Myopie als alltäglicher augenärztlicher Vorstellungsgrund wurde lange nur bei hoher Ausprägung als Erkrankung angesehen. Verglichen mit anderen Risikofaktoren, wie z. B. Bluthochdruck für zerebralen Insult, führt jedoch bereits eine geringgradige Myopie zu einer deutlichen Risikoerhöhung hinsichtlich einer Netzhautabhebung und myoper Makulaerkrankungen [1]. Aus diesem Grund sollte die Entstehung und Progression der Myopie soweit als möglich verhindert werden.

In den letzten Jahren hat es hinsichtlich therapeutischer Möglichkeiten zur Progressionshemmung neue Erkenntnisse gegeben, die im Folgenden zusammengefasst werden sollen. Ziel dieser Arbeit ist, eine Übersicht wesentlicher Erkenntnisse für den klinischen Alltag zu liefern, für eine ausführlichere Literaturübersicht kann zum derzeitigen Zeitpunkt (2019) insbesondere auf die Zusammenfassungen des International Myopia Institutes verwiesen werden [2], abrufbar unter https://www.myopiainstitute.org/imi-white-papers.html.

Für therapeutische Empfehlungen wurden primär prospektiv randomisierte kontrollierte Studien (entsprechend Evidenzgrad Ib) und Metaanalysen (Evidenzgrad Ia) berücksichtigt.

Wirksame Therapien können derzeit in 3 Gruppen eingeteilt werden [3]:

  1. 1.

    Zeit im Freien (Inzidenz- und Progressionshemmung),

  2. 2.

    pharmakologische Therapie – Atropin (Progressionshemmung),

  3. 3.

    optische Methoden (Progressionshemmung):

    1. a.

      Bifokal‑/Gleitsichtbrillen,

    2. b.

      Multifokale Kontaktlinsen oder Kontaktlinsen mit hoher positiver sphärischer Aberration,

    3. c.

      Orthokeratologie.

Diese Therapieansätze sollen im Folgenden vorgestellt werden. Zu beachten ist, dass die Mehrheit der Studien im asiatischen Raum durchgeführt wurde und mögliche Unterschiede zwischen Ethnien in Bezug auf die Entwicklung einer Myopie oder der Wirksamkeit der therapeutischen Intervention derzeit nicht genau untersucht sind. Arbeiten zeigen für einzelne Atropin-Dosierungen in kleineren Kohorten jedoch eine vergleichbare Wirksamkeit für eine europäische Population [4]. Auch für multifokale Kontaktlinsen entsprechen Daten aus Europa dem asiatischen Durchschnitt [5].

Bestimmung der Refraktion zur Indikationsstellung

Aufgrund der Akkommodation ist ausschließlich eine Refraktionsbestimmung in Zykloplegie zur Bestimmung einer myopen Ametropie im Kinder- und Jugendalter zu verwenden. Bezüglich Pharmaka zur Zykloplegie wird auf die entsprechenden Empfehlungen des Consilium Strabologicum Austriacum hingewiesen. Die Diagnose einer Myopie wird ab −0,5 dpt gestellt, die Diagnose progrediente Myopie ab einer Zunahme von 0,5 dpt pro Jahr.

Die Bestimmung der Achsenlänge ist derzeit in der klinischen Routine noch nicht weit verbreitet, stellt jedoch ein Instrument zur objektiven Bestimmung des Augenlängenwachstums dar. In beinahe allen Studien zur Myopieprogression liegen dafür gute Daten vor. Tideman et al. haben für eine kaukasische Kohorte Normwerte für jede Altersstufe publiziert, die eine Risikoabschätzung bezüglich der Entwicklung einer Myopie ermöglichen [6].

Zeit im Freien

Zeit im Freien schützt sowohl vor dem Auftreten einer Myopie (Inzidenzhemmung) als auch vor der Progression einer bereits bestehen Myopie (Progressionshemmung) [7, 8].

Die Dosis‑/Wirkungsbeziehung schwankt zwischen den Studien. Als Richtwert kann man bei einem Aufenthalt im Freien von 7 h pro Woche von einer um grob 50 % verringerten Inzidenz ausgehen [9].

Für die Progressionshemmung war die Datenlage lange unsicher. In einer großen Studie von 2018 konnte ein positiver Effekt gezeigt werden. Schulkinder wurden ermutigt, mehr als 11 h/Woche im Freien zu verbringen, wodurch eine annähernd 30 %ige Hemmung der Myopieprogression erzielt werden konnte[8].

Der Myopie-hemmende Effekt kommt durch die erhöhte Lichtintensität zustande, wobei die benötigte Intensität bereits an einem bewölkten Tag erreicht wird (>1000 lx). Unklar ist jedoch die benötigte Gesamtdosis (Intensität × Zeitdauer).

Atropin

Topische Anwendung von 1 %igem Atropin ist schon lange als wirksame Therapie zur Hemmung der Myopieprogression bekannt, wurde jedoch aufgrund der starken Nebenwirkungen kaum eingesetzt.

Aus den ATOM (Atropine for the treatment of Myopia) Trials wurden einige wichtige Erkenntnisse gewonnen, die Atropin in niedrigerer Konzentration derzeit als sehr vielversprechend erscheinen lassen [10]:

  • Atropin in 0,01%iger Dosierung hemmt die Progression in Bezug auf das sphärische Äquivalent.

  • Atropin 0,01 % führt zu keiner subjektiven visuellen Beeinträchtigung (Blendung, Nahsehleistung).

  • Der Rebound Effekt nach Therapiestopp ist am geringsten ausgeprägt (s. unten).

  • Gutes Ansprechen bei Wiederbeginn der Therapie.

Zu beachten ist, dass eine wirksame Hemmung des Achsenlängenwachstums derzeit nicht gezeigt werden konnte. Über die Gründe dafür kann keine verlässliche Aussage getroffen werden. Eine mögliche Erklärung ist jedoch das Studiendesign der ATOM2-Studie. Klarheit bezüglich des Effekts auf die Achsenlänge sollten die Follow-up-Studien ATOM3 und MTS1 (NCT03140358 und NCT03334253) bringen.

Die LAMP-Studie (Low Concentration Atropine for Myopia Progression) untersuchte Konzentrationen zwischen 0,01 und 0,05 % und konnte für 0,05%iges Atropin 1‑mal täglich einen signifikanten hemmenden Effekt auf Achsenlänge und sphärisches Äquivalent zeigen [11]. Die Nebenwirkungen wie subjektives Blendungsgefühl und verminderter Nahvisus unterschieden sich dabei nicht signifikant von der Placebo- und der 0,01 %-Gruppe. Derzeit sind jedoch nur Einjahresdaten veröffentlicht.

Optische Methoden

Wirksame optische Methoden sind:

  • Bifokal- und Gleitsichtbrillen,

  • Kontaktlinsen – multifokal bzw. mit positiver sphärischer Aberration,

  • Orthokeratologie (OrthoK).

Brillen sind im Durchschnitt schwächer wirksam als OrthoK- und Kontaktlinsen. Die Studienergebnisse weisen eine höhere Variabilität in Bezug auf die Wirksamkeit auf [3, 12], können bei Kontraindikationen oder Patientenwunsch jedoch eine Alternative sein.

Eine gängige Additionsstärke in den bisherigen Studien ist +2,0 dpt. Es gibt bis dato noch keine systematische Untersuchung zum Vergleich verschiedener Additionsstärken oder Linsendesigns, Ergebnisse sind jedoch in näherer Zukunft zu erwarten [13].

Als nicht wirksam zeigten sich monofokale formstabile Kontaktlinsen und die Unterkorrektur mit monofokalen Gläsern oder Kontaktlinsen. Es gibt Hinweise, dass eine Unterkorrektur die Myopieprogression sogar fördern könnte [14].

Beginn und Dauer der Therapie

In der Anamnese ist v. a. eine Myopie der Eltern relevant, wobei 2 myope Elternteile das Risiko für das Auftreten von Kurzsichtigkeit um etwa das Dreifache erhöhen [15]. Unklar ist, ob es sich um einen rein genetischen Effekt handelt, da Kinder myoper Eltern beispielsweise weniger Zeit im Freien verbringen [16].

Ein weiterer, wesentlicher Risikofaktor ist ein junges Lebensalter bei Auftreten der Myopie, da dadurch insbesondere die Entwicklung einer hohen Myopie wahrscheinlicher wird [17].

In Erwägung gezogen werden kann eine progressionshemmende Therapie bei Diagnosestellung einer Myopie (stärker als 0,5 dpt sphärisches Äquivalent) und einer Progression über 0,5 dpt/Jahr (Bestimmung unter Zykloplegie). Ab 1 dpt/Jahr spricht man von schneller Progression.

Der Einsatz einer progressionshemmenden Therapie ist nach derzeitiger Datenlage in einem früheren Lebensalter, als man aus der täglichen Routine vermuten würde, sinnvoll. Für OrthoK-Linsen konnte gezeigt werden, dass ein früher Anwendungsbeginn ab dem 6. Lebensjahr (LJ) wesentlich ist, da ihre therapeutische Wirksamkeit mit dem Lebensalter abnimmt. Bereits nach dem 14. LJ konnte in diesen Kohorten keine Progressionshemmung mehr nachgewiesen werden [18, 19].

Auch für die topische Atropingabe wird ein äquivalentes therapeutisches Zeitfenster vermutet, bisher jedoch nicht systematisch untersucht. Nach aktueller Datenlage ist bei progredienter Myopie (Zunahme von mehr als 0,5 dpt/Jahr, Bestimmung in Zykloplegie) ein Therapiebeginn ab dem 6. LJ sinnvoll. Zu beachten ist, dass sich diese Angabe aus dem Design der aktuellen Studien ergibt – es kann individuell durchaus sinnvoll sein, bereits früher mit einer progressionshemmenden Therapie zu beginnen. Ein Beispiel dafür wäre ein Kind mit 2 hochmyopen Eltern und ungewöhnlich niedriger Hyperopie oder Emmetropie in einem jungen Lebensalter.

Zur Dauer der Therapie gibt es derzeit keine verlässlichen Daten, es ist jedoch, sowohl für Atropin als auch für optische Methoden, ein „Rebound-Effekt“ gezeigt worden. Nach Absetzen der Therapie zeigte sich ein beschleunigtes Achsenlängenwachstum. Wird ein solcher Effekt beobachtet, ist ein Wiederbeginn der Therapie sinnvoll und zeigt meist ein gutes Ansprechen [10, 20].

Derzeit noch nicht geklärt ist die Wirksamkeit sämtlicher progressionshemmender Methoden bei jenen Patienten, die nach dem 16. LJ eine starke Progression zeigen. In einer Langzeitkohorte zeigen etwa 5 % der Teilnehmer keine Stabilisierung von Achsenlänge und sphärischem Äquivalent bis zum 30. LJ [21].

Wirkung der Therapie

Nach Therapiebeginn wird eine engmaschige Kontrolle des Patienten von 6 bis 12 Monaten, adaptiert an das individuelle Risiko, empfohlen. Zur Beurteilung der Wirkung kann je nach Alter bei Therapiebeginn und Vorbefunden die bisherige Progressionsrate herangezogen werden. Zu beachten ist jedoch die Änderung der Progression je nach Alter. Ohne Vorbefunde sind Mittelwerte aus publizierten Metaanalysen hilfreich (Abb. 1; [22]).

Abb. 1
figure 1

Durchschnittliche Myopieprogressionsrate in der Kindheit (Aus [22]. Übersetzung und Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Wolters Kluwer Health, Inc.)

Bei Nichtansprechen kann ein Wechsel der Therapie sinnvoll sein, allerdings gibt es dazu keine systematischen Untersuchungen.

Die erzielbare Progressionshemmung kann aus Tab. 1 entnommen werden. Dabei handelt es sich um eine rezente Metaanalyse zum Vergleich der Interventionen bei progredienter Myopie [3].

Tab. 1 Überblick über die Effektstärke von verschiedenen Therapien zur Behandlung der progredienten Myopie, vereinfacht nach [3]