Einleitung

Neben Klärung und Konfrontation ist die Deutung eine der drei Grundtechniken psychoanalytischer Behandlung. Sie dient dazu unbewusste Motive und Absichten, die unser Handeln bestimmen, bewusst zu machen (Körner 2015). Dieser Prozess soll es ermöglichen unbewusste Dynamiken zu bearbeiten und zu einer veränderten Auseinandersetzung mit der Innen- und Außenwelt führen (Thomä und Kächele 2006). Bisherige Erkenntnisse zur Deutung stammen vorwiegend aus Effectiveness-Studien. In solchen Untersuchungen werden die Daten unter Realbedingungen in laufenden Psychotherapien erhoben. Die vorliegende Pilot Studie wurde als experimentelle Untersuchung im Sinne der Prozessforschung durchgeführt. Das bedeutet, dass die Datenerhebung unter neutralen Bedingungen im Labor stattfand, um die Wirkungsweise einer bestimmten psychoanalytischen Technik (Deutung) zu untersuchen. Dadurch war es möglich andere Einflussfaktoren, wie sie in einer laufenden Therapie eine Rolle spielen (therapeutische Allianz, Übertragung) zu kontrollieren. Ziel dieses Vorgehens war es eine neue Möglichkeit zur experimentellen Untersuchung der Deutung zu erproben und erste Daten zu psychophysiologischen Reaktionen auf die Deutung zu erheben. Dabei wurde besonderer Wert auf die Operationalisierung der unabhängigen Variable (Deutung), sowie der abhängigen Variablen (Biofeedback, MDBF) gelegt. Die Untersuchung wurde im Rahmen einer Masterarbeit im Fach Psychologie an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck geplant und durchgeführt. Im folgenden Abschnitt werden Forschungsergebnisse präsentiert, auf denen diese Untersuchung aufbaut.

Empirische Forschung zur psychoanalytischen Deutung

In früheren Untersuchungen wurde der Einfluss der Deutung auf den Therapieerfolg untersucht. Ein Review-Artikel von Orlinsky und Howard (1986) fasste 22 solcher Studien zusammen und kam zu dem Ergebnis, dass nur die Hälfte der Untersuchungen einen positiven Zusammenhang zwischen Deutung und Therapierfolg nachweisen konnten. In drei Studien zeigte sich sogar ein negativer Effekt.

Daraufhin rückte vermehrt die Frage in den Fokus, was eine Deutung wirksam macht. Mc Cullough et al. (1991) zeigten, dass sich affektive Reaktion auf eine erhaltene Deutung positiv auf den Erfolg der Therapie auswirken. Defensive Reaktionen hatten den umgekehrten Effekt. Ein weiterer wichtiger Indikator für den positiven Effekt von Deutungen ist deren Genauigkeit. In Untersuchungen wurde diese mit Hilfe des CCRT (Core Conflictual Relationship Theme) von Lester Luborsky geratet. Wenn die Deutungen diese zentralen Konfliktthemen in den Fokus stellten, waren sie mit einem positiveren Therapie Outcome verbunden (Crits-Christoph et al. 1988; Stigler et al. 2007).

Høglend et al. (2008) zeigten erstmals in einer experimentell angelegten Untersuchung im RCT Design, dass Patient_innen mit einer niedrigen Qualität der Objektbeziehungen, stärker von Übertragungsdeutungen in der Therapie profitierten, als jene mit hoher Qualität der Objektbeziehungen. Diese Forschungsergebnisse finden in Therapieformen, wie etwa der Übertragungsfokussierten Psychotherapie (TFP), ihre Anwendung (Levy und Scala 2012). Bei dieser Behandlungsform werden Verbesserungen der Symptomatik, durch eine hohe Frequenz an Deutungen (Übertragungsdeutungen) erreicht (Clarkin et al. 2001).

Psychophysiologie der Emotion

Buchheim und Kächele (2015) verwiesen in ihrem Artikel zur Rolle der Neurowissenschaft für die Psychoanalyse darauf, welche Möglichkeiten die Kooperation mit angrenzenden Forschungsgebieten für die psychotherapeutische Prozessforschung haben kann. In Anlehnung daran und an die Ergebnisse von Mc Cullough et al. (1991) war Ziel der vorliegenden Studie psychophysiologische Reaktionen auf die Deutung zu erheben. Das Biofeedback erlaubt als unabhängiges Maß für Erregungszustände, Rückschlüsse auf emotionale Reaktionen und hat gegenüber der Beobachtung den Vorteil, dass es von den Proband_innen selbst kaum manipuliert werden kann und damit unbewusste Prozesse untersucht werden können.

Eine exakte Differenzierung der erlebten Emotion eines Menschen mittels Biofeedbacks ist nur bedingt möglich (Larsen et al. 2008). Jedoch lassen sich zwei Dimensionen der Emotion damit bestimmen. Herzfrequenz, Herzratenvariabilität und Atemfrequenz können Auskunft darüber geben, ob eine Emotion als angenehm oder unangenehm empfunden wird (Lang et al. 1998). Die elektrodermale Aktivität (Hautleitfähigkeit) kann Auskunft über die Stärke der emotionalen Aktivierung geben (Mauss und Robinson 2009). Studien zu impliziter Angst zeigten, dass auch unbewusst erlebte Emotionen physiologisch messbar sind (Weinberger et al. 1979; Asendorpf und Scherer 1983).

Untersuchung

Im folgenden Abschnitt wird das Untersuchungsprozedere vorgestellt. Zunächst werden die Hypothesen beschrieben, die wir aus den theoretischen und empirischen Erkenntnissen ableiteten.

Hypothesen

  1. 1.

    Unter Berücksichtigung der oben präsentierten Forschungsergebnisse gehen wir in der ersten Hypothese davon aus, dass die präsentierten personalisierten Deutungen mit messbaren, emotionalen Reaktionen (Biofeedback, MDBF) assoziiert sind.

  2. 2.

    Aus der psychoanalytischen Literatur ist bekannt, dass es neben bewussten auch unbewusste Reaktionen auf Deutungen gibt (Thomä und Kächele 2006). Auf Basis dieser Befunde erwarten wir in der zweiten Hypothese Unterschiede zwischen gemessener Reaktion (Biofeedback) und selbstberichteter Reaktion (MDBF). Wir nehmen dabei an, dass dieser Unterschied mit einer „annehmenden“ oder „ablehnenden“ Reaktion auf die Deutung in Zusammenhang stehen sollte.

  3. 3.

    Als dritte Hypothese nehmen wir, auf Basis der Ergebnisse von Høglend et al. (2008) zur Rolle der Deutung für Patient_innen mit niedriger Struktur und den Forschungsbefunden zu den Effekten der Übertragungsfokussierten Psychotherapie (Clarkin et al. 2001) an, dass die psychische Struktur der Proband_innen ihre Reaktion auf die Deutung beeinflusst.

Methoden

Bei der Untersuchung dieser Hypothesen kamen die folgenden Methoden zur Anwendung.

Erstellung der Deutung mittels OPD-2 Diagnostik

Die Operationalisierung der Deutung wurde durch die hoch standardisierte Anwendung der OPD‑2 sichergestellt. Die Achse II der OPD‑2 ermöglicht eine reliable und valide Einschätzung der Beziehungsdynamik und liefert ein strukturiertes Vorgehen, wie diese in eine Formulierung der Beziehungsdynamik umgewandelt wird (Arbeitskreis OPD 2006). Um die valide Anwendung der Diagnostik sicherzustellen, absolvierte der Versuchsleiter einen OPD-Aufbaukurs im Ausmaß von 20 AE. Der Versuchsleiter führte alle Interviews mit den Proband_innen durch, erstellte anschließend die beziehungsdynamischen Formulierungen und formulierte diese in Deutungen der Beziehungsdynamik um. Dieser Prozess soll nun beschrieben werden.

Auf der Achse II der OPD‑2 wird das Beziehungserleben auf vier interpersonellen Positionen eingestuft. Dabei werden zwei Perspektiven eingenommen: die Perspektive des/der Patient_in und die Perspektive der „Anderen“ (auch des/der Untersucher_in).

In der vorliegenden Studie wurde ein OPD‑2 Interview durchgeführt, in dem die Proband_innen von drei als schwierig erlebten Situationen mit ihren wichtigsten Bezugspersonen erzählen sollten. Aus diesem Interview wurden mittels Itemliste repetitive und dysfunktionale Verhaltensweisen ausgewählt, die das individuelle Beziehungsmuster am besten beschreiben.

Die ausgewählten Items wurden in das in Abb. 1 dargestellte Schema eingesetzt, um zu einer Formulierung der Beziehungsdynamik zu kommen.

Abb. 1
figure 1

OPD‑2 Schema zur Formulierung der Beziehungsdynamik. (Arbeitskreis OPD 2006, S. 197)

Daraus wurde anschließend für jede/n Teilnehmer_in eine individuelle Deutung formuliert, die ihnen ihre unbewusste Beziehungsdynamik zugänglich machen sollte. Eine nach diesem Schema erstellte Deutung war zum Beispiel:

  • Ist es möglich, dass Sie in sozialen Beziehungen oft das Gefühl haben, dass Andere Ihnen Vorwürfe machen oder Sie übersehen? Erleben Sie sich als jemanden, der sich immer wieder zurückzieht?

    Kann es sein, dass Andere Sie als jemanden erleben, der in Konflikten jede Schuld von sich weist und sich generell oft zurückzieht? Sollte dies zutreffen, ist es dann vorstellbar, dass Andere Ihnen deshalb immer wieder Vorwürfe machen und Sie manchmal übersehen? (Die kursiv gesetzten Formulierungen sind die ausgewählten Items aus der OPD‑2 Liste)

Versuchsaufbau

Im ersten Teil wurde ein semi-strukturiertes OPD-2-Interview mit Fokus auf die Achse II (Beziehung) durchgeführt (Arbeitskreis OPD 2006). Nach dem Interview wurde, wie bereits beschrieben für jede Versuchsperson eine individuelle Deutung formuliert.

Im zweiten Teil der Studie lasen die Teilnehmer_innen die „neutrale Episode“, die „Beziehungsepisode“ und die „Deutungsepisode“ nacheinander von einem Computerbildschirm ab, während die Biofeedback-Messung durchgeführt wurde. Nach jeder Episode wurden die Proband_innen, mittels Anweisung auf dem Bildschirm gebeten, einen bereitliegenden MDBF Fragebogen (Mehrdimensionaler Befindlichkeitsfragebogen) auszufüllen, der die selbstberichtete-emotionale Reaktion maß (Steyer et al. 1997). Nach der Deutungsepisode, die der letzte Stimulus war, füllten die Teilnehmer_innen den IPO 16 (Inventar der Persönlichkeitsorganisation) aus (Zimmermann et al. 2015). Am Ende des Experiments wurde mittels eines kurzen Fragebogens erhoben, ob die die Deutung als zutreffend erlebt wurde. Diese „Reaktion auf die Deutung“ wurde anhand dreier einfacher Aussagen erhoben (Die in Frage 3 formulierten Thesen treffen auf mich zu; Frage 3 beschreibt Mechanismen, die meine Beziehungen beeinflussen; Frage 3 hat mir etwas Neues über meine Beziehungen vermittelt). Die Proband_innen schätzten diese Aussagen mittels einer Likert-Skala ein.

Neutrale Episode

Die neutrale Episode fungierte als Baseline. Es wurde eine Frage gewählt, die zu keiner emotionalen Reaktion führen sollte. Die neutrale Episode lautete immer: „Ist es richtig, dass Sie im Moment vor einem Computerbildschirm sitzen, von dem Sie Fragen ablesen?

Beziehungsepisode

Es wurde nach einem Konflikt gefragt, den die Versuchsperson im vorherigen Interview geschildert hatte. Ziel war es die Reaktion auf die bloße Erinnerung an einen Konflikt zu erheben. Zum Beispiel: „Ist es richtig, dass Sie mit einem Freund einen Konflikt hatten, als Sie eine gemeinsame Südtirol-Reise planten?

Biofeedback

In der vorliegenden Untersuchung wurde das Biofeedback zur Messung der Herzfrequenz, der Herzratenvariabilität, der Hautleitfähigkeit und der Atemfrequenz eingesetzt.

Die durchschnittliche Herzfrequenz liegt im Ruhezustand zwischen 60 und 80 Schlägen pro Minute (Bruns und Praun 2002). Der Hautleitwert-EDA (elektrodermale Aktivität) gibt Auskunft über „messbare Veränderungen bioelektrischer Eigenschaften der Haut“ (Bruns und Praun 2002, S. 19). Die Werte liegen meist zwischen 1 und 15 μS. Die Hautleitfähigkeit ist ein guter Indikator für Aktivierung (Bruns und Praun 2002). Außerdem wurde die respiratorische Aktivität (Atemfrequenz) gemessen. Im Ruhezustand beträgt diese 12–15 Atemzüge pro Minute (Gramman und Schandry 2009).

Angewandte statistische Auswertung

Die deskriptiv- und inferenzstatistischen Analysen dieser Untersuchung wurden mit dem Computerprogramm IBM SPSS Statistics 24 durchgeführt. Entsprechend der Irrtumswahrscheinlichkeit wurde das Signifikanzniveau auf α = 5 % festgelegt. Dadurch wurde bei der Hypothesenprüfung ein Ergebnis mit p ≤ 0,05 als signifikant angesehen (Bortz und Schuster 2010).

Durch die kleine Stichprobe von 20 Versuchspersonen erwiesen sich nicht alle Variablen als normalverteilt. Die Normalverteilung wurde mittels Kolmogorov-Smirnov-Tests und Shapiro-Wilk-Tests überprüft. Aus diesem Grund wurden alle Unterschiedshypothesen sowohl mit parametrischen als auch mit nicht-parametrischen Verfahren untersucht.

Um die Unterschiede zwischen den verschiedenen Messzeitpunkten zu berechnen, wurden der T‑Test und der Wilcoxon-Test für verbundene Stichproben verwendet. Die Hypothesentestung für Gruppenunterschiede wurde mit dem T‑Test und dem Mann-Whitney-U-Test für unabhängige Stichproben durchgeführt. Die Varianzhomogenität wurde dabei mittels Levene-Tests überprüft. Um die Zusammenhänge zwischen Variablen zu berechnen, wurde die Spearman-Korrelation verwendet.

Stichprobe

Die Proband_innen wurden per E‑Mail über den Server der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck angeworben. 24 Personen absolvierten den ersten Teil der Studie, von denen wiederum 20 auch den zweiten abschlossen. Unter den Proband_innen waren 16 Frauen und 4 Männer im Alter zwischen 19 und 43 Jahren. Der Altersdurchschnitt betrug 25,89 Jahre. 4 Teilnehmer_innen hatten bereits Erfahrungen mit Psychotherapie.

Ergebnisse

Im folgenden Abschnitt werden die Ergebnisse der Untersuchung dargestellt.

Hypothese 1: Messbare emotionale Reaktionen

Herzrate

Die Befunde zeigen, dass die Werte der Herzrate bei Betrachtung der Deutung niedriger waren als bei der neutralen Episode (T-Test: p = 0,025; Wilcoxon: p = 0,030) und als bei der gesamten Messung (T: p = 0,011, W: p = 0,017). Die Daten zur Herzratenvariabilität wurden nicht zur Hypothesenprüfung verwendet, da die Stimuli zu kurz betrachtet wurden, um diese Variable valide messen zu können (Krüger 2012).

Atemfrequenz

Die Atemfrequenz war ebenfalls bei der Deutung am niedrigsten. Jedoch nur zwischen gesamter Messung und Deutungsepisode war dieser Unterschied signifikant (T: p = 0,003, W: p = 0,003). Die Atemfrequenz war bei der Deutung niedriger als bei der Beziehungsepisode (T: p = 0,049, W: p = 0,086). Dieser Unterschied ließ sich jedoch im Gegensatz zu den anderen Unterschieden nicht durch den Wilcoxon-Test bestätigen. Die Beziehungsepisode unterschied sich nicht von der neutralen Episode (Abb. 2, 3 und 4).

Abb. 2
figure 2

Mittelwerte der Herzrate über die verschiedenen Messzeitpunkte

Abb. 3
figure 3

Mittelwerte der Atemfrequenz über die verschiedenen Messzeitpunkte

Abb. 4
figure 4

Mittelwerte der Hautleitfähigkeit über die verschiedenen Messzeitpunkte

Hautleitfähigkeit

Die Hautleitfähigkeit unterschied sich nicht signifikant zwischen den Messzeitpunkten. Die Daten zeigen große interindividuelle Unterschiede (vgl. Abb. 5). In 8 von 17 Fällen ist der Hautleitwert bei der Deutung am höchsten, bei der Beziehungsepisode am zweithöchsten und bei der neutralen Episode am niedrigsten war. In 13 von 17 Fällen war der Hautleitwert bei der Deutung höher als bei der neutralen Episode.

Abb. 5
figure 5

Werte der Hautleitfähigkeit der einzelnen Proband_innen über die verschiedenen Messzeitpunkte

Selbstberichtete emotionale Reaktion mittels MDBF

Aus den Werten des MDBF (GS-Skala-gute/schlechte Stimmung) lässt sich ablesen, dass die Proband_innen ihre Stimmung nach dem Lesen der Deutung als etwas schlechter einstuften, als bei der neutralen Episode (T: p = 0,017; W: p = 0,020). Zwischen Beziehungsepisode und Deutung zeigen die Befunde keine signifikanten Unterschiede bezüglich der selbst eingestuften Stimmung (T: p = 0,759). Nach dem Lesen der Beziehungsepisode wurde die Stimmung als etwas niedriger bewertet als nach der neutralen Episode (T: p = 0,005).

Die Teilnehmer_innen gaben an nach dem Lesen der Deutung etwas müder zu sein (Wachheit/Müdigkeit-Skala), als nach der neutralen Episode (T: p = 0,004; W: p = 0,006) und nach der Beziehungsepisode (T: p = 0,022; W: p = 0,025).

Nach Auswertung dieses Daten kann unsere erste Hypothese angenommen werden. Die personalisierten Deutungen führten zu emotionalen Reaktionen, die mittels Biofeedbacks und MDBF messbar waren.

Hypothese 2: Unbewusste Reaktionen

Wie in den Abb. 6, 7 und 8 zu sehen ist, bewerteten 85 % der Versuchspersonen die Deutung als zutreffend. 80 % gaben an, dass sie Mechanismen beschreibt, die ihre Beziehungen beeinflussen. 55 % kamen zu der Einschätzung, die Deutung habe ihnen etwas Neues über ihre Beziehungen vermittelt.

Abb. 6
figure 6

Antworten auf Frage 1: Fragebogen-Reaktion auf die Deutung

Abb. 7
figure 7

Antworten auf Frage 2: Fragebogen-Reaktion auf die Deutung

Abb. 8
figure 8

Antworten auf Frage 3: Fragebogen-Reaktion auf die Deutung

Um den Einfluss einer annehmenden oder ablehnenden Reaktion auf die Deutung zu überprüfen, wurden die Daten mittels des Fragebogens zur „Reaktion auf die Deutung“ aufgeteilt. Alle Werte von Minimum bis zum Mittelwert wurden der Gruppe „ablehnend“ zugeteilt, während die restlichen Werte in die Gruppe „annehmend“ kamen. In der Gruppe „ablehnend“ war bessere selbst eingeschätzte Stimmung mit einer höheren Atemfrequenz, beim Lesen der Deutung, assoziiert (Spearman: r = 0,684, p = 0,020). Bei der Gruppe „annehmend“ war schlechtere selbsteingeschätzte Stimmung mit einer höheren Atemfrequenz assoziiert (Spearman: r = −0,509, p = 0,162). Jedoch war der Zusammenhang bei dieser Gruppe nicht signifikant.

Diese Ergebnisse lassen uns auch die zweite Hypothese annehmen. Die Daten zeigen einen unterschiedlichen Zusammenhang zwischen der gemessen emotionalen Reaktion und der selbsteingeschätzten Reaktion, je nachdem, ob die Deutung angenommen oder abgelehnt wurde.

Hypothese 3: Einfluss der psychischen Struktur

Es konnte kein signifikanter Effekt hinsichtlich der Struktur, gemessen mit dem IPO 16 (Inventar der Persönlichkeitsorganisation) (Zimmermann et al. 2015), identifiziert werden. In der deskriptiven Statistik zeigt sich jedoch ein Trend bezüglich der Hautleitfähigkeit. Diese war bei Proband_innen mit niedrigerer Struktur (M = 3,5800) deutlich höher als bei der Gruppe mit höherer Struktur (M = 2,1790). Dieser Unterschied war jedoch nicht signifikant.

Die dritte Hypothese muss auf Grund der vorliegenden Daten verworfen werden, da keine signifikanten Unterschiede bezüglich Struktur und emotionaler Reaktion identifizierbar waren.

Diskussion

Auf Grund des hoch standardisierten Vorgehens bei der Formulierung der Deutung und der validen Operationalisierung der OPD‑2 gingen wir von einer grundsätzlichen Validität der erstellten Deutungen in der vorliegenden Untersuchung aus (Arbeitskreis OPD 2006). Thomä und Kächele (2006) erläutern, dass die Deutung die Aufgabe hat, dem Patienten seine unbewussten Dynamiken zur Verfügung zu stellen, damit er diese bearbeiten und in den Kontext der Auseinandersetzung mit der Umwelt setzen kann. Diesen Kriterien entsprechen die verwendeten beziehungsdynamischen Formulierungen in der an die Proband_innen adressierten Form. Damit erfüllen sie auch inhaltlich die Anforderungen einer Deutung, weshalb wir uns für diese Vorgehensweise entschieden. Der Großteil der Proband_innen erlebte die individuell erstellte Deutung als zutreffend, was für eine geglückte Anwendung der OPD‑2 Diagnostik zur Formulierung der Deutungen in dieser Untersuchung spricht. Jedoch beinhaltete diese für nur etwas weniger als 50 % eine neue Erkenntnis über ihre Beziehungen. Daraus schließen wir, dass ein Teil der gedeuteten Psychodynamik den Versuchspersonen bewusst oder zumindest vorbewusst war.

Auf den Biofeedback-Parametern zeigen sich messbare, emotionale Reaktionen auf die experimentell erstellte Deutung. Die Atemfrequenz und die Herzrate waren am niedrigsten, während die Probanden die Deutung lasen. Das kann ein Hinweis auf einen unangenehmen Stimulus sein (Lang et al. 1998). Eine niedrige Atemfrequenz kann bei Angst oder auch bei Freude auftreten (Rainville et al. 2006).

Die niedrigere Herzrate und niedrige Atemfrequenz lassen sich dahingehend interpretieren, dass die Deutung einerseits einen Reflexionsprozess auslöste (eine Probandin schilderte das Lesen der Deutung als eine Art „gedankliches Zurücklehnen“) und dass dieser als unangenehm empfunden wurde. Auch wenn der Unterschied zwischen den gemessenen Hautleitfähigkeiten nicht signifikant war, ließe er sich gut in diese Interpretation einfügen. Die fehlende Signifikanz erklärt sich zum Teil auch durch die kleine Stichprobe. Da die Ruhewerte des Hautleitwerts stark schwanken (zwischen 1–15 μS) (Gramman und Schandry 2009), wäre wohl erst bei einer größeren Stichprobe mit signifikanten Ergebnissen zu rechnen. Die Hautleitfähigkeit dient vor allem als Indikator für Erregung (Lang et al. 1998). Die eher geringen Unterschiede auf dieser Skala sprechen dafür, dass die gegebene Deutung die Probanden, auf diesem Parameter nicht sehr stark aktiviert hat. Dies passt wiederum zu der Schlussfolgerung, dass die Deutung eher einen bewusstseinsnahen Reflexionsprozess in Gang gesetzt hat. Wären die Deutungen konfrontativer ausgefallen, wären auch höhere Hautleitwerte zu erwarten gewesen.

Aus der psychotherapeutischen Praxis ist bekannt, dass auch eine abgelehnte Deutung nicht immer falsch sein muss. Vor allem konfrontativen Deutungen wird oft mit Abwehr und Widerstand begegnet (Körner 2015). Nach Thomä und Kächele (2006) kann die Deutung auch dann wirksam sein, wenn sie zurückgewiesen wird. Eine Untersuchung von Kehyayan et al. (2013) zeigte, dass Abwehrprozesse (Verdrängung) mit erhöhter Erregung (Hautleitfähigkeit) assoziiert sind. Auf Grund dieser Befunde und der guten Validität der OPD‑2 gelangten wir zu der Hypothese, dass eine ablehnende Reaktion auf die Deutung mit Abwehrprozessen zu tun haben könnte. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie zeigen, dass Proband_innen, welche die Deutung ablehnten, ihre Stimmung bei der Deutung als positiv einstuften, während ihre Atemfrequenz hoch war. Da der Zusammenhang zwischen Atemfrequenz und selbsteingeschätzter Stimmung in der anderen Gruppe umgekehrt war, lässt sich feststellen, dass die selbstberichtete emotionale Reaktion und die gemessene Aktivierung nicht zusammenpassen. Die Emotionsforschung zeigt, dass auch unbewusste Emotionen messbar sind (Weinberger et al. 1979; Pally 2005). Daraus schlussfolgern wir, dass die Deutung bei den Proband_innen der „ablehnend Gruppe“ eine unbewusste emotionale Reaktion auslöste und ein Abwehrprozess ablief, der das Bewusstwerden dieser Reaktion verhinderte.

Studien haben gezeigt, dass Patient_innen mit einer niedrigen Qualität der Objektbeziehungen sich bezüglich ihres interpersonellen Funktionsniveaus am meisten in Therapien, die Deutungen beinhalteten, verbesserten (Connolly et al. 1999; Høglend et al. 2008). Es konnten zwar keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen identifiziert werden, dennoch zeigte sich der Trend, dass Proband_innen mit niedrigerem Strukturniveau eine höhere Hautleitfähigkeit bei der Deutung hatten. Das würde bedeuten, dass Menschen mit niedrigerem Strukturniveau ggf. stärker auf Deutungen reagieren.

Limitationen

Die Stichprobe unserer Untersuchung war auf Grund ihrer Größe und Zusammensetzung nicht repräsentativ. Sie bestand nur aus Student_innen ohne aktuelle psychische Erkrankung und das Geschlechter-Verhältnis war nicht ausgeglichen.

In der vorliegenden Untersuchung wurde sowohl bei der Erstellung als auch bei der Applikation der Deutung der Fokus auf die Operationalisierung gelegt. Informationsquellen, die in einer laufenden Therapie zur Erstellung von Deutungen verwendet werden (therapeutische Beziehung, therapeutischer Prozess, Übertragung) kamen in dieser Studie nicht zur Anwendung. Dadurch unterscheiden sich die untersuchten Deutungen von denen in einer Psychotherapie unter Realbedingungen. Ob man hierbei von klassischen psychoanalytischen Deutungen sprechen kann, lässt sich sicher ebenso diskutieren, wie die sich daraus ergebende Frage der ökologischen Validität der Ergebnisse.

Zudem hat der Versuchsaufbau diverse Schwachstellen. In der deskriptiven Statistik zeigte sich, dass die neutrale Episode teils höhere Werte erzielte als die Deutung und die Beziehungsepisode. Möglicherweise auf Grund einer gewissen Erwartungshaltung gegenüber dem zweiten Teil der Untersuchung. Die Herzratenvariabilität konnte nicht verwendet werden, da die Stimuli zu kurz betrachtet wurden, um diese valide berechnen zu können.

Fazit

In dieser Pilot-Studie konnte ein experimenteller Untersuchungsaufbau vorgestellt werden, um sowohl physiologische als auch emotionale Reaktionen auf personalisierte psychoanalytische Deutungen zu untersuchen. Dafür wurden für 20 Versuchspersonen operationalisierte psychoanalytische Deutungen erstellt, standardisiert appliziert und die jeweiligen Reaktionen gemessen. Die physiologisch-messbaren Reaktionen auf die Deutung unterschieden sich von den Reaktionen auf andere Stimuli. Die Biofeedback-Messung erwies sich hierbei als valides Instrument, um die emotionale Aktivierung der Proband_innen zu erheben. In Kombination mit den Selbstberichtsfragebögen waren Rückschlüsse auf unbewusste emotionale Reaktionen der Proband_innen möglich.