Einleitung

In den 1960er- und 1970er-Jahren, die von einem gesellschaftlichen Wertewandel geprägt waren, entwickelte sich eine Psychotherapie, die als gesellschaftspolitische Kraft Positionen aufgriff, debattierte und weiterentwickelte. Die Erkenntnis, dass psychische Problemlagen in objektive gesellschaftliche Zusammenhänge eingebunden sind, wurde zahlreich erforscht, diskutiert und beschrieben (vgl. Kupfer et al. 2021). In dem sich dann herausbildenden neoliberalen Klima globalisierter Lebenswelten sind diese Forderungen und Inhalte hinter Aspekten wie Symptomorientierung und Effizienz verschwunden (ebenda). Diese Ausrichtung hat sich mit der Finanzierung über gesetzliche Krankenkassenleistungen in Deutschland verfestigt.

An den Grenzen der Psychotherapie treffen wir auf Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht „dazugehören“. Ihr Mangel an gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten reproduziert sich im Psychotherapiesystem als Unzugänglichkeit von Hilfe, weil sich das gesellschaftlich tief verankerte Prinzip der Gewinnorientierung in der Struktur der psychotherapeutischen Versorgung nahtlos abbildet. Um dem aktuellen Versorgungsbedarf entlang von Globalisierung, Diversifizierung und der Auflösung verlässlicher sozialer Strukturen nachzukommen, sind diese Forderungen jedoch aktueller als je zuvor. Das Ausmaß psychosozialer Problemlagen ist in den letzten Jahrzehnten weiter angewachsen, ganz zu schweigen von den Entwicklungen, die durch die Pandemie und andere Krisen globalen Ausmaßes bedingt sind. Die bestehende Systemstruktur der Psychotherapieangebote bietet hier unserer Ansicht nach keine angemessene Antwort.

Der Artikel arbeitet anhand von Beispielen aus Forschung und Praxis heraus, wie die an medizinische Paradigmen angelehnte Institutionalisierung der psychotherapeutischen Versorgung – insbesondere in Deutschland – zur Herausbildung systemischer Eigenlogiken führt, die Marginalisierungs- und Exklusionsprozesse befördern. Der Beitrag zeigt zudem auf, wie sehr Psychotherapie durch kooperative und inhaltliche Konvergenzen mit anderen Formen psychosozialer Hilfen an Versorgungsqualität gewinnen und wie unter Berücksichtigung der sozialen Dimension die aktuelle „Gesellschaftsblindheit“ (Keupp 2016, S. 7) in der Psychotherapie überwunden werden könnte.

Leben in einer globalisierten Welt

Interessanterweise widmete sich die psychotherapeutische Profession in ihren historischen Ursprüngen intensiv der Behandlung von benachteiligten gesellschaftlichen Personengruppen (u. a. Adler und Furtmüller 1914). Die jeweiligen Behandlungsansätze und theoretischen Erklärungsmodelle entwickelten sich entlang der dortigen Herausforderungen und Forschungsinitiativen. Soziologische Betrachtungen zeigen, dass der Mensch im Zuge von Beschleunigungs‑, Digitalisierungs‑, Flexibilisierungs‑, Enttraditionalisierungs- und Individualisierungsprozessen aktuell mehr denn je mit Herausforderungen konfrontiert ist, die mit belastenden Veränderungen der Lebenswelt einhergehen (vgl. u. a. Giddens 2001 [1999]; Sennett 2010 [1998]). Demnach ist das Subjekt beruflich und sozial mit höheren Flexibilitätsanforderungen, vielfältigen Umbrüchen in der Biografie und vermehrter Unsicherheit konfrontiert, ohne dabei auf bestehende gesellschaftliche Orientierungsmuster zurückgreifen zu können, die Sicherheit vermitteln.

Die „Subjekte einer individualisierten und globalisierten Netzwerkgesellschaft können in ihren Identitätsentwürfen nicht mehr problemlos auf kulturell abgesicherte biografische Schnittmuster zurückgreifen. In diesem Prozess stecken ungeheure Potenziale für selbstbestimmte Gestaltungsräume, aber auch die leidvolle Erfahrung des Scheiterns“ (Keupp 2012, S. 46). Besonders benachteiligte Bevölkerungsgruppen sind dabei gesundheitlichen Risiken ausgesetzt. So zeigen mehrere Bevölkerungsstudien, dass ein niedriger sozioökonomischer Status mit zahlreichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen einhergeht (Mielck 2008). Häufig verfügen sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen nicht über die Zugänge oder Ressourcen, um ausreichend an den sozial- und gesundheitsfördernden Möglichkeiten zu partizipieren oder gesundheitliche Belastungen zu kompensieren. Sie drohen, aus vielen gesellschaftlichen Bereichen ausgeschlossen zu werden. Um psychosoziale Versorgung am „aktuellen Bedarf“ zu orientieren, muss folglich neben einer Reihe anderer Aufgaben auch eine adäquate professionelle Antwort auf die Überforderungen durch psychosoziale Verarbeitungsprozesse aktueller Lebensverhältnisse wie z. B. Armut, Einsamkeit oder Stress bereitgestellt werden.

Psychotherapie im Versorgungs-Gap?

Diese gesellschaftlichen Veränderungen, die sich auf die Zugänge und die Zielgruppen der psychotherapeutischen Behandlung auswirken, werden gegenwärtig in der psychotherapeutischen Forschung und Praxis jedoch nur unzureichend berücksichtigt (Keupp 2021). So erhalten zahlreiche Personengruppen trotz hoher psychosozialer Belastungen aufgrund von strukturellen oder individuellen Barrieren immer noch keinen Zugang zu notwendigen psychotherapeutischen Behandlungen, wodurch die psychischen Gesundheitsbeeinträchtigungen und sozialen Exklusionsprozesse dieser Zielgruppen weiter ansteigen. Mit der zunehmenden Ökonomisierung, Manualisierung und der Orientierung an der naturwissenschaftlichen Evidenzbasierung lässt sich eher ein Rückgang der Berücksichtigung von sozialen und gesellschaftlichen Determinanten innerhalb der Profession der Psychotherapie ausmachen (Schumacher 2021).

Durch die Einführung der Richtlinienpsychotherapie im Jahr 1998 wurde – in Deutschland – eine Struktur für eine Regelversorgung von Patient_innen mit psychischen Störungen etabliert. Dies kann zunächst als Fortschritt betrachtet werden, doch mit der Finanzierung über gesetzliche Krankenkassenleistungen wurde eine Systemlogik eingeführt, die bestimmten Prämissen unterliegt: (1) Psychische Probleme werden als Diagnosen auf der Grundlage des Vorhandenseins klinischer Symptome beschrieben (ICD-10 F), ohne Einbeziehung wichtiger, vor allem soziologisch fundierter Konzepte wie Lebenswelt, Sozialraum oder Ressourcenorientierung. (2) Für eine Finanzierung der Behandlung muss eine Diagnose nach ICD gestellt werden. (3) Diverse Behandlungsansätze wurden aus den Versorgungsleistungen ausgeschlossen (z. B. Gesprächspsychotherapie, Gestalttherapie, körperorientierte Therapien, Soziotherapie). (4) Fortan bedarf die Anwendung einer psychotherapeutischen Methode eines wissenschaftlichen Effektivitätsnachweises mittels RCT-Studien. (5) Ausgeschlossen werden bestimmte Problemstellungen (s. unten, Randgruppen), die nicht in dieses enge Raster eines medizinischen Ansatzes passen (Caspari 2021).

Auch die Durchführung genehmigter Psychotherapien gelingt nur, wenn Patient_in und Therapeut_in bestimmte Anpassungsleistungen vollbringen. So müssen gewisse Fähigkeiten, Kompetenzen und Lebensumstände vorausgesetzt werden, um pünktlich jede Woche an der Veränderung der diagnostizierten Symptomatik arbeiten zu können. Der Preis, den das deutsche Versorgungssystem durch die Einführung einer gesetzlichen Regelversorgung zahlt, ist daher ziemlich hoch. Aber nicht nur durch die Krankenkassenlogik „Krankheit – Therapie – Heilung“ ergeben sich Probleme. Darüber hinaus öffnet sich durch die öffentliche Finanzierung privatwirtschaftlicher Praxisinhaber_innen ein Tor zur Ökonomisierung der Versorgung von Patient_innen mit psychischen „Störungen“. So ist es mittlerweile nicht unüblich, dass fachfremde Betriebswirt_innen oder Jurist_innen Versorgungszentren gründen und Ärzt_innen sowie Psychotherapeut_innen gewinnorientiert für sich arbeiten lassen (Krombholz et al. 2021).

Forschung als Korrektiv?

Um sich gegenüber medizinischen und psychopharmakologischen Behandlungsmethoden zu etablieren, orientiert sich die Psychotherapieforschung beim Nachweis der Kosteneffizienz und Behandlungswirksamkeit seit vielen Jahren verstärkt an naturwissenschaftlichen Kriterien und Evidenzbasierung (Lambert 2013). Vertreter_innen der Kritischen Psychotherapie zufolge läuft die psychotherapeutische Disziplin Gefahr, ihr kritisches Profil durch die Dominanz der naturwissenschaftlichen Nachbardisziplin zu verlieren (Schumacher 2021) und zu einer Monokultur innerhalb der psychotherapeutischen Versorgung beizutragen (Kriz 2021).

Dem „Goldstandard“ – also symptombezogenen, komparativen, randomisierten Kontrollgruppenstudiendesigns (RCT-Studien) – zufolge müssen im Rahmen der Manualisierung die Behandlungsverfahren und die Gruppen der eingeschlossenen Patient_innen diagnostisch genau beschrieben, das Behandlungssetting klar bestimmt und die interne Validität durch randomisierte kontrollierte Bedingungen gewährleistet werden. Diese forschungsmethodischen Einschränkungen führen zwar für eine bestimmte Zielgruppe zu wichtigen Ergebnissen, aber die standarisierten und vorprogrammierten Behandlungssettings und -verfahren bewegen sich nicht selten abseits der klinischen Realität und der individuellen Bedarfe von – insbesondere benachteiligten – Patient_innen.

Dies widerspricht einer bedarfsgerechten Versorgung und trägt dazu bei, dass ein Teil der behandlungsbedürftigen Patient_innen systematisch aus der psychotherapeutischen Versorgung ausgeschlossen wird. Ebenso hat dies zu einem Ausschluss von psychotherapeutischen Verfahren geführt, die aufgrund des Komplexitätsgrads ihrer therapeutischen Interventionen oder Prozesse nur unzureichende Wirksamkeitsbelege im Sinne der strengen naturwissenschaftlichen Evidenzbasierung vorweisen können. An zwei Arbeitsfeldern soll dies verdeutlicht werden.

Beispiele aus der Praxis

Wer also sind diese angesprochenen Randgruppen, die nicht in das Raster eines medizinischen Ansatzes passen? Im klinisch-sozialwissenschaftlichen Bereich hat sich dafür die Bezeichnung „hard to reach“ (Giertz et al. 2021) etabliert. Genauer betrachtet jedoch stoßen diese Klient_innen auf Barrieren im Hilfezugang und sind in diesem Sinne weniger „hard to reach“ als vielmehr „selten gehört“ (vgl. Schaefer et al. 2021) oder in „ethical loneliness“ (Stauffer 2015). Brackertz (2007) arbeitet demografische, kulturelle, strukturelle sowie verhaltensbedingte Aspekte heraus, die dazu führen, dass diese Klientel von Hilfsangeboten kaum profitieren kann. Hard-to-reach-Klient_innen zeichnen sich häufig durch komplexe psychosoziale und existenzielle Problemlagen aus. Dadurch benötigen sie institutionsübergreifende, auf die Person ausgerichtete und zentrierte Hilfen. Oft, aber nicht immer, geht die Lebenssituation dieser Klient_innen mit materieller Armut oder Benachteiligung einher. Im Folgenden sollen zwei Beispiele aus der Berufspraxis zweier Autor*innen dieses Beitrags aufzeigen, wie für bestimmte Gruppen Zugangsbarrieren entstehen und welche Komplexitäten dabei zu berücksichtigen sind.

Zum Beispiel Psychotherapie mit Gewaltbetroffenen

Obwohl Gewalt einen erheblichen Risikofaktor für langwierige gesundheitliche Probleme darstellt (Mosser 2018), sind die Hürden für die Inanspruchnahme psychotherapeutischer Angebote durch betroffene Menschen vielfältig. Die folgende Aufzählung dient zur Skizzierung von Problemfeldern, die in diesem Zusammenhang wirksam sind.

  1. 1.

    Ein „epistemisches“ Problem, das den Zugang gewaltbetroffener Menschen in das Psychotherapiesystem erschwert, liegt in einem weitgehenden „Desinteresse“ der Formaldiagnostik für die Vorgeschichte potenzieller Patient_innen (Mosser und Schlingmann 2013). Die in den psychodiagnostischen Manualen beschriebenen Kriterien für Diagnosestellungen weisen – mit Ausnahme der „Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen“ (F43 in der ICD-10) – in der Regel keinen Bezug zu biografischen Ereignissen auf.

  2. 2.

    Gewalterfahrungen (im Kindes- und Jugendalter) üben einen erheblichen Einfluss auf das Verhältnis der Betroffenen zu ihrer sozialen und institutionellen Umwelt aus (Andrade und Gahleitner 2020; Helming et al. 2011). Daher blockieren innerpsychische Probleme wie Misstrauen, Angst, Scham und Selbstwertprobleme das Inanspruchnahmeverhalten vieler Betroffener, sodass sie umso stärker darauf angewiesen sind, dass sich Hilfesysteme ihnen gegenüber öffnen.

  3. 3.

    Diese innerpsychischen Probleme aufseiten der Hilfesuchenden korrespondieren mit schwerwiegenden Strukturproblemen des Psychotherapiesystems, die sich u. a. in langen Wartezeiten, unzureichenden Stundenkontingenten und überfordernden Rahmenbedingungen (in wöchentlicher, pünktlicher Inanspruchnahme) manifestieren (UKASK 2019). Diese Kluft zwischen Hilfebedarf und Angebotsstruktur verschärft sich unter Einbezug einer intersektionalen Perspektive: Besonders belastete und marginalisierte Bevölkerungsgruppen wie ehemalige Heimkinder oder unbegleitete minderjährige Geflüchtete haben mit zusätzlich erhöhten Zugangsbarrieren zu kämpfen.

  4. 4.

    Kooperationsprobleme des Psychotherapiesystems tragen dazu bei, dass häufig vorliegende komplexe Belastungslagen der Betroffenen nicht ausreichend behandelt werden können: Eine beeinträchtigte psychische Gesundheit interagiert dabei in vielen Fällen mit chronifizierten oder aggravierten sozialen und ökonomischen Problemen, die jeweils individuell zugeschnittene interdisziplinäre Hilfenetzwerke erfordern (Andrade und Gahleitner 2020; Helming et al. 2011). Durch die Struktur der psychotherapeutischen Versorgung sind Psychotherapeut_innen in ihren Möglichkeiten, regelmäßig und intensiv mit anderen beteiligten Fachkräften zusammenzuarbeiten, eingeschränkt.

  5. 5.

    Ein Qualifizierungsproblem aufseiten vieler Psychotherapeut_innen führt dazu, dass sich Gewaltbetroffene häufig nicht im oben beschriebenen Sinne wahrgenommen und anerkannt fühlen, da ihre spezifischen Bedarfe in psychotherapeutische Ausbildungen häufig nicht ausreichend in den Blick genommen werden (Helming et al. 2011).

Die hier genannten Versorgungshürden haben auch mit der Frage zu tun, ob Gewalt als individualisierbares gesundheitliches Problem oder als Ausdruck gesellschaftlicher Ungleichverhältnisse betrachtet wird (Gebrande 2018). Aus heutiger Sicht ist nicht erkennbar, welche Versuche das Psychotherapiesystem unternimmt, die hier skizzierten Barrieren abzubauen und gewaltbetroffenen Menschen Angebote zu machen, um die Chance auf Inanspruchnahmequoten zu verbessern.

Zum Beispiel onkologische Patient_innen

Eine weitere, in der kassenfinanzierten Versorgungsstruktur nicht entsprechend repräsentierte Gruppe sind onkologische Patient_innen. Ziele einer umfassenden Versorgung von Krebspatient_innen sind zwar im „Nationalen Krebsplan“ (BMG 2021) sowie in den S3-Leitlinien zur Psychoonkologie (Beutel et al. 2014) präzise formuliert, doch scheitern diese regelmäßig an ihrer Umsetzung. Um diese Lücke zu schließen, übernahmen vor allem die Krebsberatungsstellen Unterstützungsleistungen, die zuvor jedoch nicht über eine regelhafte Finanzierung verfügten, deren Leistungen aber seit 2021 anteilig von den Krankenkassen übernommen werden. Diese neue Finanzierungsgestaltung unterliegt jedoch bestimmten Implikationen:

  1. 1.

    Krebspatient_innen und deren Behandler_innen kämpften lange Zeit gegen eine klischeehafte Pathologisierung der Betroffenen, wobei die im Zuge einer Krebserkrankung auftretenden psychosozialen Belastungen als Folgen eines kritischen Lebensereignisses und als eine durch den Diagnoseschock hervorgerufene existenzielle Bedrohung und nicht als psychische Erkrankung im engeren Sinn betrachtet werden sollten. Durch die Krankenkassenfinanzierung werden Leid und Belastungen in krankheitswertige Störungen transformiert, die es zu therapieren gilt. Auf diese Weise wird eine jahrelange Entstigmatisierungskampagne infrage gestellt.

  2. 2.

    Ins Ungleichgewicht geraten dadurch auch die sozialrechtlichen Beratungen, die bislang in den Beratungsstellen gleichsam mit erledigt wurden, aber eben keine Indikation für die Finanzierung der GKV begründen. Somit sind diese Beratungen weiterhin auf Spenden oder andere (unzuverlässige) Finanzierungen angewiesen.

  3. 3.

    Damit geht eine individualistische Behandlungsschiene einher, die auf die Therapie der einzelnen Patient_innen abzielt, bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Angehörigen, die nachweislich unter ebenso hohen Belastungen leiden wie die Betroffenen selbst (Zimmermann et al. 2011). Auch hier werden ganzheitliche und komplexe Zusammenhänge augenscheinlich auf eine Symptom- und Behandlungsebene reduziert, die eine Lebensweltperspektive ausspart.

Eine psychoonkologische Perspektive wird somit in eine psychotherapeutische verwandelt – mit all den Implikationen, wie z. B. der Notwendigkeit, dass bei einer Krebserkrankung eine psychische Störung diagnostiziert werden muss, um eine Behandlung (keine Begleitung) durchführen zu können. Die hegemoniale Sichtweise einer klinisch-psychotherapeutischen Behandlung auf onkologische Patient_innen wirkt sich mittlerweile auch insofern auf die Ausbildung der Professionellen aus, als die Zertifizierung der stationären Versorgung von Krebspatient_innen an die Voraussetzung gebunden ist, dass die psychoonkologische Begleitung von approbierten Psychotherapeut_innen durchgeführt werden muss.

Die Psychoonkologie hat sehr lange Zeit dafür gekämpft, als eigenständiges Fach zu existieren und eine angemessene Unterstützung für onkologische Patient_innen zu erreichen, doch leider sind die Zugänge zu adäquaten Hilfen durch das veränderte Finanzierungs- und Versorgungssystem teilweise nicht verbessert, sondern erschwert worden.

Diskussion und Fazit

Seit der Einführung des Psychotherapiegesetzes in Deutschland im Jahr 1998 lässt sich die Bildung einer Struktur beobachten, die als „Psychotherapiesystem“ bezeichnet, sich immer wieder neu reproduziert und daher unter systemtheoretischen Aspekten beschrieben werden kann. Sehr vereinfacht lässt sich sagen, dass die laufende Selbstreproduktion des Psychotherapiesystems immer auch Vergewisserungen darüber erzeugt, was „zum System gehört“ und was nicht. Wesentliche, das heißt für die Selbstreproduktion grundlegende Elemente dieser dynamischen Systembildung sind die Psychotherapeutenkammern, die Krankenkassen und der gemeinsame Bundesausschuss. Die Identitätsbildung des Psychotherapiesystems erscheint als ein Prozess, in dem die Anlehnung an das Medizinsystem immer wieder nützliche Anschlussoperationen produziert – sowohl in Bezug auf seine ökonomischen Grundlagen als auch hinsichtlich seiner identitätsbezogenen Selbstvergewisserung (u. a. Psychotherapierichtlinien, Approbationsordnung, evidenzbasierte Studien). Aufgrund der in diesem Beitrag berichteten Beobachtungen lässt sich die These formulieren, dass die Selbstreproduktion des Psychotherapiesystems nicht darauf angewiesen ist, sich aktiv und unter Aufbietung erheblicher Ressourcen gegenüber gesellschaftlich marginalisierten Bevölkerungsgruppen zu öffnen, weil weder die ökonomischen Grundlagen dieses Systems noch die professionelle Selbstvergewisserung der Systemmitglieder darauf angewiesen sind, eine solche Öffnung voranzutreiben. Dies schließt selbstverständlich nicht aus, dass sich einzelne Psychotherapeut_innen oder Gruppen von ihnen (im Sinne interner Systemdifferenzierungen) speziell für marginalisierte Bevölkerungsgruppen engagieren. Dabei handelt es sich um eine Möglichkeit des Systems, aber nicht um eine der Selbstreproduktion dienende Operation. Das heißt, dass das Bestehen des Psychotherapiesystems in seiner jetzigen Form nicht auf die Versorgung von Hard-to-reach-Klient_innen angewiesen ist.

Wichtig wäre es aber für das Psychotherapiesystem, solche Anschlussoptionen zu wählen, die nicht primär „der Psychotherapie“ als einem von der Medizin anerkannten Versorgungsmodell dienen, sondern den Menschen, die Unterstützung benötigen. Vor allem für Patient_innen mit komplexen und existenziellen Problemlagen, bei denen ein bedeutsamer Zusammenhang zwischen sozialen Faktoren und der Entstehung, der Genese und dem Verlauf von psychischen Störungen besteht, bedarf es einer Kooperation mit weiteren Unterstützungsmöglichkeiten außerhalb der Psychotherapie, die im direkten Lebensumfeld aktiv sind. Voraussetzung für kooperative und interdisziplinäre bzw. interprofessionelle Konzepte ist eine Forschungslandschaft, die diese Vorgehensweisen auch empirisch untersucht, weiterentwickelt und stützt. „Kontextualität, Komplexität, Eigensinnigkeit, biographische Anschlussfähigkeit und ihre professionelle Kunstlehre des Fallverstehens interessieren im evidenzbasierten Denken nicht“ (Hanses 2007, S. 50; Hervorh. i. Orig.).

Zudem geht diese Entwicklung mit Folgen für die Profession der Psychotherapie selbst einher. An die Stelle von RCT-Studien könnten ökologisch valide Praxisevaluationen treten, die verschiedene methodische Herangehensweisen sinnvoll miteinander kombinieren (Fröhlich-Gildhoff und Hoffer 2020). Gerade interdisziplinär angelegte Forschung müsste sich stärker nach dem Kriterium der „Angemessenheit“ ausrichten, statt sich allein auf die „Messbarkeit“ (Otto 2007, S. 17) zu fixieren: „Multidimensional Evidence-Based Practice (MEBP) validates consumer wisdom, professional experience, and qualitative research as equal partners to quantitative research in determining current state-of-the art best practices. Furthermore, MEBP incorporates a value-critical analysis of those best practices that can lead to improvements and innovations, so that ‚best practice‘ becomes a dynamic rather than a static construct“ (Petr und Walter 2009, S. 221). Ein solches Forschungsverständnis würde die Forschungsförderungslandschaft radikal reformieren und benachteiligten Gruppen größere Chancen geben, von den Konzepten auch erfasst und unterstützt zu werden.

Schluss und Ausblick

Im Zusammenhang mit den Modernisierungsprozessen haben sich die gesellschaftlichen Milieustrukturen grundlegend verändert (Vester 2021). Soziologischen milieubasierten Studien zufolge ist das gesellschaftliche Leben auf vielen Ebenen (bezüglich politischen Werten, Einstellung zu Arbeit und Gesundheit, Bildung, kulturellem Geschmack, Lebensstil) heterogener geworden (Vester 2009). Verlierer dieser Entwicklung sind auch hier benachteiligte Bevölkerungsgruppen, die als Folge der Transformation aus vielen gesellschaftlichen Bereichen ausgeschlossen zu werden drohen. Der Bedarf an psychotherapeutischer Versorgung für Patient_innen mit multiplen psychosozialen Beeinträchtigungen ist groß – die Finanzierungs- und Zugangslogiken der zur Verfügung stehenden psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten in Deutschland entsprechen dem jedoch nicht (Giertz et al. 2021).

Konzepte zur „gesellschaftlichen Lesbarkeit“ (Keupp 2013, S. 1737) psychischer Probleme sowie die Forderung nach einer „Überwindung der zunehmenden ‚Gesellschaftsblindheit‘ oder ‚sozialen Amnesie‘“ (Keupp 2016, S. 7) sind also bis heute aktuell, sogar angesichts der Entwicklungen der Psychotherapie aktueller denn je. Die aktuelle „Psychotherapie im medizinischem Modell und in lebensweltabgehobener Praxis“ (Engel und Nestmann 2020, S. 30) muss sich wieder weiteren Disziplinen öffnen, die für den psychosozialen Bereich maßgeblich sind, und die „Notwendigkeit einer […] Gesellschaftsdiagnostik“ (Keupp 2008, S. 3) pflegen. „Psychotherapie kann für Subjekte ein hilfreiches Angebot sein, sich in diesen gesellschaftlichen Umbruchprozessen Unterstützung bei der Neuorientierung, Reflexion und Selbstorganisation zu holen, sie kann aber auch ‚Trainingslager‘ für Fitness im Netzwerkkapitalismus liefern“ (S. 2). Dies jedoch wird keineswegs allen Klient_innen gerecht.