Die Schule als Quelle von Risiken und Ressourcen für die psychische Gesundheit von Schüler*innen

Die Hälfte aller diagnostizierten psychischen Erkrankungen nehmen ihren Ausgang bis zum 14. Lebensjahr, und drei Viertel beginnen bis zum 24. Lebensjahr [18]. Psychische Störungen sind in den ersten beiden Lebensjahrzehnten für einen Großteil der gesamten Krankheitslast verantwortlich [24]. Für Deutschland zeigen die Ergebnisse der Studie „Health Behaviour in School-aged Children“ (HBSC), dass einerseits fast 90 % der 11- bis 15-Jährigen eine hohe Lebenszufriedenheit berichten, andererseits wird bei genauerer Betrachtung deutlich, dass mehr als ein Drittel der Mädchen und etwa 20 % der Jungen unter mehrmals wöchentlich auftretenden multiplen psychosomatischen Beschwerden leiden, z. B. Einschlafproblemen, Kopfschmerzen und Niedergeschlagenheit [17]. Anhand von Angaben der Eltern in einem standardisierten Breitband-Screening ergeben sich in der „Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ (KIGGS) bei etwa 17 % der 3‑ bis 17-jährigen Jungen und bei knapp 15 % der gleichaltrigen Mädchen Hinweise auf klinisch relevante psychische Auffälligkeiten [19]. Im Einzelnen sind in dieser Altersgruppe insbesondere Angststörungen, dissoziale, depressive und hyperkinetische Störungen verbreitet, wobei dissoziale und hyperkinetische Störungen eher bei Jungen auftreten und Angststörungen sowie Depressionen eher bei Mädchen, insbesondere ab dem Jugendalter [16].

Robert Havighurst entwickelte Anfang der 1970er-Jahre das theoretische Konzept der Entwicklungsaufgabe mit dem Ziel, entwicklungspsychologisches Wissen für angehende Pädagog*innen aufzubereiten [15]. Sein Verständnis von Entwicklung als eine Abfolge von zu bewältigenden Herausforderungen, die sich in jedem Lebensabschnitt immer wieder neu stellen, wurde in der Folge so populär, dass es heute den Rang einer eigenen Entwicklungstheorie besitzt. Schon in der Erstveröffentlichung ordnete er den Entwicklungsaufgaben verschiedene Sozialisationsinstanzen zu (u. a. Familie, Gleichaltrige, religiöse Gruppen), die an der Bewältigung dieser Aufgaben beteiligt sind. Hierbei stellte er fest, dass die Schule der einzige Bereich der sozialen Umwelt ist, der Verbindungen zu faktisch allen in der Kindheit und der Adoleszenz drängenden Entwicklungsaufgaben hat (vgl. [15, S. 38]). Gemeint ist dabei nicht nur die Auseinandersetzung mit den schulischen Leistungsanforderungen, sondern auch die Erlangung emotionaler Unabhängigkeit von den Eltern, die Berufswahl bzw. -vorbereitung, die Übernahme von Geschlechtsrollen und, forciert durch die Gruppierung von Schüler*innen in Altersgruppen, die soziale Entwicklung und der Aufbau von Beziehungen zu Gleichaltrigen. Hinzu kommt die biografische Bedeutsamkeit der Schullaufbahn, die über erreichte Bildungsabschlüsse und resultierende berufliche Chancen die weitere Lebensplanung junger Menschen in ihrem Kern berührt. Dass die Schule für die psychische Entwicklung und die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen von Bedeutung ist, lässt sich somit nicht nur aus dem Argument ableiten, dass Mädchen und Jungen hier die meiste Zeit des Tages verbringen [23]. Die Schule arbeitet, um es mit den Worten Helmut Fends zu sagen, „an der Seele des Menschen“ (vgl. [14, S. 174]).

Eine Studie mit etwa 4400 deutschen Schülerinnen und Schülern der Klassenstufen 5, 7 und 9 hat den Stellenwert der Schule für die psychische Gesundheit empirisch untersucht und hierbei Zusammenhänge zwischen verschiedenen Aspekten des Klassenklimas und den emotionalen Auffälligkeiten der Kinder und Jugendlichen gefunden [3, 4]. Hierbei zeigte sich, dass Schülerinnen und Schüler insbesondere dann Ängste, depressive Symptome und psychosomatische Beschwerden entwickeln,

  • wenn sie von Mitschüler*innen gemobbt werden,

  • wenn sie sich durch die Lernbedingungen überfordert fühlen und

  • wenn sie die Qualität des Unterrichts als gering einstufen.

Mithilfe einer Substichprobe, für die dieselben Schüler*innen 2‑mal im Abstand von 4 Jahren befragt wurden (zum ersten Mal als Fünftklässler*innen und zum zweiten Mal als Neuntklässler*innen), wurde zudem gezeigt, dass es sich hierbei nicht um temporäre Beeinträchtigungen handelt, sondern um langanhaltende Auswirkungen dieser schulbezogenen Risikofaktoren auf die psychische Gesundheit von Schülerinnen und Schülern.

Die Schule arbeitet an der Seele des Menschen (Helmut Fend)

Weitere Analysen zeigen, dass ein Großteil des Zusammenhangs zwischen Klassenklima und emotionalen Problemen der Schüler*innen über das Selbstkonzept vermittelt wird, also die Art und Weise, wie sie über sich selbst und ihre Kompetenzen denken. Das heißt, dass sich die Wahrscheinlichkeit, dass Schülerinnen und Schüler emotionale Probleme entwickeln, vor allem dann erhöht, wenn ein ungünstiges Klassenklima zur Entwicklung eines negativen sozialen oder schulischen Selbstkonzepts beiträgt. Die ebenfalls untersuchten Schulnoten oder das Ausmaß der sozialen Einbindung (Anzahl enger Freunde) treten empirisch nicht als Vermittlungsfaktoren in Erscheinung. Das Bindeglied zwischen schulischer Umwelt und emotionalen Problemen ist demnach nicht die Erfahrung von Schulversagen oder fehlender sozialer Einbindung, sondern die negative Selbstsicht in diesen Bereichen [3, 4]. Aus diesen Ergebnissen zum Zusammenhang zwischen Klassenklima und emotionalen Auffälligkeiten lassen sich nicht nur Aussagen über schulbezogene Risikofaktoren ableiten, sondern auch zu schulischen Ressourcen der psychischen Gesundheit. In gleicher Weise wie z. B. eine geringe Unterrichtsqualität und ein hohes Maß an Überforderung zu einem Anstieg der Beschwerden führen, geht ein gut ausbalancierter, nicht überfordernder Unterricht mit einer Absenkung oder sogar Vorbeugung von Beschwerden einher [8].

Früherkennung psychischer Fehlentwicklungen in der Schule

Auch wenn Lehrkräfte keine klinischen Diagnostiker*innen sind, können sie bei der Früherkennung dieser psychischen Fehlentwicklungen eine wichtige Rolle spielen. Lehrerinnen und Lehrer sind neben den Eltern die wichtigsten Informationsquellen für Therapeut*innen und Ärzt*innen. Sie erleben die Schülerinnen und Schüler mehrere Stunden am Tag, sie können das Verhalten durch den sozialen Vergleich mit Gleichaltrigen gut einordnen und sie sind häufig diejenigen, die den ersten Impuls für eine gezielte Diagnostik und gegebenenfalls Behandlung geben. In ihrem Beschluss zu den Standards für die Lehrerbildung fordert die Kultusministerkonferenz im Kompetenzbereich Erziehen, dass angehende Lehrkräfte

  • „Risiken und Gefährdungen des Kindes- und Jugendalters sowie Präventions- und Interventionsmöglichkeiten“ kennen,

  • dass sie Benachteiligungen bei Schüler*innen erkennen, sie individuell unterstützen und pädagogische Hilfen und Präventionsmaßnahmen realisieren [20].

In einer Studie mit 245 deutschen Schülerinnen und Schülern sowie ihren 18 Klassenlehrkräften wurde untersucht, mit welcher Genauigkeit Lehrkräfte psychische Auffälligkeiten bei ihren Schüler*innen wahrnehmen und ob sie externalisierende Auffälligkeiten (z. B. aggressives Verhalten) genauer registrieren als internalisierende Auffälligkeiten (z. B. Ängste und depressive Symptome; [5]). Hierfür wurden die Klassenlehrkräfte gebeten, Schüler*innen ihrer Klasse zu nominieren, bei denen sie Auffälligkeiten in einem dieser Bereiche oder in beiden Bereichen vermuten. Diese Nominierungen wurden mehrebenenanalytisch und unter Kontrolle von Drittvariablen mit den Ergebnissen eines klinischen Screeninginstruments in Verbindung gebracht. Im Ergebnis zeigen sich nur geringe Übereinstimmungen, die zudem im internalisierenden Bereich deutlich niedriger ausfielen als im externalisierenden Bereich. Es besteht somit die Gefahr, dass in der Schule insbesondere emotionale Probleme von Schüler*innen übersehen werden. Eine Erklärung hierfür könnte sein, dass sich Symptome internalisierender Störungen vorrangig intrapsychisch etablieren und in sozialen Interaktionen weniger sichtbar sind bzw. als weniger störend empfunden werden. In einer weiteren Studie zeigte sich, dass Lehrkräfte auch Mobbingverhaltensweisen bei ihren Schüler*innen – also einen der zentralen Risikofaktoren für die psychische Gesundheit in dieser Altersphase – nicht gut wahrnehmen können [9].

Schulische Gesundheitsförderung im Bereich der psychischen Gesundheit

Unter Bezugnahme auf diese und andere Befunde wurden in den letzten Jahren viele Maßnahmen zur schulbasierten Prävention und Gesundheitsförderung im Bereich der psychischen Gesundheit entwickelt und evaluiert. Die Schule als Setting der Gesundheitsförderung bietet hierbei insbesondere den Vorteil eines direkten Zugangs zur Zielgruppe in einer für die gesunde Entwicklung entscheidenden Altersphase unabhängig von der sozialen Herkunft der Kinder und Jugendlichen. Befördert werden diese Bemühungen durch Empfehlungen der Kultusministerkonferenz zur schulischen Gesundheitsförderung und Prävention [21], entsprechenden Vorgaben in den Schulgesetzen der deutschen Bundesländer und das im Jahr 2015 in Kraft getretene Präventionsgesetz in Deutschland (Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und Prävention).

Viele schulbasierte Programme im Bereich der psychischen Gesundheit kombinieren verhaltens- und verhältnisbezogene Strategien gemäß dem Setting-Ansatz der schulischen Gesundheitsförderung. Sie sind nicht allein auf die Verringerung von Risiken ausgerichtet, sondern sie zielen im Sinn der Salutogenese insbesondere auch auf eine Stärkung von Gesundheitsressourcen ab. Am längsten ist die Tradition bei der schulischen Suchtprävention und bei der Prävention dissozialer Verhaltensprobleme. Ansätze zur schulbezogenen Stressprävention und vor allem zur Prävention internalisierender Probleme (z. B. Angst und Depression) sind erst später hinzugekommen. Wirksamkeitsstudien bescheinigen der Suchtprävention nur geringe Effekte, wobei jene Programme etwas besser abschneiden, die dem Lebenskompetenzansatz folgen [2]. Vergleichbar gering fällt die Wirksamkeit von Programmen zur Förderung des Sozialverhaltens und der Gewaltprävention aus, vor allem dann, wenn nicht nur Kompetenzzuwächse, sondern auch Verhaltensindikatoren betrachtet werden [13, 22]. Im Bereich der Stressprävention sowie der Prävention von Angststörungen und Depressionen sind die Effekte indizierter Maßnahmen für bereits belastete Kinder und Jugendliche deutlich größer als bei universalen Ansätzen, die sich an alle Schülerinnen und Schüler unabhängig von ihren Vorbelastungen richten [1, 12].

Am Beispiel von Schülerängsten lässt sich aufzeigen, wie bei einem gestuften Vorgehen universale, selektive und indizierte Maßnahmen miteinander kombiniert werden können (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Das Response-to-intervention-Modell für den Umgang mit Schulängsten [6]

Auf der ersten Stufe profitieren alle Schülerinnen und Schüler von klassen- bzw. schulweiten Präventionsmaßnahmen, die spezifische oder allgemeine Risikofaktoren für Schulängste adressieren (z. B. angstfreie Gestaltung von Prüfungssituationen, Förderung eines positiven Klassenklimas oder der Einsatz von evaluierten universalen Präventionsprogrammen). Ungefähr 10–15 % der Schülerschaft leiden unter Ängsten, die das schulische Lernen beeinträchtigen, jedoch die Schwelle der klinischen Signifikanz nicht überschreiten. Für diese Gruppe sind auf Stufe II gezieltere Maßnahmen gegebenenfalls unter Einbezug der Schulsozialarbeit und des Schulpsychologischen Diensts angezeigt. Auf Stufe III befinden sich etwa 5 % der Schülerinnen und Schüler mit behandlungsbedürftigen Angststörungen und eventuell weiteren komorbiden psychischen Störungen und psychosozialen Problemen. Hier besteht für die Schule die Anforderung, in Kooperation mit Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen/-psychiater*innen, Förderlehrkräften und Eltern an der Umsetzung individualisierter Therapie- und Förderpläne mitzuarbeiten. Weitere Schlussfolgerungen für die schulische Praxis, die sich aus den eingangs vorgestellten Befunden ergeben, sind der Einbezug des Themas psychische Gesundheit in den Unterricht [7] und die Prävention von Gewalt und Mobbing in der Schule [10].

Fazit

Die psychische Gesundheit von Schülerinnen und Schülern steht in einem engen Zusammenhang mit der schulischen Umwelt. Mehrere aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen (z. B. Inklusion, Coronapandemie) werden dazu beitragen, dass Lehrerinnen und Lehrer zukünftig in ihren Klassen mit einer größeren Bandbreite psychischer Probleme bei Schülerinnen und Schülern konfrontiert sein werden. Für die Bewältigung dieser Aufgaben braucht es gut ausgebildete Lehrkräfte, die Anzeichen psychischer Fehlentwicklungen erkennen können, die gemeinsam mit Lehrerkolleg*innen und anderen Professionen empirisch bewährte Interventions- und Präventionsmaßnahmen auswählen und kompetent umsetzen können und die in der Auseinandersetzung mit eigenen psychischen Belastungen ein positives Modell für ihre Schülerinnen und Schüler sind [11].