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung wurden die Veränderung der Bindungsrepräsentationen mittels AAI nach einem Jahr Behandlung untersucht (Buchheim et al. 2017a). Zu Beginn der Behandlungen erhielten über 50 % der Patientinnen die Klassifikation „Unverarbeitetes Trauma“. In dieser Studie konnte gezeigt werden, dass diejenigen Patientinnen, die mit TFP behandelt wurden, eine signifikante Veränderung von Bindungsrepräsentationen in Richtung Bindungssicherheit und Bindungsorganisation zeigten, im Vergleich zu den Patientinnen, die mit ECP behandelt wurden (Buchheim et al. 2017a). Das AAI erfasste die strukturelle Veränderung in Bezug auf die inneren Arbeitsmodelle von Bindung (flexible Integrationsfähigkeit, Kohärenz) und eine integrierte Selbst- und Objektwahrnehmung auf einer sprachlichen objektivierenden Ebene (Buchheim et al. 2017a; Levy et al. 2006).

Praktische und theoretische Abwägungen der Bindungsdiagnostik mit dem AAI

Wenngleich das AAI als Goldstandard der Diagnostik von Bindung und Bindungsstörungen bei Erwachsenen zählt (Ravitz et al. 2010), gibt es dennoch kritische Punkte zu berücksichtigen, die sich sowohl auf die Anwendung als auch die Generalisierbarkeit der Ergebnisse beziehen. So muss der aufwändige Auswertungsprozess des AAI abgewogen werden, da dieser ein mehrjähriges Reliabilitätstraining erfordert. Zur Zuordnung und Diagnostik von Bindungskategorien stehen daher auch andere, durchführungs- und auswertungsunaufwändigere Methoden zur Verfügung (Ravitz et al. 2010), die jedoch weniger Aufschluss über Abwehr und unbewusste mentale Prozesse geben und keine eindeutige Übereinstimmung mit dem AAI aufweisen (Roisman et al. 2007). Die kategorialen Zuordnungen, die aus den meisten Selbstbeurteilungsfragebögen zu Bindung hervorgehen, können allerdings für klinische oder sekundäre Forschungsinteressen ausreichend sein. Die erste Methode, die eine Validität mit dem AAI nachweisen kann, ist das Adult Attachment Projective Picture System (AAP; George und West 2001; 2012), das sich sowohl experimentell im neurobiologischen Kontext (s. a. Buchheim et al. 2017b; 2022) als auch klinisch hervorragend eignet, differentielle Bindungsmerkmale bei psychischen Erkrankungen herauszuarbeiten (z. B. Gander et al. 2018; Bernheim et al. 2019) sowie Veränderungsprozesse durch Psychotherapie (Buchheim 2018a) abzubilden. Zu primären Forschungsfragen im Bereich Bindung oder auch der Therapie-Prozessdiagnostik sind daher die dimensionalen Skalen des AAI und ebenso die dimensionalen, ressourcenorientierten Skalen des AAP (Selbstwirksamkeit, Verbundenheit, Synchronizität) informativer. Auch sollte der Einsatz des AAIs von klinisch erfahrenden Personen durchgeführt werden, da die Fragetechnik emotional aktivierend und kurzfristig Abwehr labilisierend wirken kann.

Darüber hinaus gibt es auch einen theoretischen Diskurs über die Limitationen der Bindungstheorie und ihre Anschlussfähigkeit bzw. Integrierbarkeit in andere psychologische, insbesondere psychoanalytische Paradigmen (Fearon und Roisman 2017; Fonagy 2003; Buchheim 2018a). So berücksichtigt die Bindungstheorie keine kulturellen Unterschiede bei ihrer Klassifikation und betont die Prägung der psychischen Entwicklung durch die frühen Bezugspersonen und ihre Fähigkeit zur Feinfühligkeit. Andere Aspekte, wie z. B. genetische Faktoren, Temperament, der Einfluss von Peers sowie konzeptuelle Überlappungen mit anderen psychologischen Konstrukten (z. B. Wiederholungszwang, transgenerative Weitergabe, Konflikt- und Strukturgenese) werden in der klassischen Bindungstheorie nicht operationalisiert. Kritische theoretische und wissenschaftliche Auseinandersetzungen zum Verhältnis der Bindungstheorie und den psychoanalytischen Theorien finden jedoch auch zentrale konzeptuelle Überschneidungen (z. B. im Konzept der Mentalisierung oder der Objektrepräsentationen) und sehen einen substantiellen Zugewinn durch die spezifische Perspektive der Bindungstheorie und -Diagnostik (Diamond und Blatt 1994; Fonagy und Campbell 2017; Fonagy et al. 2018; Zepf 2005; Diamond et al. 2023).

Fazit für die Praxis

Sprache ist in der Diagnostik und Klassifikation von Bindungsrepräsentationen von besonderer Relevanz, da sich anhand von einer linguistischen Analyse über den Inhalt des Gesprochenen hinaus valide Rückschlüsse auf unbewusste mentale Operationen und Prozesse vornehmen lassen. Das Adult Attachment Interview bietet dabei ein Ratingsystem, das klinisch relevante sprachliche Fehlleistungen und Inkohärenzen im Narrativ systematisiert und die Klassifikation zu Bindungskategorien zulässt. Für die klinische Praxis kann eine Sensitivität für sprachliche Marker bereits in anamnestischen Situationen als Hinweise genutzt werden, sodass eine möglicherweise zugrundeliegende Bindungsunsicherheit oder Störung frühzeitig erkannt, und sowohl in den Außenbeziehungen als auch in der therapeutischen Beziehung thematisiert und erfolgreich bearbeitet werden kann. Anhand der beschriebenen Einzelfälle aus der eigenen klinischen Arbeit soll deutlich gemacht werden, dass der Einsatz der Bindungsdiagnostik sowohl im psychodynamischen Erstinterviewverfahren als auch zur Messung von Veränderungen während Psychotherapien fruchtbar eingesetzt werden kann, um sprachliche Prozesse zu evaluieren.