Gesundheitliche Auswirkungen von Migration und Flucht

Personen mit Migrationsbiografien leiden häufig an psychischen Erkrankungen, wobei Belastungs- und affektive Störungen überwiegen (Blackmore et al. 2020; Tinghög et al. 2007). Des Weiteren scheint Migration in Verbindung mit sozialer Benachteiligung, psychotische Störungen zu begünstigen. Aktuell bestätigen mehrere Überblicksstudien und Metaanalysen die Beziehung zwischen Migrationserfahrungen und Psychose (Dykxhoorn et al. 2019; Kirkbride et al. 2012; Selten et al. 2019). Personen mit Flüchtlings- bzw. Asylwerberstatus weisen eine erhöhte Prävalenz sowohl an psychischen als auch an körperlichen Belastungen auf (Blackmore et al. 2020; Schober und Zocher 2022). Insbesondere bei Menschen mit Erfahrungen organisierter Gewalt wird häufig auf die Rolle prämigratorischer Belastungsfaktoren wie die Auswirkungen von Krieg und politischer Verfolgung hingewiesen. Zusätzlich wirken sich soziale und rechtliche Exklusion, die viele Menschen im Ankunftslanderfahren, ebenso negativ auf die Gesundheit von Geflüchteten aus (Tinghög et al. 2017). Schober und Zocher (2022) zeigen auf Basis österreichischer Sozialversicherungsdaten für den Zeitraum von fünf Jahren, dass der Gesundheitszustand von Flüchtlingen insbesondere im ersten Jahr nach Ankunft am meisten ausgabenintensiv ist. Die Ausgaben für Asylwerber*innen, die im Untersuchungszeitraum keine positive Asylentscheidung erhalten, bleiben konstant. Hingegen die Gesundheitsleistungen für Flüchtlinge, denen internationaler Schutz zuerkennt wird, nähern sich sukzessive jenen von Personen, die in Österreich geboren wurden, was auf die Rolle der rechtlichen Unsicherheit auf die psychische und physische Gesundheit hinweist. Der systematische Literaturüberblick von Juárez et al. (2019) stellt ebenso einen Zusammenhang zwischen restriktiven Integrationsmaßnahmen für Geflüchteten in Industrieländern und schlechter Gesundheit fest. Tinghög et al. (2007) finden in einer groß angelegten schwedischen Studie, dass sozioökonomische Bedingungen im Ankunftsland höhere Prädiktoren für Gesundheitsbelastungen bei allen Gruppen von Zugewanderten darstellen als prämigratorische Erfahrungen.

Geringe Inanspruchnahme psychologischer Leistungen

Personen mit Migrations- und Fluchterfahrungen weisen nicht nur spezifische Gesundheitsbelastungsmuster auf, sondern nutzen Vorsorgeleistungen und psychotherapeutische Angebote seltener in Relation zu nicht zugewanderten Bevölkerungsgruppen (Lebano et al. 2020). Zu ähnlichen Befunden kommen Studien, die das Nutzungsverhalten unterschiedlicher ethnischer Gruppen unabhängig vom Migrationsstatus vergleichen (Chiu et al. 2018). Mangelhafte sprachliche Verständigung, finanzieller Aufwand und strukturelle Benachteiligung oder latenter Rassismus im Gesundheitswesen gehören zu den am häufigsten angenommenen soziostrukturellen Hintergründen dieser Diskrepanz. Stigmatisierung in der familiären und sozialen Umwelt sowie alternative Erklärungen für psychische Beeinträchtigungen (z. B. gestörtes Energiegleichgewicht) stellen kulturell geprägte Hintergründe dar. Im Rahmen alternativer Gesundheitskonzepte werden psychosoziale Beeinträchtigungen durch Methoden und Expert*innen behandelt, die im Gesundheitssystem des Ankunftslandes unüblich sind oder informell praktiziert werden. Alternative Gesundheitspraktiken werden beispielsweise durch Heilpraktiter*innen oder religiöse Heiler*innen durchgeführt. Während ein Teil dieser Praktiken aus Traditionen und Alltagswissen stammen, stellt der andere Elemente eines anerkannten professionellen Sektors des Gesundheitssystems dar wie beispielsweise Ayurveda in Indien (Biswal et al. 2017). Für einige Menschen ist das Besprechen von Problemen an sich oder das Besprechen persönlicher Angelegenheiten mit einer fremden Person unüblich, da Familienzusammenhalt, zuvorkommende Sorge um die Angehörigen und gemeinsame Bewältigung von Herausforderungen in vielen Gesellschaften einen hohen Wert besitzen. Ähnlich kann die fehlende Verfügbarkeit psychotherapeutischer Angebote in Wohnnähe im Herkunftsort zu sozialer Distanz führen, die Menschen davon abhält, Ihre Hemmschwellen zu überwinden und psychotherapeutische Hilfe in einem neuen Land zu suchen. Häufig werden externe Kontrollüberzeugungen in Bezug auf das eigene Wohlbefinden oder Bildungsunterschiede als Erklärungen für die Gesundheitslage und das Gesundheitsverhalten von Personen mit Migrationshintergrund herangezogen. Derartige Zusammenhänge sind nicht immer eindeutig (Kirkcaldy et al. 2007) und auf Ihre Darstellung wird hier mangels Raums verzichtet.

Kulturbedingte Variation von Erkrankungen

Dass nosologische Kategorien für psychische Auffälligkeiten nicht kulturübergreifend deckungsgleich sind, war bereits dem Vater der psychiatrischen Nosologie, Emil Kraepelin, bekannt (Jilek 1995). Kleinmans (1982) Arbeit im Feld der transkulturellen Psychiatrie, zeigte die Neigung chinesischer Patient*innen auf, diffuse körperliche Symptome zu berichten und psychologische Symptome zu verneinen bzw. zu unterschätzen. Obwohl die berichteten Problemlagen aus der Sicht des Autors depressiven Symptombildern entsprächen, trug die Mehrzahl der Patient*innen die in China häufig gestellte Diagnose der Neurasthenie und verstand diese Diagnose als körperliche Erkrankung. Kleinmans (1982) ethnologische Analyse stellte Verbindungen der Neurasthenie zu traditionellen chinesischen Symptomkomplexen her und wies gleichzeitig auf die politische Stigmatisierung hin, die mit psychologischen Diagnosen in der Zeit der chinesischen Kulturrevolution einherging. Die Quintessenz dieses Ansatzes ist die These, dass Symptome vom soziokulturellen Kontext bedingt werden, in dem sie entstehen, und eine sozial geteilte Bedeutung innerhalb dieses Kontexts besitzen. Seither wurde das Thema der chinesischen Depression und die weltweite Variation depressiver Symptomatik durch weitere Arbeiten bestätigt (Haroz et al. 2017; Parker et al. 2001; Zhao et al. 2021). Diese Befunde zeigen, dass soziokulturelle Gegebenheiten die Leidenserfahrung prägen, indem sie die Aufmerksamkeit auf bestimmte Empfindungen lenken, während sie andere unbeachtet lassen (Zhou et al. 2016).

Kulturelle Variation im Umgang mit problematischen Situationen

Die Variation depressiver Symptomatik in verschiedenen Kulturen steht exemplarisch für die Variation einer Reihe psychischer Beeinträchtigungen und psychologischer Phänomene im Allgemeinen. Untersuchungen bringen signifikante Unterschiede in Bereichen wie Wahrnehmung, Entscheidungsverhalten, kognitive Stile, moralische Urteile oder Persönlichkeitsstruktur zum Vorschein, die auf historische, philosophische und religiöse Hintergründe zurückgeführt werden (Apicella et al. 2020). Das breite Spektrum kulturell variierender Phänomene schließt auch den Umgang mit problematischen Situationen und Bewältigungsstrategien ein (Kuo 2011; Lam und Zane 2004). Das ist für die Psychotherapie von Bedeutung, weil Strategien und Prinzipien, die in einem kulturellen Kontext als zielführend und ethisch gelten in einem anderen Kontext kontraproduktiv wirken. Ein Beispiel dafür stellt der Wert dar, dass eigene Einschätzungen und Prioritäten die Basis für individuelle Entscheidungen bilden sollen, der ein Hauptelement des psychotherapeutischen Menschenbilds darstellt (Kirmayer 2007). Von Menschen allerdings, die sich primär als Teil einer Gemeinschaft wahrnehmen und eine gewisse Verpflichtung gegenüber bedeutenden Bezugsgruppen empfinden, welche sie in wichtige Lebensentscheidungen einbeziehen müssen, kann die Förderung eines individualistischen Weltbilds im Rahmen psychotherapeutischer Interventionen als eine nicht hilfreiche Anregung erlebt werden. Weil psychotherapeutische Grundprinzipien nicht universell gültig sind, sollte sie in interkulturellen Settings in die professionelle Reflexion miteinbezogen werden.

Bedeutung für die Psychotherapie

Kulturverständnis – Interkulturalitäts- und Transkulturalitätsansatz

Aus der spezifischen psychosozialen Lage, in der sich viele Menschen mit Migrations- und Fluchthintergrund befinden, ergibt sich die Bedeutung psychotherapeutischer Angebote für diese Zielgruppen. Allerdings führen mögliche Unterschiede in der Inanspruchnahme und weitere kulturelle Hintergrundfaktoren zu unterschiedlichen Einschätzungen darüber, wie soziokulturelle Aspekte in der Psychotherapie berücksichtigt werden sollen. Diese Einschätzungsunterschiede beruhen auf dem Gewicht, der einerseits strukturellen und andererseits kulturellen Faktoren beigemessen wird und haben ihren Ursprung in der Art und Weise, wie der Begriff „Kultur“ verstanden wird. In der Regel unterscheidet man zwischen Vorstellungen, die Kulturen als in sich geschlossene – meist national definierte – Einheiten sehen und solche, die Kulturen als kollektive Einheiten betrachten, welche sich dynamisch verändern (Moosmüller 2004). Der ersten Logik folgt der Interkulturalitätsansatz, der vom Versuch gekennzeichnet wird, allgemeine Analysedimensionen zu definieren, die Gesellschaften oder Personengruppen kennzeichnen. Kernmerkmal des Ansatzes ist die Vorstellung, Kulturen wären homogene Einheiten, die sich klar voneinander abgrenzen. Obwohl diese Idee realitätsfremd ist, können häufig mithilfe des Interkulturalitätsansatzes, Wissensbereiche spezifiziert und somit kulturelle Aspekte greifbar gemacht werden (z. B. individualistisches Menschenbild der Psychotherapie, traditionelle oder religiöse Behandlungspraktiken bei psychischen Beschwerden usw.). Die gesellschaftliche Heterogenität sowie alternative Faktoren, die Verhalten beeinflussen (z. B. Armut oder rechtliche Unsicherheit, Interaktionsweise mit anderen Menschen inkl. Fachpersonen), bleiben allerdings dadurch unterbeleuchtet. Ein Beispiel für die Verwendung eines geschlossenen Kulturverständnisses wäre die Annahme, dass die Herkunft einer Person das einzige Kriterium für die Art und Weise sei, ob Symptome eher auf der psychischen oder auf der somatischen Ebene ausgedrückt werden.

Der Kritik einer inadäquaten, reduktionistischen Betrachtung von Kultur entgegnet der Ansatz der transkulturellen Kompetenz, welcher auf ethnologischen Positionen fußt und einen dreifachen Fokus verfolgt: die individuelle Situation des Menschen, die Reflexion des eigenen Handelns und die Vermeidung von Stereotypisierungen (Domenig 2007). Die zugrunde liegende dynamische und kritische Auffassung von Kultur impliziert, dass das Handeln und die Bedürfnisse einer Person nicht lediglich von kulturellen Prägungen bestimmt werden, sondern als einer von mehreren Einflussfaktoren für das Erleben und Verhalten zu sehen sind. Aus diesem Grund können sie auch nicht auf der Basis einer formalen Gruppenzugehörigkeit vorhergesagt werden.

Umgelegt auf die Psychotherapie setzt ein dynamisches Kulturverständnis ein Bewusstsein sowohl für die kulturelle Variation von Beschwerden als auch für die gesellschaftliche Position der beteiligten Personen, inkl. jener der Psychotherapeut*innen voraus. Folglich werden Beschwerden nicht als statische Merkmale verstanden, die ausschließlich auf die Herkunft der Klient*innen zurückzuführen sind, sondern als dynamisches Produkt individueller, sozialer und kultureller Faktoren. Dieser Zugang legt also einen besonderen Fokus auf die aktuelle Lebenssituation im Entstehen und Aufrechthalten von Beschwerden. Zusätzlich umfasst der transkulturelle Ansatz das Wissen, dass kulturelle Prägungen, genauso wie Symptome oder Heilungsvorstellungen sich im Laufe der Zeit in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext verändern. Diese Elemente sind zwar Bestandteile vieler psychologischer Theoriemodelle. Die kultursensible Position erweitert sie allerdings durch ihren verstärkten Fokus auf die soziale und kulturelle Ebene, welche Aspekte wie Migrationsumstände, rechtlicher Status, Diskriminierungs- und Dequalifizierungserfahrungen in den Vordergrund rückt. Beispielsweise zeigen Braakmann und Enzenhofer (2010) in einer österreichischen Studie mittels qualitativer Interviews, wie Personen mit Migrationshintergrund und erkennbaren äußeren Merkmalen regelmäßig intensiver Angst bei alltäglichen Aktivitäten wie Arbeitssuche, Freizeitgestaltung oder Begegnungen im Wohnviertel ausgesetzt werden. Die Herstellung eines Zusammenhangs zwischen Diskriminierungserfahrungen und der Entstehung psychischer Symptomatik bedeutet eine Abweichung von vielen psychopathologischen Modellen, die Symptomursachen auf der innerpsychischen oder neurobiologischen Ebene erforschen. Indem sie Kontextfaktoren eine prioritäre Bedeutung beimisst, grenzt sich die kultursensible Haltung vom einer Gleichheitsauffassung ab, welche von der Prämisse ausgeht, alle Menschen einheitlich zu behandeln, unabhängig von Merkmalen, die für ihre Identität und Problemwahrnehmung subjektiv wichtig sind.

Praxisimplikationen

Da Personengruppen mit diversen soziokulturellen Hintergründen sehr heterogen sind, sind methodische Anpassungen in psychotherapeutischen Prozessen nicht zwangsläufig notwendig. Im Fall divergierender Krankheitskonzepte ermöglichen kulturvergleichende Ansätze, kulturelle Besonderheiten im Symptomverständnis und in der Beziehungsgestaltung zu erkennen. Ein dynamisches Kulturverständnis wiederum trägt zur differenzierten Berücksichtigung möglicher Diskrepanzen und zur Anpassung des professionellen Handelns am jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Kontext bei. Derartige Anpassungen umfassen in der Regel drei Hauptbereiche: eine dialogische Haltung, einen Fokus auf den soziokulturellen Kontext und unter Umständen ein aktives, supportives Vorgehen.

Dialogische Haltung

Um die Bedeutung von Symptomen zu verstehen und sich mit Betroffenen auf für sie angebrachte Behandlungskonzepten zu einigen, wird eine dialogische Haltung und die Fokussierung auf Krankheitsnarrationen vorgeschlagen (Groleau et al. 2006; Lakes et al. 2006). Diese Haltung stellt zwar Grundprämisse mehrerer psychotherapeutischer Ansätze dar und kommt womöglich auch in der Praxis von Fachkräften vor, die auf der Basis theoriegeleiteter Erklärungsmodelle für Symptome und Erkrankungen ausgehen. Was aber den transkulturellen Ansatz kennzeichnet, ist die verstärkte Auseinandersetzung mit soziokulturellen Entstehungs- und Aufrechterhaltungsfaktoren von psychischen Erkrankungen. In interkulturellen Behandlungskontexten geschieht dies häufiger oder intensiver als das in Psychotherapien mit nicht zugewanderten Menschen der Fall ist. Eine dialogische Haltung zielt, wenn nötig, auf die Exploration kulturgeprägter Erklärungen für die vorliegenden Probleme und setzt die Einbeziehung von Laienerklärungen in den Behandlungsprozess voraus. In diesem Prozess wird es möglich, Selbstkonzepte, Familienbeziehungen oder Weltbilder, die vielen psychotherapeutischen Modellen unüblich sind, explizit zu machen und den therapeutischen Prozess dementsprechend anzupassen (Desai und Chaturvedi 2017; Kuo 2004). Weiters bietet sie die Möglichkeit, kulturspezifische Ressourcen wie z. B. die spirituelle Neigung vieler Klient*innen und Praktiken wie Beten im therapeutischen Prozess zu integrieren. Die Technik des kultursensitiven Refraiming (Erim 2009), wodurch kulturspezifische Werte therapeutisch eingesetzt werden, folgt dieser Logik und ist mit dem transkulturellen Ansatz konform, da sie hilfreiche Elemente und Gemeinsamkeiten zwischen beiden Zugängen identifiziert. Im genannten Fall wird beispielsweise erkannt, dass religiöse Praktiken, die nicht zum üblichen Repertoire psychotherapeutischer Methoden gehören, therapeutischen Zielen dienen können, wenn sie sinnstiftend wirken und Abstand vom behandelten Problem, Perspektivenwechsel oder Alltagsstrukturierung ermöglichen.

Fokus im soziokulturellen Kontext

Ein Bereich, in dem Anpassungen erforderlich sein können, betrifft die Ebene und Wirkung von Interventionen. Viele psychotherapeutische Interventionen stellen das Individuum und seinen Wirkungsbereich in den Mittelpunkt (Kirmayer 2007), während therapeutische Anliegen in interkulturellen Settings häufig durch soziale, kulturelle und politische Sachverhalte bedingt werden. Zudem hat organisierte Gewalt, vor der viele zugewanderte Menschen fliehen, die Zerstörung von gesellschaftlichen Strukturen als Ziel und Folge (Blanco et al. 2016). Wenn soziale Gemeinschaften mit Absicht zerstört und Menschen getötet oder existenziell bedroht werden, sind die eigenen Emotionen eine beträchtliche aber unvollständige Komponente des Erlebens von Betroffenen. Gleichzeitig mit dem Bedarf, zu trauern und mit belastenden Gefühlen umzugehen, sind Überlebende einerseits mit praktischen Angelegenheiten wie ihrer Existenzsicherung und andererseits mit Fragen sozialer Ungerechtigkeit konfrontiert. Aus diesem Grund können individuell fokussierte Interventionen unter Umständen an Grenzen stoßen, wenn sie etwa Probleme mit sozialen Wurzeln medikalisieren und die eigenverantwortliche Förderung des individuellen Wohlbefindens als einzige Antwort bieten (Hernández 2002; Summerfield 2004). Ähnlich kann ein enger Fokus auf Selbstkontrolle und persönliches Wachstum soziale und politische Ungerechtigkeiten verschleiern und Betroffene zusätzlich viktimisieren, wenn er als Zuschreibung mangelhafter Motivation kommuniziert bzw. interpretiert wird (Yakushko 2018). Gleichzeitig ist es wichtig, zu beachten, dass nicht Interventionen an sich zwangsläufig negative Effekte in interkulturellen Settings haben, sondern dass ihre Wirkung von der Einbettung in den sozialen Kontext des Problemursprungs und den aktuellen Lebensbedingungen abhängt. In diesem Zusammenhang hebt Erim (2009) spezifische Übertragungs- und Gegenübertragungskomponenten hervor, die sich aus der ethnischen Zugehörigkeit der Beteiligten ergeben und als solche in interkulturellen Psychotherapiesettings behandelt werden sollen. So kommt häufig vor, dass Klient*innen Psychotherapeu*innen mit gemeinsamen Wurzeln idealisieren und ihnen besondere Fähigkeiten zuschreiben, psychische und kulturelle Sachverhalte zu verstehen. Möglich ist auch, dass sich Psychotherapeut*innen mit sozialen und politischen Anliegen von Klient*innen identifizieren, was diese Komponenten eines Problems überbetont und zur Vernachlässigung des therapeutischen Auftrags führen kann. Aspekte einer Opfer-Täter-Beziehung können ebenso die Übertragungs- und Gegenübertragungsebene färben und sollten erkannt und behandelt werden. Beispielsweise kann die Staatsbürgerschaft, die ethnische Zugehörigkeit oder der rechtliche Status der Psychotherapeut*innen latent oder explizit zu Annahmen über Ihre Fähigkeit oder Bereitschaft führen, die Situation der Klient*innen zu verstehen.

Supportive Methoden

Unterschiedliche Problemauffassungen und die vulnerable Lage, in der sich ethnische Minderheiten und Menschen mit Migrations- oder Fluchthintergrund häufig befinden, wirken sich auch auf die Ziele von psychotherapeutischen Prozessen aus. Aus diesem Grund wird auf die Bedeutung einer aktiven Haltung und supportiver Methoden in der Psychotherapie hingewiesen (Erim 2009). Insbesondere neu angekommene Personen sind mit der Anpassung an neuartigen Gegebenheiten befasst, welche vielfältige innere und äußere Ressourcen erfordert. Hinzu kommt die Tatsache, dass die neuen Herausforderungen gleichzeitig mit der Bewältigung von Verlusten gemeistert werden sollen. Dies stellt ein Spezifikum der Psychotherapie im Migrationskontext dar, welches methodisch einen zweifachen Fokus auf gegenwärtige und vergangene Ereignisse impliziert, wobei die aktuellen Herausforderungen aufgrund ihrer Dringlichkeit richtungsweisend sind.

Zusammenfassung

Ziel dieses Beitrags war, zu zeigen, welche kulturellen und strukturellen Besonderheiten Psychotherapie im Migrationskontext beeinflussen. Kulturelle Besonderheiten umfassen Unterschiede in Gesundheits- und Krankheitsvorstellungen und sind häufig mit sozialer Benachteiligung verbunden. Strukturelle Benachteiligung ergibt sich aus Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen, die viele zugewanderte Personen sowohl in den Herkunftsländern als auch im Gastland erleben. Ansätze der transkulturellen Psychiatrie, der interkulturellen Kommunikation und der transkulturellen Kompetenz erweitern das Wissen über Krankheitsverständnis und Weltanschauungen und ermöglichen die Auseinandersetzung mit individuellen Lebenslagen. Sie müssen allerdings auf einer dynamischen und reflexiven Auffassung von Kultur fußen und von einer Reflexion über die soziokulturellen Implikationen des psychotherapeutischen Prozesses begleitet werden.