Dank eines Fusionsregelkreises werden unsere Augen unabhängig von der Blickrichtung und Sehentfernung in der richtigen Vergenzstellung gehalten, sodass die Bilder beider Augen zur Deckung gebracht und Einfachsehen ermöglicht wird. Es liegt Orthophorie vor. Entspricht die Vergenz nicht der Sehentfernung so spricht man von einer Heterophorie oder latentem Schielen, einer Abweichung wie sie beim Großteil der Menschen zu finden ist. Erst wenn die Abweichung nicht mehr fusionell überwunden werden kann, treten asthenope Beschwerden in Form von Kopfschmerzen, intermittierenden Doppelbildern, Blendempfindlichkeit, Visusschwankungen, retrobulbärem Schmerz oder Konzentrationsstörungen auf. Auch wenn der Pathomechanismus unklar ist und andere Faktoren wie Akkommodationsstörungen, Aniseikonie oder das Sicca-Syndrom ähnliche Beschwerden hervorrufen [1], ist die Therapie der Wahl ein Prismenausgleich. Nicht immer führt die Behandlung allerdings zur gewünschten Beschwerdefreiheit. Internistische und neurologische Grunderkrankungen wie endokrine Störungen oder Myasthenie [2] sind daher ebenso wie ophthalmologische Ursachen auszuschließen. Auch bei der kraniomandibulären Dysfunktion (CMD) finden sich in der Literatur regelmäßig Hinweise auf asthenope Beschwerden mit Konvergenzstörungen und Diplopie [3, 4].

Hintergrund

Anhand von 3 Fallbeispielen von Patientinnen mit CMD und Beschwerdefreiheit nach Anpassung einer Aufbissschiene wird ein möglicher Zusammenhang zwischen einer kraniomandibulären Dysfunktion und Asthenopie diskutiert. Dabei werden auch die orthoptischen Befunde vor und nach der kieferorthopädischen Behandlung verglichen, und eine strukturierte Literatursuche wird der Diskussion eines möglichen Pathomechanismus zugrunde gelegt.

Material und Methode

Fall 1

Eine 42-jährige Patientin wurde nach einem Autounfall mit Schleudertrauma aufgrund von retrobulbären Druckschmerzen, Leseproblemen, intermittierenden Doppelbildern und Visusschwankungen in der Ambulanz für Schielen, Kinderophthalmologie und Rehabilitation Sehbehinderter vorstellig.

Bei unauffälligem organischem Befund lagen eine intermittierend dekompensierte Esophorie von +4° bis +6° in Ferne und Nähe (gemessen an unterschiedlichen Tagen) sowie eine nicht altersentsprechende Hypoakkommodation vor. Die Fusionsbreite in die Konvergenz war etwas reduziert, die Motilität unauffällig. Skiaskopisch zeigte sich ein geringer Astigmatismus beidseits bei einem bestkorrigierten Visus von 1,0 beidseits.

Der Ausgleich des Astigmatismus sowie ein Prismenausgleich (mehrmalige Messung und anschließend subjektive Beurteilung der Patientin [5]) brachten keine Verbesserung der Beschwerden. Aufgrund des zusätzlich vorliegenden Tinnitus und fraglich intermittierend pulssynchroner Geräusche wurde vonseiten der Hals-Nasen-Ohrenklinik eine Angiographie zum Ausschluss eines Aneurysmas eingeleitet – ohne pathologischen Befund. Schließlich erhielt die Patientin gegen ihre Kiefergelenkbeschwerden zur Diskusentlastung eine Aufbissschiene und Tizanidin-Hydrochlorid (Sirdalut®), was innerhalb von 2 Wochen zu einer deutlichen Abnahme der Augenbeschwerden und zum Verschwinden der Doppelbilder führte. Die Esophorie von +1° konnte gut kompensiert werden, es lagen kaum mehr Augenschmerzen vor, und mit der eigenen Lesebrille konnte beschwerdefrei gelesen werden. Ein eigenständig von der Patientin 2 Monate später durchgeführter „Auslassversuch der Aufbissschiene“ führte zum Wiederauftritt der ursprünglichen Symptomatik.

Fall 2

Eine 25-jährige Patientin am Studienende mit intensiver, stressreicher Computerarbeit gab einen retrobulbären Schmerz links (besonders bei Druck auf den Bulbus), ein intermittierend schräges Doppelbild und Lesestörungen an. Das bereits extern durchgeführte Computertomogramm der Orbita war unauffällig. Orthoptisch bestand eine intermittierend dekompensierte Exophorie bis −5° in der Nähe und eine positive Vertikalphorie von bis zu 1° bei normaler Fusionsbreite und altersentsprechender Akkommodation. Der ophthalmologische Befund war ebenso wie die Motilitätsprüfung, Sicca-Diagnostik und Zyklopentolatskiaskopie ohne Pathologie. Schon beim Prismentrageversuch stand fest, dass ein Ausgleich der Heterophorie aufgrund der Schwankungen nicht erfolgreich sein würde. Zur besseren Selbstbeobachtung erhielt die Patientin die Prismenleiste für daheim. Bei der Kontrolle war die Patientin beschwerdefrei. Zwischenzeitlich erhielt sie bei bekannter Zahnfehlstellung, wie schon in der Kindheit, eine Aufbissschiene zur Vorbereitung auf eine Regulierung. Seither wären auch die Augenbeschwerden deutlich besser, keine Diplopie und keine Leseprobleme mehr nachweisbar. Bei der orthoptischen Kontrolluntersuchung lag eine kompensierte Nahexophorie von −2° vor.

Fall 3

Eine 30-jährige Patientin mit bekannter saisonaler Depression wurde wegen retrobulbärem Schmerz, Augenbrennen, Visusschwankungen (anamnestisch Fern – Nahdissoziation) und intermittierend vertikaler Diplopie vorstellig. Orthoptisch lag bei normalem ophthalmologischem Befund, skiaskopischer Emmetropie und altersentsprechender Akkommodation eine intermittierend dekompensierte, konkomitante positive Vertikalphorie von 6° ohne Zyklophorie vor. Eine M.-obliquus-Dysfunktion bei negativem Bielschowsky-Kopfneigetest konnte ausgeschlossen werden. Die nach dem Prismencovertest (PCT) und subjektivem Trageversuch verordnete Prismenbrille mit insgesamt 6 pdpt (Prismendioptrien) war anamnestisch nur „manchmal“ hilfreich. Allerdings beschreibt die Patientin eine Änderung der Beschwerden beim Kaugummikauen, sodass der niedergelassene Zahnarzt gegen den im Rahmen der Depression verstärkt beobachteten Bruxismus eine Aufbissschiene anpasste. Diese wurde Tag und Nacht getragen und bewirkte erstmals eine deutliche Besserung der Diplopie, der retrobulbären Schmerzen und der Visusschwankungen. Orthoptisch war nur noch eine Vertikalphorie von maximal 2° messbar, die gut kompensiert werden konnte. Ergänzend erhielt die Patientin eine Psychotherapie.

Resultate

Bei der Heterophorie mit Asthenopie liegt ebenso wie bei der CMD ein multifaktorielles Geschehen vor, das die unterschiedlichsten Fachrichtungen vor diagnostische und therapeutische Herausforderungen stellt.

Die menschliche Anatomie bildet mit ihren strukturellen und funktionellen Netzwerken die Grundlage morphogenetischer Prozesse. Im Hinblick auf die Körperhaltung spielen die Verbindung des peripheren, aber auch zentralen und supranukleären okulomotorischen Systems mit dem trigeminalen und damit dem stomatognathen System sowie die dadurch funktionelle Zusammenarbeit der jeweils assoziierten Strukturen eine große Rolle. Störungen des Zahnbisses (Okklusion) beeinflussen über ihre Auswirkungen auf das Sehsystem nicht nur die Körperhaltung, sondern auch das Gleichgewicht, wie Studien an Piloten eindrucksvoll ergaben [6,7,8,9,10,11,12]. Sowohl Gangloff et al. als auch Lin und White postulierten eine Assoziation okulomotorischer Funktionen mit temporomandibulären Störungen (TMD), indem auf Veränderungen der Konvergenz [3, 13,14,15] und der Fusion im Sinne einer „visuellen Destabilisierung“ hingewiesen wurde. Auch wenn Studien zu Fehlbissen, Abweichungen aus der Mittellinie und deren Einfluss auf die Augenmotilität und Konvergenz begrenzt sind, stellten Beobachtungen von Monaco et al. [10] den Zusammenhang der Laterognathie des Unterkiefers mit Abweichungen der Augenstellung her. Elektromyographische Untersuchungen der Temporalismuskulatur und des M. masseter lassen vermuten, dass sich deren veränderte Funktion speziell auf jene Muskeln auswirkt, die für die Augenbeweglichkeit verantwortlich sind. Als Dysbalance der Äste im autonomen Nervensystem schließlich lässt sich der Einfluss der Okklusion bzw. Stellung der Mandibula auf die Pupillenweite interpretieren. So wurde unter anderem im Rahmen pupillographischer Untersuchungen [16,17,18,19] bei Patienten mit TMD unter forcierter habitueller Okklusion eine verengte Pupille gefunden, während sich die Pupillen der Kontrollgruppe erweiterten.

Veränderungen ossärer Strukturen müssen andererseits auch als die Augenmotilität und Augenstellung beeinflussende Faktoren bedacht werden [20]. Die Arbeitsgruppen um Milani et al. und Monaco et al. warnen vor zu schneller maxillärer Expansion, da die Kräfte nicht nur auf intermaxilläre, sondern auch auf andere Strukturen einwirken und Veränderungen der Augenstellung hervorrufen können [21,22,23,24,25,26]. Auch der okulofaziale Schmerz und dessen Ausstrahlung in andere Versorgungsgebiete des N. trigeminus verdeutlichen die Verschaltungen und Überschneidungen des orbitalen/okulären mit dem stomatognathen System.

Interessant sind die Beobachtungen, dass selbst Refraktionsfehler, insbesondere ein gehäuftes Auftreten von Myopie bei Fehlbiss der Klasse II und Astigmatismus bei Kreuzbiss auftraten [9, 27,28,29].

Es ist durchaus denkbar, dass das Tragen einer Aufbissschiene und die dadurch bedingte Änderung des Zahnbisses und/oder Entspannung der Kaumuskulatur eine Auswirkung sowohl auf ossöre orbitale Strukturen als auch auf die Konvergenz/Akkommodation und Fusion haben und damit Visusschwankungen und Lesestörungen hervorrufen können. Die Normalisierung der Akkommodation, die nachlassenden okulofazialen Schmerzen, die Verminderung der latenten Schielabweichung und damit auch der Diplopie und v. a. die neuerliche Verschlechterung des orthoptischen Befundes im Rahmen eines Auslassversuches würden dafürsprechen. Inwieweit die Abweichungen der Augenstellung auf Störungen der Motilität oder eine zentrale Dysregulation zurückzuführen waren, lässt sich retrospektiv nicht aus den Daten erheben. „Therapeutische“ Ansätze finden wir in einer einzigen Arbeit von Milani et al., in der Veränderungen (nicht Verbesserungen, da der Ausgangspunkt keine Pathologie war) der Augenstellung vor und nach dem Tragen einer Aufbissschiene beschrieben werden. Ohne differenzierte kieferorthopädische Diagnostik und Therapie, die Berücksichtigung psychosomatischer Faktoren, eine kontrollierte randomisierte prospektive Studie mit entsprechender Fallzahl und Kontrollgruppe lässt sich keine Aussage treffen. Gerade im Hinblick auf die Komplexität der Asthenopie und der CMD [30, 31], den oft langen Leidensweg der Patienten und die vielversprechenden Ansätze in der Literatur wäre eine Kooperation zwischen Kieferorthopädie und Ophthalmologie und Orthoptik erstrebenswert.

Schlussfolgerung

Im Rahmen der Literaturrecherche wurden einige Arbeiten zur Anatomie und zu neurologischen Verschaltungen zwischen dem trigeminalen und dem okulomotorischen System gefunden, die über Veränderungen der Pupillenweite, der Konvergenz und der Stellung der Augen erklären, dass zwischen Malokklusion bzw. CMD und Heterophorie mit Asthenopie ein pathomechanischer Zusammenhang bestehen kann. Randomisierte, kontrollierte Studien mit ausführlicher orthoptischer und kieferchirurgischer Diagnostik wären jedoch zur Klärung dieser Frage notwendig.