Wie in Teil 1 dieses Beitrags eingehend dargestellt, werden muskuloskelettale Schmerzen bei Kindern mit neuromotorischen Erkrankungen systematisch unterschätzt. Diese sind jedoch Ausdruck von reversiblen und irreversiblen Muskel-Skelett-Veränderungen, die nach biomechanischen Gesetzmäßigkeiten bei allen chronischen neuromotorischen Erkrankungen auftreten.

Ein vielfach unbeachtetes Problem dabei ist, dass diese Funktions- und Formänderungen zunächst unbemerkt beginnen und im Lauf der Zeit exponentiell zunehmen, sodass ein sehr geringes Kräfteungleichgewicht im weiteren Verlauf sehr rasch zu einer schweren irreversiblen Fehlstellung führen kann. Ziel ist es, diese neuroorthopädischen Krankheitsbilder durch sekundärpräventive Maßnahmen zu vermeiden.

Um die Sinnhaftigkeit von Sekundärprävention zu belegen, müssen wir als nächstes die Grundprinzipien der Frühdiagnostik und Frühbehandlung verstehen.

Sekundärschäden bei Kindern mit neuromotorischen Erkrankungen können durch Frühdiagnostik und Frühbehandlung vermieden werden

Bei allen neuromotorischen Störungen treten charakteristische Muskel-Skelett-Veränderungen und Sekundärschäden auf, die zunächst reversibel und später irreversibel sind. Dies kann am Beispiel der spastischen Tetraparese demonstriert werden, deren Störungsbild bei zerebralem Insult, bilateraler spastischer CP – GMFCS III–V, Z. n. Schädel-Hirn-Trauma, Z. n. Enzephalitis, Enzephalitis disseminata, schweren Stoffwechselerkrankungen und Hirnfehlbildung auftritt. Die mangelhafte Steuerung der beidseitigen Extremitäten- und gesamten Rumpfmuskulatur und die gestörte Oberflächen- und Tiefenwahrnehmung verursachen Schwäche und Instabilität (Abb. 1):

  1. 1.

    Schwäche der Halsmuskulatur mit mangelhafter Kopfkontrolle

  2. 2.

    Rumpfinstabilität und progrediente Hyperkyphosen sowie Skoliosen

  3. 3.

    Hyperlordosen der Halswirbelsäule (HWS) und der Lendenwirbelsäule (LWS) mit vermehrter Beckenventralkippung

  4. 4.

    Grobmotorische Asymmetrie mit Haltungs- und Lagerungsschäden, Windschlagdeformitätenentwicklung

  5. 5.

    Hüftgelenkinstabilität und progrediente Hüftluxation

  6. 6.

    Hüftstrecker- und Hüftabduktorenschwäche mit vermehrter Hüftadduktion, -innenrotation, -flexion mit Steh- und Gehunfähigkeit

  7. 7.

    Kniestreckerschwäche und vermehrte Knieflexion mit fehlender Kniestreckung und Schlussrotation sowie Verlust muskelentspannten Stehens

  8. 8.

    Fußheberschwäche und vermehrte Fußplantarflexion mit Triceps-surae-Verkürzung

  9. 9.

    Instabilität des unteren Sprunggelenks (USG) mit und USG-Eversion/-Pronation und Plattfußentwicklung oder seltener USG-Inversion/-Supination mit Klumpfußentwicklung

  10. 10.

    Funktionelle Beinlängendifferenz mit muskulären und knöchernen Adaptationsmechanismen

  11. 11.

    Schwäche der Ellbogen- und Handgelenkstrecker sowie Supinatoren mit Handgelenk- und Ellbogenflexion, Handgelenkpronation mit Greif- und Stützstörung

  12. 12.

    Schwäche der Schulterabduktoren, -außenrotatoren und -strecker mit Schulteradduktion und -innenrotation

Abb. 1
figure 1

Sensomotorischer Kontrollverlust führt zu Muskelschwäche und Gelenkinstabilitäten, die eine erhöhte Muskelaktivität autoregulativ zu kompensieren versucht (© W. M. Strobl)

Die Entwicklung dieser Muskel-Skelett-Veränderungen ist abhängig von

1) der Schädigung des neuromotorischen Systems:

  • Lokalisation: zerebraler/spinaler/peripherer Nerv – Muskel

  • Ausmaß: Schwäche – Parese – Plegie

  • Dauer: reversibel – irreversibel

2) der Prävention und Behandlung:

  • Dehnung: Kontraktilität – Verkürzung

  • Bewegungstherapie: Mobilität – Kontraktur

  • Stabilisierung: Vertikalisation – Dekompensation

  • Lagerung: Druckverteilung – Verformung durch Schwerkraft

Die beschriebenen Funktionsveränderungen entwickeln sich, wie oben beschrieben, zunächst schleichend und sind zunächst kaum merklich progredient. Erst mit zunehmender Veränderung von Hebelarmen der betroffenen Muskulatur entwickeln sich dann immer schneller Fehlstellungen. Durch exponentielle Zunahme kann der Eindruck einer plötzlichen Fehlstellung auftreten.

Ziel der Frühdiagnostik und Frühbehandlung ist es daher, abgeschwächte Muskelkraft und Kräfteungleichgewichte sowie veränderte Hebelarme einzelner Muskeln oder Muskelgruppen bereits in einem Frühstadium zu erkennen (Abb. 2). Konservative Maßnahmen zur Verbesserung der Kraft, wie therapeutisches Training, oder der Hebelarme, wie Orthesen, können ebenso wie operative Maßnahmen diese Kräfteungleichgewichte beseitigen. Muskelverkürzungen verbessern die Kraft; Sehnentransfers und gelenkstabilisierende Operationen können die korrekten Hebelarme wiederherstellen.

Abb. 2
figure 2

Reversible und irreversible Muskel-Skelett-Veränderungen beginnen bei schweren früher als bei leichten Erkrankungsverläufen (© W. M. Strobl)

Damit sind die Normalisierung der funktionellen anatomischen Verhältnisse und eine bessere Bewegungsfunktion erreichbar. In der Folge reduziert sich eine kompensatorische Muskelüberaktivität, Spastik und Schmerz werden vermindert. Darüber hinaus kann eine verbesserte Vaskularisierung der Gewebe beobachtet werden, die ebenso zur Schmerzreduktion beiträgt. Als Langzeitfolge bleiben die Kontraktilität und die mikroanatomische Struktur der Muskulatur und der Gelenke erhalten; progrediente Atrophie und Formveränderungen sowie Sekundärschäden können reduziert werden.

Frühestmögliche Interventionen mit dem Ziel einer (Wieder‑)Herstellung des Muskelkraftgleichgewichts zwischen Agonisten und Antagonisten verhindern die Entwicklung von Fehlhaltungen und Fehlstellungen und – im Wachstum – von Fehlformen (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Frühbehandlung von Muskelschwäche und Instabilität kann Sekundärschäden vorbeugen (© W. M. Strobl)

Kompensationsmechanismen, sekundäre Schäden, Arthrosen, Druckstellen und Schmerzen, beispielsweise bei Fuß‑, Handfehlstellungen, Beinachsenfehlformen, Kyphoskoliosen, Hüft‑, Patella‑, Schulterluxationen, sollen vermieden werden.

Bei irreversiblen Muskel-Skelett-Deformitäten mit veränderten Hebelarmen der Muskulatur ist eine (Wieder‑)Herstellung der korrekten Hebelarme für einen effizienten Krafteinsatz der Muskeln erforderlich [1].

Screeningprogramme und Ampelsysteme müssen die richtigen Parameter berücksichtigen

Langzeitstudien aus Staaten mit Patientenregistern für angeborene und erworbene chronische Erkrankungen des kindlichen Bewegungssystems basieren auf einer breiten Datenbasis und zeigen, dass Screeningprogramme, präventive konservative und operative Maßnahmen und Frühbehandlung beginnender Muskel-Skelett-Veränderungen schwere Sekundärschäden vermeiden oder reduzieren können.

Solange es in den deutschsprachigen Staaten keine Patientenregister gibt, sollten die ersten positiven Erfahrungen der Länder mit entsprechenden Datenbanken berücksichtigt und für die Prävention und Behandlung herangezogen werden.

Erste Patientenregister, Screening- und Präventionsprogramme für neuromotorische Erkrankungen wurden in Skandinavien eingesetzt. So senkten Patientenregister, Screening- und Präventionsprogramme in Skandinavien die Zahl schwerer Muskel-Skelett-Veränderungen bei Zerebralparesen im Jugendalter zusammen mit früh beginnenden, konservativ-operativen orthopädischen Behandlungsprogrammen auf einen Bruchteil des üblichen Prozentsatzes ([2,3,4]; Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Langzeitstudien mithilfe von Patientenregistern zeigen, wie Präventionsprogramme Sekundärschäden vermeiden bzw. vermindern können (© W. M. Strobl)

Leider beziehen sich die derzeit international existierenden Screeningprogramme jedoch meist nur auf Kinder mit Zerebralparese und auf Beweglichkeit und Entwicklung einer Hüftluxation. Für die Dezentrierung des Hüftgelenks wird meist nur der Reimersche Migrationsindex (RMI) herangezogen, der lediglich die laterale Luxation berücksichtigt. Etwa 30 % der Hüften luxieren jedoch nach ventral und dorsal und werden bei dieser Messung übersehen. Nur einzelne Programme gibt es für Kinder mit Zerebralparese und Kontrakturen sowie Wirbelsäulendeformitäten und für Kinder mit Myelomeningozele.

Für die meisten neuromotorischen Erkrankungen existieren bisher keine Präventionsprogramme, um Kontrakturen, Hüftluxation, Wirbelsäulendeformitäten und andere Muskel-Skelett-Veränderungen rechtzeitig erkennen, vorbeugen und behandeln zu können.

Darüber hinaus wäre die Einbeziehung anderer Gesundheitsberufe wünschenswert, um Screening- und Präventionsprogramme auf eine breitere Basis zu stellen und bereits bei Frühzeichen rechtzeitig intervenieren zu können, z. B. im Rahmen einer wöchentlich erfolgenden Physiotherapie. Besonders in Regionen mit weniger sozialmedizinischer Infrastruktur scheint dies ein wichtiges Werkzeug zu sein. Eigene Daten zeigen, dass Kinder mit konsequenter medizinisch-therapeutischer Betreuung in einem Sozialpädiatrischen Zentrum bzw. Therapieambulatorium deutlich seltener Sekundärschäden aufweisen als Kinder ohne diese Möglichkeiten.

Früherkennung kann nur im interdisziplinären Setting effektiv sein

Auf der Basis dieses Wissens und der in unserem Gesundheitssystem gegebenen Möglichkeiten sehen wir daher dringenden Bedarf an einem einfachen Werkzeug für die Praxis, um die Entwicklung schmerzhafter Muskel-Skelett-Veränderungen so früh wie möglich zu erkennen.

Allein die Aufmerksamkeit und Elternedukation können erste hilfreiche Ansätze darstellen. Um die Wirksamkeit der Prävention zu verbessern, ist die Einbeziehung aller Berufsgruppen des Behandlungsteams sinnvoll, die in der Langzeitbetreuung von Kindern mit neuromotorischen Erkrankungen tätig sind.

Ziel der interdisziplinären Früherkennung ist es, neben dem

  1. 1.

    Erkennen von akuten Schmerzen und Verletzungen des Bewegungssystems, wie

    • entzündliche Veränderung von Geweben,

    • Druckstellen, Durchblutungsstörung,

    • Überlastung von Bewegungsorganen,

    • Fraktur, Luxation, Bandverletzung, Sehnen‑/Muskelverletzung,

    • Überlastung des Herz-Kreislauf-Systems,

    • Überforderung der psychomentalen Ressourcen,

  2. 2.

    auch die Frühzeichen inzipienter Muskel-Skelett-Veränderungen zu erfassen, wie

    • Abschwächung der Muskelkraft und Kräfteungleichgewicht an Gelenken,

    • kompensatorischer Muskelhartspann und Muskelüberaktivität (Spastik),

    • veränderte Hebelarme von Muskeln,

    • Abnahme der Kontraktilität durch strukturelle Veränderung des Skelettmuskels,

    • Kontrakturen von Gelenkkapseln,

    • Instabilität und Luxationen von Gelenken,

    • Fehlbelastungen und Verformungen von Skelettabschnitten,

    • Unterforderung des Herz-Kreislauf-Systems oder der psychomentalen Ressourcen.

Bei Kindern und Erwachsenen mit neuromotorischen Erkrankungen kann im Rahmen der etwa alle 3 bis 12 Monate stattfindenden Kontrolluntersuchungen eine sehr gute Momentaufnahme des Allgemeinbefindens, der Bewegungsfunktionen und der Muskel-Skelett-Organe erfolgen.

Aufgrund der langen Kontrollintervalle können chronische, langsam progrediente Muskel-Skelett-Veränderungen mitunter leichter erkannt werden. Die Gefahr langer Kontrollintervalle besteht in einem Übersehen von intermittierend auftretenden akuten Schmerzzuständen, Überlastungssyndromen und Verletzungen.

Hinweis auf beginnende Muskel-Skelett-Veränderungen geben die Symptome:

  • Verzögerung der motorischen und sensorischen Entwicklung

  • Verlust von Alltagsaktivitäten

  • Zunehmende Asymmetrie der Haltung und Bewegung

  • Reduktion der Gehstrecke

  • Zunehmende Beinachsenfehlstellung (Frontal- und Torsionsebene)

  • Einschränkung des Bewegungsumfangs (mithilfe von Tabellen physiologischer Gelenkwinkel, wie sie vom Schwedischen Screening-Programm „CPUP“ für Kinder mit Cerebralparese entwickelt wurden)

  • Bewegungsabhängige Schmerzen

  • Larvierte Schmerzsymptomatik: Appetitverlust, Abnahme der Motivation, Veränderung des Spiel- und Lernverhaltens

Hinweise auf progrediente Muskel-Skelett-Veränderungen geben die radiologischen Symptome:

Wirbelsäulenröntgen in 2 Ebenen:

  • Zunahme des Cobb-Winkels

  • Zunahme der Rotationsfehlstellung

  • Veränderung der Form der Wirbelkörper (Keilwirbel usw.)

Beckenübersichtsröntgen:

  • Dezentrierung des Femurkopfs – Migrationsindex nach Reimers

  • Form des Pfannenerkers (Rinnenbildung usw.)

  • Form des Femurkopfs (Entrundung, Rinnenbildung usw.)

  • Hoher Zentrum-Kollum-Diaphysen(CCD)-Winkel und horizontale Epiphysenfuge

Knieröntgen in 2 Ebenen:

  • Patella alta (bipartita)

Fußröntgen in 2 Ebenen:

  • Veränderter Talokalkanealwinkel

  • Fersenhochstand

  • Cavovarus-Entwicklung

Idealerweise arbeiten Mediziner, Therapeuten, Orthopädietechniker und andere Berufsgruppen im Behandlungsteam gut abgestimmt daran, Patienten mit neuromotorischen Erkrankungen und deren Angehörige bestmöglich zu beraten.

Sie weisen auf die Notwendigkeit regelmäßiger Therapie, Hilfsmittelversorgung und medizinischer Kontrolluntersuchungen hin, bei denen unerkannte Schmerzen und beginnende Muskel-Skelett-Veränderungen frühzeitig erkannt werden können. Im Team können dann gemeinsam mit dem Patienten Therapieziele definiert und erarbeitet werden (Abb. 5 und 6).

Abb. 5
figure 5

Die sechs Grundprinzipien (© W. M. Strobl)

Abb. 6
figure 6

Die sieben Warnsignale (© W. M. Strobl)

Fazit für die Praxis

  • Voraussetzung für die Vermeidung schmerzhafter Muskel-Skelett-Veränderungen bei Kindern mit neuromotorischen Erkrankungen ist das Bewusstsein aller Mitglieder des Behandlungsteams für die Problematik des unterschätzten Schmerzes und der Notwendigkeit einer Frühdiagnostik, Prävention und Frühbehandlung.

  • Ein einfaches Instrument kann helfen, inzipiente Veränderungen rasch zu erkennen. Dieses inkludiert die häufigsten sieben typischen Symptome.