Präambel & Fact Sheet

  • Adipositas ist die größte Bedrohung der Gesundheit im 21. Jahrhundert (WHO). Adipositas ist eindeutig als Krankheit definiert, die WHO fordert neben der Prävention effiziente Strukturen zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Übergewicht oder Adipositas.

  • In Österreich sind insgesamt etwa 250.000 Kinder und Jugendliche übergewichtig, davon weisen etwa 25.000–50.000 metabolische, psychische und orthopädische Komorbiditäten auf; 40.000 Kinder und Jugendliche leiden unter dem Krankheitsbild einer morbiden Adipositas, von denen 4000–8000 assoziierte Komorbiditäten aufweisen.

  • Die direkten mit Adipositas assoziierten Gesundheitskosten betragen Schätzungen zufolge bereits 7 % der gesamten Gesundheitsausgaben in der EU [1]. Die höchsten adipositasassoziierten Kosten sind auf die Komorbiditäten arterielle Hypertonie, koronare Herzerkrankungen, Osteoarthritis und Diabetes mellitus zurückzuführen.

  • Eine effiziente und nachhaltig wirksame Therapie im Kindes- und Jugendalter kann einen wesentlichen Beitrag zur Kosteneinsparung bringen.

  • Ein abgestuftes Gesamtkonzept für die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Übergewicht oder Adipositas, in dem das gesamte Spektrum von der Primärversorgung bis zur spezialisierten Versorgung in Tertiärzentren abgebildet ist und das regionale Besonderheiten und Notwendigkeiten berücksichtigt, fehlt in Österreich.

  • Bestehende Betreuungsstrukturen sind weiter auszubauen und qualitativ zu verbessern. Dies erfordert auch die Einbindung neuer Einrichtungen, wie spezialisierte Reha-Angebote und Adipositaszentren, sowie die Verzahnung mit einem Netzwerk ambulanter Therapiestrukturen.

  • Therapieangebote sind wissenschaftlich zu begleiten und hinsichtlich ihrer Qualität und Ergebnisse zu evaluieren.

  • Die Ausbildung von Experten der beteiligten Fachdisziplinen im Einklang mit dem Berufsrecht der beteiligten Disziplinen ist voranzutreiben und Anreize zur Inanspruchnahme sind zu schaffen.

  • Eine mit Qualitätssicherungsmaßnahmen verbundene Erstattung ist eine wesentliche Voraussetzung für ein wirksames und effizientes Konzept zur Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Übergewicht und Adipositas.

  • Im vorliegenden Projekt wird ein Konzept eines Adipositastherapiepfads und Therapiekonzepts für Kinder und Jugendliche mit Adipositas in Österreich entwickelt.

Projektziele

Das vorliegende Projekt dient der Entwicklung eines Therapiepfads und -konzepts für Kinder und Jugendliche mit Übergewicht und Adipositas in Österreich. Dazu wurde zunächst ein Kernteam, unterstützt durch eine Steuerungsgruppe, bestehend aus Experten der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ) und Vertretern anderer Fachdisziplinen gebildet, das ein Konzept erstellt. Dieses Konzept soll politischen Entscheidungsträgern vorgelegt und in weiterer Folge ein Detailkonzept erstellt werden.

Projektziele

  • Vorliegen eines von den wesentlichen Stakeholdern akzeptierten, für die Umsetzung relevanten Therapiepfads und -konzepts für Kinder und Jugendliche mit Übergewicht und Adipositas in Österreich

  • Eingereichter Antrag auf Finanzierung eines nationalen Konzepts

  • Unterstützung durch politische Entscheidungsträger

  • Sicherstellen einer Struktur, die im Anschluss das Projekt aktiv und konsequent umsetzt

Projekt-Nichtziel

  • Akute (Korrektur‑)Maßnahmen zu derzeitigen (Fehl‑)Entwicklungen

Wissenschaftliche Evidenz

Das vorliegende Konzept basiert auf

  • Der evidenzbasierten S3-Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter „Therapie und Prävention der Adipositas im Kinder- und Jugendalter“ (S3-Leitlinie; [3]),

  • der „Konsensbasierten S2-Leitlinie zur Diagnostik, Therapie und Prävention von Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter (2015)“ in Bezug auf Inhalte zur Diagnostik [4]Footnote 1,

  • der S3-Leitlinie „Chirurgie der Adipositas und metabolische Erkrankungen“ im Hinblick auf bariatrisch-chirurgische Aspekte [5] und

  • dem Endbericht „(Be‑)Handlungspfad Übergewicht & Adipositas auf Primärversorgungsebene“ des Instituts für Allgemeinmedizin und evidenzbasierte Versorgungsforschung (IAMEV; [2]).

Ergänzend wurden ausgewählte weitere Literatur, Patientenschulungsmaterialien und -werkzeuge gesichtet und in das Konzept integriert, sofern Expertenkonsens in der Gruppe dafür gegeben war.

Projektausgangssituation

Die aktuelle Situation der Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Adipositas in Österreich wird in aktuellen Publikationen beschrieben, deren Inhalt im Folgenden zusammengefasst bzw. zitiert wird.

Versorgungsstrukturen angesichts der kindlichen Adipositasepidemie in der Europaregion der Weltgesundheitsorganisation – Überblick und österreichische Perspektive

Zur Erhebung der gegenwärtigen Situation der Versorgungsstrukturen von Kindern und Jugendlichen mit Adipositas in Europa wurde von der Weltgesundheitsorganisation zur Teilnahme an einer Studie eingeladen. In Österreich wurden von August bis September 2018 semistrukturierte Interviews mit insgesamt 14 Experten geführt. Die Studie beleuchtet die Versorgungssituation in den Bereichen Richtlinien, Screening und Zuweisungsmodalitäten zur Therapie, Diagnostik und Risikostratifizierung, Therapie, Nachsorge, Finanzierung, Ausbildung und Zertifizierung und Gesamtmanagement. Die Ergebnisse wurden im Bericht „Mapping the health systems response to the childhood obesity epidemic in the WHO European Region – An Overview and Country Perspectives“ [6] veröffentlicht. Im Folgenden sind die Expertenmeinungen der österreichischen Interviewpartner zusammengefasst.

Leitlinien für das Management von Kindern und Jugendlichen mit Adipositas

In Österreich gibt es derzeit keine gültige Leitlinie für Kinder und Jugendliche. In Ermangelung einer solchen Leitlinie kommen daher teilweise die aktuellen deutschsprachigen Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft für Adipositas im Kindes- und Jugendalter zur Anwendung [7]. Empfehlungen zu Diagnostik, Klassifizierung und Behandlung von Adipositas im Kindes- und Jugendalter werden in diesen Leitlinien gegeben. Der „(Be‑)Handlungspfad Übergewicht & Adipositas auf Primärversorgungsebene“ des IAMEV könnte für die Umsetzung herangezogen werden, ist jedoch noch nicht allgemein bekannt [2, 28].

Screening und Behandlungspfad

Die Erfassung des Gewichtsstatus aller Kinder beginnt während der Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen, die für Eltern, die eine finanzielle Unterstützung (Fortzahlung des Kindergeldes in voller Höhe ab dem 2. Lebensjahr) für ihr Kind in Anspruch nehmen möchten, bis zur Untersuchung im 10.–14. Lebensmonat obligatorisch sind. Diese Vorsorgeuntersuchungen reichen von der Geburt bis zum Alter von 5 Jahren des Kindes. Sie werden von Kinderärztinnen und -ärzten und Allgemeinärztinnen und -ärzten durchgeführt. Ab dem Schulalter führen Schulärztinnen und -ärzte regelmäßig eine klinische Untersuchung durch, bei der Gewicht und Körpergröße bis zum letzten Pflichtschuljahr erhoben werden. Danach werden nur noch Burschen, nicht jedoch Mädchen, im Alter von 18 Jahren im Rahmen der Stellung untersucht.

Es fehlen jedoch ein klar definierter Behandlungspfad, spezialisierte Adipositasbehandlungszentren sowie ein flächendeckendes Netzwerk an qualifizierten primären, sekundären und tertiären Anbietern und Einrichtungen, die eine qualitätsgesicherte, interdisziplinäre Adipositasbehandlung anbieten.

Diagnostik

Untersuchungen zur Diagnose von Übergewicht und Adipositas und Begleiterkrankungen bei Kindern und Jugendlichen finden sowohl in der Primärversorgung (Kinder- und Jugendfachärzte und Allgemeinmediziner) als auch in ambulanten Einrichtungen und Krankenhäusern statt. Diagnose und Risikostratifizierung werden von Ärztinnen und Ärzten durchgeführt. Dies hängt jedoch in hohem Maß vom individuellen Engagement und der jeweiligen Klinik und von der Verfügbarkeit lokaler Angebote ab. Während klassischen kardiovaskulären Risikofaktoren besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird, wird die Diagnose und Risikostratifizierung im Hinblick auf psychische Komorbiditäten nicht routinemäßig durchgeführt.

Therapie

Für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Übergewicht und Adipositas gibt es in Österreich keine definierten und ausreichenden Strukturen. Wie im diagnostischen Bereich ist die Versorgung maßgeblich von der Motivation und dem (teils unbezahlten) Engagement der Leistungserbringer abhängig. Die Integration in andere Gesundheits- und/oder soziale Versorgungsstrukturen hängt ebenso vom individuellen Engagement und Fachwissen sowie von der Verfügbarkeit von Diensten in der jeweiligen Umgebung ab. Eine Vielzahl an Dienstleistern (niedergelassene Ärzten, Diätologen, Psychologen, Physiotherapeuten und ambulante wie stationäre Angebote in Krankenanstalten) offerieren ihr Angebot ohne adäquate Honorierung und/oder ohne Einbindung in einen strukturierten Behandlungspfad. Die Integration dieser Dienste in ein österreichweites Netzwerk wird als notwendig erachtet. Besonderes Augenmerk ist auf die Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit extremer Adipositas zu legen. Spezialisierte Rehabilitationszentren für diese Patientengruppe sind erst seit Kurzem verfügbar bzw. in Entwicklung – eine adipositasspezifische Expertise muss jedoch in allen Einrichtungen erst aufgebaut werden.

Ohne ein klares (Nachsorge‑)Konzept werden Patienten in Rehabilitationszentren versorgt. Die Einbindung in eine systematisierte, bundesweite ambulante Nachsorge im Rahmen eines bundesweiten Managementkonzepts ist nicht gegeben, wird aber als entscheidend erachtet. Die bariatrische Chirurgie für Jugendliche wird von einigen Zentren mit unterschiedlicher prä- und insbesondere postoperativer Betreuung angeboten.

Kostenerstattung

Ärztliche Leistungen in der Primärversorgung und in Krankenanstalten werden vom öffentlich finanzierten Gesundheitssystem erstattet. Dies beinhaltet die Beurteilung des Gewichtsstatus und assoziierter Komorbiditäten. Therapieangebote für Kinder Jugendliche und deren Obsorgeberechtigte werden erstattet, wenn sie im stationären Setting angeboten werden (was in sehr begrenztem Umfang gewährleistet ist), in der Primärversorgung jedoch nur in sehr eingeschränktem Umfang. Diätologische Leistungen im niedergelassenen Bereich werden nicht, psychologische Beratungen nur bei spezifischen Komorbiditäten erstattet. Es gibt allerdings in verschiedenen Bundesländern vor allem im urbanen Umfeld einige wenige interdisziplinäre Angebote mit Pilotprojektcharakter, die öffentlich erstattet werden. Bariatrische Operationen und unmittelbar notwendige prä- und postoperative Leistungen werden öffentlich erstattet. Private Versicherungsunternehmen verfügen über einen eigenen Leistungskatalog, der individuell auf das Prämienniveau des Patienten abgestimmt ist.

Adipositasspezifische Fort- und Weiterbildung

Für Angehörige der Gesundheitsberufe gibt es keine obligatorische adipositasspezifische Fort- und Weiterbildung im interdisziplinären Kontext. Ein postgraduales Training wird allerdings von der Österreichischen Adipositasgesellschaft für alle medizinischen Fachkreise (Ärzte, Diätologen, Physiotherapeuten, Psychologen) angeboten (https://www.adipositas-austria.org/adipositasakademie.html). Für Psycholog*innen (https://www.psychologieakademie.at/fortbildung-fuer-psychologinnen?seminar_id=S-01-11-0048%2F3) wird eine zusätzliche fachspezifische Fortbildung angeboten. Es besteht jedoch kein Zusammenhang dieser Fortbildungen mit der Erstattung von Dienstleistungen.

Zusammenfassung des WHO-Berichts

Zusammenfassend wird von den für den Bericht befragten Interviewpartnern festgehalten, dass ein auf Basis einer Stratifizierung medizinischer und psychischer Risiken definierter Behandlungspfad, abgestufte Behandlungsangebote unter Berücksichtigung lokaler und regionaler Gegebenheiten (Primär- bis Tertiärversorgung) und die Integration von Versorgungsmodellen, die der Chronizität der Krankheit Rechnung tragen, vonnöten sind. Ziel sollte es sein, auf bestehenden Strukturen aufzubauen und Erfahrungen im In- und Ausland zu berücksichtigen, um ein effektives Netzwerk von Institutionen und Partnern zu schaffen, das effizient, evidenzbasiert und ausreichend finanziert ist. Ein Qualitätsmanagementprogramm würde dazu beitragen, das System auf dem neuesten Stand zu halten. Die Einbeziehung politischer und nichtpolitischer Akteure ist obligatorisch.

(Be‑)Handlungspfad Übergewicht und Adipositas auf Primärversorgungsebene – Dachverband der österreichischen Sozialversicherungen

Der „(Be‑)Handlungspfad Übergewicht und Adipositas auf Primärversorgungsebene“ des IAMEV der Medizinischen Universität Graz definierte den Soll-Zustand einer qualitativ hochwertigen Betreuung [2]. Die Studie führte 2016 eine systematische Recherche von evidenzbasierten, qualitativ hochwertigen, internationalen Leitlinien zu diesem Thema durch. Daraus ergaben sich 23 Leitlinien, die in weiterer Folge zu einer Synopse zusammengefasst wurden. Die Empfehlungen kamen aus unterschiedlichen Ländern und von unterschiedlichen Institutionen, zeigten jedoch weitgehend einheitliche Ergebnisse.

Management der Therapie von Kindern und Jugendlichen mit Adipositas im Überblick

Das Management der Therapie von Kindern und Jugendlichen mit Adipositas umfasst in Zusammenschau folgende Inhalte [3]:

  • Die Therapie muss durch ein multidisziplinäres, vernetztes und entsprechend ausgebildetes Team erfolgen.

  • Die Therapie muss an die individuelle Situation der betroffenen Person angepasst sein und hat unter aktiver Einbeziehung der Eltern, der Bezugspersonen und des sozialen Umfelds zu erfolgen.

  • Ziel ist eine nachhaltige Lebensstilintervention auf der Basis von Ernährungs‑, Bewegungs- und Verhaltenstherapie.

  • Die bariatrische Chirurgie ist für einige ausgewählte Jugendliche als Therapieoption in Betracht zu ziehen, wenn bereits alle konservativen Behandlungsoptionen ausgeschöpft wurden. Dies ist ausschließlich Zentren mit besonderer Expertise vorbehalten.

(Konsensbasierte) Leitlinie Diagnostik (2015)

Eine sorgfältige medizinische und psychosoziale Diagnostik ist die Basis für die notwendige Therapieplanung. Die Anforderungen an die diagnostischen Inhalte unterscheiden sich je nach Versorgungsebene von der Primärversorgung zur spezialisierten Versorgung (s. Supplement 4; Abb. 4). Die für das jeweilige Versorgungsniveau erforderlichen diagnostischen Inhalte sind im Anhang Supplement 1 detailliert dargestellt. Umfasst sind:

  • Medizinische Diagnostik der Primärversorgungsebene: interdisziplinäre ambulante Einrichtungen, stationäre Einrichtungen ohne Spezialisierung, spezialisierte Zentren

  • Psychologische Diagnostik und Erhebung des psychosozialen Zustandsbilds

  • Diagnostik vor bariatrischer Operation in einem spezialisierten Zentrum

(Evidenzbasierte) Leitlinie Therapie (2019)

Für die Therapie relevante Kernaussagen wurden in der S3-Leitlinie [3] in 33 Handlungsempfehlungen zusammengefasst. Diese werden im Anhang Supplement 1 wiedergegeben. Die Bewertung der Empfehlungen (Evidenzgrad [„level of evidence“], LoE; Empfehlungsgrad [EG], Konsensstärke) sind in Klammern angegeben. Einige Empfehlungen werden ergänzend zur Präzisierung kommentiert. Eine ausführliche Erklärung zu diesen Bewertungskriterien findet sich in der Leitlinie (https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/050-002.html).

Empfehlungen zu folgenden Bereichen werden gegeben:

  • Allgemeine Empfehlungen

  • Ernährung

  • Bewegung

  • Verhaltenstherapeutische Therapiemaßnahmen

  • Medikamentöse Therapie

  • Bariatrische Chirurgie

Grundlage für die Erstellung eines nationalen Konzepts für Österreich

Therapiestruktur und -pfad allgemein

Der Weg zur integrierten Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Übergewicht und Adipositas in Österreich

Die aktuell zur Verfügung stehenden therapeutischen Ressourcen sind nicht ausreichend, um das Problem der Adipositas im Kindes- und Jugendalter in seinem derzeitigen Ausmaß zu bewältigen [8]. Es besteht daher Einigkeit der Projektgruppe, dass es eines integrierten nationalen Behandlungskonzepts bedarf. Für dieses ist es von zentraler Bedeutung, dass sich Entscheidungsträger aus der klinischen Praxis, Wissenschaft, Politik, Ökonomie und den Sozialversicherungen zusammenfinden und untereinander über evidenzbasierte Behandlung abstimmen. Diese muss, aufbauend auf einer zur psychosomatischen und sozialen Risikostratifizierung geeigneten Diagnostik, Kompetenzen verschiedener Fachdisziplinen phasen- und altersgerecht zu einem Gesamtkonzept integrieren, das den individuellen Bedürfnissen der Betroffenen und ihrer Familien Rechnung trägt.

Das vorliegende Konzept sieht ein integriertes Diagnostik- und Behandlungskonzept vor, das für Kinder und Jugendliche mit verschiedenen Risiken unterschiedliche Ziele und Therapiemodalitäten vorsieht und insbesondere das Alter der Patienten und das Ausmaß der kumulativen somatischen, psychomentalen und sozialen Risiken berücksichtigt. Dies gelingt nur im interdisziplinären und multimodalen Ansatz, der dem komplexen Krankheitsbild der Adipositas als chronische Systemerkrankung gerecht wird. Das Konzept sollte regional entsprechend der vorhandenen Ressourcen und Notwendigkeiten angepasst, etabliert und validiert werden. Für eine österreichweite Umsetzung muss das vorliegende Konzept daher in einem zweiten Schritt als Detailkonzept weiter ausgearbeitet werden. Neben Fachexperten (Allgemeinmedizinern, Diätologen, Kinder- und Jugendfachärzten, Kinder- und Jugendpsychiatern, Psychologen, Psychotherapeuten, Physiotherapeuten, Sozialarbeitern, Sozialmedizinern, Chirurgen und anderen) sollten Vertreter von Sozialversicherungen, Schulen, Vereinen, Sozialeinrichtungen, Selbsthilfegruppen und anderen aller Bundesländer eingebunden werden, die schlussendlich für die Umsetzung verantwortlich sind. So könnte es gelingen, für die Betroffenen und deren Familien ein wirksames Case Management zu entwickeln.

Eine zeitliche befristete Maßnahme wie die Teilnahme an einem Therapieprogramm oder einer Rehabilitation wird der chronischen Erkrankung Adipositas nicht gerecht, für die eine langfristige, vielleicht sogar lebenslange Weiterbetreuung notwendig ist. Dies gilt nicht nur für die konservative Therapie, sondern genauso für Patienten nach Adipositaschirurgie. Die Anforderungen einer langfristigen Betreuung von Menschen mit Adipositas in jedem Alter als einer chronisch kranken Bevölkerungsgruppe ist in Österreich wie in so gut wie allen anderen europäischen Ländern [1] nur unzureichend umgesetzt. In der Pädiatrie gab und gibt es einige innovative Ansätze. So wurden beispielsweise in Deutschland Rehabilitationsmaßnahmen zur initialen Basisschulung und Gewichtsreduktion mit einer nachfolgenden ambulanten Nachbetreuung verknüpft (s. Abschn. „Rehabilitation“).

Bei Kindern und Jugendlichen muss die in der Initialphase einer Therapie begonnene Lebensstiländerung langfristig durch den Patienten und die Familie fortgeführt werden. Dies erfordert eine langfristige therapeutische Begleitung der Patienten und deren Familien, um anfängliche Behandlungserfolge langfristig abzusichern. Ein erfolgversprechendes Konzept für eine „Behandlungskette für adipöse Kinder und Jugendliche“ hat die deutsche Konsensusgruppe Adipositasschulung für Kinder und Jugendliche e. V.® (KgAS) in ihrem aktualisierten Trainermanual vorgestellt [9]. Patientenselbsthilfe wird bei chronischen Erkrankungen als wichtiger Baustein in einem multimodalen langfristigen Konzept angesehen. Der Einsatz von elektronischen Kommunikationsformen (diverse Apps, Facebookgruppen und andere) zur Begleitung langfristiger Verhaltensveränderung wurde in Modellprojekten beschrieben und könnte zukünftig zum Einsatz kommen [8].

Österreichisches Modell einer Behandlungskette zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Adipositas

Das vorliegende österreichische Konzept sieht ein mehrstufiges Modell im Sinn einer Behandlungskette vor (Abb. 1). Das Konzept beruht zudem auf der Verzahnung mehrerer Versorgungsebenen (Abb. 4) bestehender und neu zu etablierender regionaler, überregionaler und zentraler Versorgungsstrukturen. Dabei decken Kinder- und Jugendfachärzte und Allgemeinmediziner im Verbund mit Kinder- und Jugendpsychiatern und Schulärzten die Primärversorgungsebene ab. Die Patienten und deren Familien erhalten individuelle ärztliche Diagnostik und Beratung und werden im Hinblick auf lokal verfügbare unterstützende Ressourcen beraten. Die Primärversorgung ist die erste Anlaufstelle im Gesundheitsversorgungssystem mit wohnortnahen Angeboten. Es gibt in einigen Bundesländern interdisziplinäre Unterstützungsangebote für Familien mit übergewichtigen bzw. adipösen Kindern und Jugendlichen. Strukturierte Schulungsprogramme auf der Primärversorgungsebene zur extramuralen Erstbetreuung und Nachsorge sind als Präsenz- und eventuell Online-Format zu entwickeln und bundesweit verfügbar zu machen. Ein Mindeststandard soll die Betreuungsqualität dieser Programme sichern (Minimum an verbindlichen Kriterien für inhaltliche und strukturelle Voraussetzungen für ambulante Adipositasschulungsprogramme für Kinder und Jugendliche). Sollte sich dies als unzureichend erweisen, stehen interdisziplinäre ambulante Versorgungszentren in der zweiten Versorgungsebene zur Verfügung. Zu diesen kann bei günstiger sozialer, medizinischer und psychomentaler Risikokonstellation (z. B. Kinder im Vorschulalter mit stabilem sozialen Umfeld) direkt überwiesen werden. Bei ungünstiger oder fraglicher Risikokonstellation sollte eine interdisziplinäre somatische und psychosoziale Diagnostik und Risikostratifizierung erfolgen. Diese wird typischerweise in pädiatrischen oder kinder- und jugendpsychiatrischen Abteilungen im stationären Setting stattfinden, kann bei entsprechender Verfügbarkeit relevanter Ressourcen jedoch auch in Abteilungen für Kinder- und Jugendpsychiatrie oder ambulanten Adipositasstrukturen erfolgen. Bei Übernahme der Versorgung durch ein interdisziplinäres Versorgungszentrum erfolgt auch das Case Management durch dieses so lange, bis der Patient bzw. die Patientin wieder in die Fallführung von Kinder- und Jugendmedizinern oder Allgemeinmedizinern übergeben oder vorübergehend durch das Case Management einer stationären Einrichtung übernommen wird. In diesem Zusammenhang sei auch die am 28. Juni 2017 im Parlament beschlossene Festlegung der gesetzlichen Rahmenbedingungen für Primärversorgungseinrichtungen (PVE), in denen in Gruppenpraxen oder Gesundheitszentren eine Adipositasversorgung angeboten werden kann, als neue Versorgungsform genannt. Die PVE können ebenso als ambulante Versorgungszentren dienen wie etablierte Kinder- und Jugendabteilungen bzw. an sie angegliederte Strukturen.

Abb. 1
figure 1

Österreichisches Konzept eines mehrstufigen Modells im Sinn einer Behandlungskette (© Projektgruppe Nationales Konzept Adipositas im Kindes- und Jugendalter im Auftrag der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde)

Eine stationäre Therapie und Schulung in einer Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde (Allgemeinpädiatrie oder Psychosomatik) oder Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie kann bei entsprechenden medizinischen (insbesondere metabolischen wie orthopädischen) sowie psychischen Komorbiditäten (z. B. Essstörungen, Depression, Auffälligkeiten im Sozialverhalten und andere) notwendig werden, bevor eine ambulante Schulung möglich ist. Mit der Einführung von Kinderrehabilitationseinrichtungen in Österreich wurde vom Dachverband der österreichischen Sozialversicherungen eine Versorgungslücke geschlossen. Die Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen soll in der jeweils angemessenen Form sowohl körperliche als auch psychische und soziale Aspekte berücksichtigen.

In den vier Versorgungszonen stehen neue Einrichtungen zur Verfügung, die die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Adipositas erfüllen können. In einem Zentrum (Leuwaldhof, St. Veit/Pongau, Salzburg) wird als Schwerpunkt die Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen mit Adipositas im Rahmen der Indikation Stoffwechsel ohne zusätzliche psychische und Verhaltensstörungen (F-Diagnosen nach ICD-10) angeboten. In weiteren Einrichtungen (kokon Bad Erlach, Niederösterreich; kokon Rohrbach-Berg, Oberösterreich; Wildbad Einöd, Steiermark; Wiesing, Tirol) wird auch das Spektrum der psychosozialen Komorbiditäten mit der Versorgung im Mental-Health(MH)-Bereich abgedeckt. Kinder werden dabei nach Möglichkeit von einem Elternteil begleitet, Jugendliche ab dem etwa 13. Lebensjahr absolvieren den Rehabilitationsaufenthalt allein oder in Begleitung.

In Analogie zum vorgeschlagenen deutschen Rehabilitationsnachsorgekonzept und in Übereinstimmung mit dem österreichischen Modell einer Behandlungskette erfolgt die Nachsorge im gegenständlichen österreichischen Konzept durch das zuweisende interdisziplinäre Zentrum im ambulanten Setting.

Rolle der bariatrischen Chirurgie im österreichischen Modell

Bariatrisch-chirurgische Eingriffe sollten ausschließlich in Zentren mit ausgewiesener Expertise angeboten werden, die die in Abschn. „Qualitätsmanagement“ beschriebenen Qualitätskriterien erfüllen. Darüber hinaus sollten diese Zentren sowohl Jugendliche als auch Erwachsene betreuen, um bestmögliche Voraussetzungen für eine erfolgreiche Transition und postoperative Nachbetreuung vorhalten zu können.

Anpassungen und Ergänzungen zum Therapiekonzept der Konsensusgruppe Adipositasschulung

Das Therapiekonzept der KgAS der deutschen Adipositasgesellschaft ist Grundlage des vorliegenden Konzepts. Das von der KgAS entwickelte Adipositasschulungsprogramm „leichter, aktiver, gesünder“ und die ergänzenden Unterlagen („Trainermanual leichter, aktiver, gesünder“) sowie das KgAS-Adipositasnachsorgeprogramm sind dabei zentrale Elemente [9]. Dies gilt auch für die Implementierung einer verbindlichen und an die Leistungshonorierung gebundene Struktur‑, Prozess‑, Konzept- und Ergebnisqualitätssicherung (s. Abschn. „Qualitätsmanagement“). Dennoch sieht das vorliegende Konzept Ergänzungen und Anpassungen an die österreichischen Gegebenheiten vor, die nachfolgend kurz zusammengefasst werden.

  1. 1.

    Zentrales Ziel ist ein durchgängiges Konzept im Sinn einer Behandlungskette, das ambulante und stationäre Versorgung, von der Primärversorgung zur bariatrischen Chirurgie, verzahnt.

  2. 2.

    Interdisziplinäre Teams (ambulant oder stationär) nehmen im Diagnose- und Behandlungskettenkonzept eine zentrale Rolle ein.

  3. 3.

    Eine Risikostratifizierung und individuelle, realistische Therapiezieldefinition erfolgt mit besonderer Berücksichtigung psychomentaler Aspekte.

  4. 4.

    Besonderes Augenmerk wird auf Kinder und deren Eltern (bzw. Bezugspersonen und das soziale Umfeld) im Vorschul- und Volksschulalter gelegt.

  5. 5.

    Eine Integration von bariatrisch-metabolischer Chirurgie in das Gesamtkonzept für ausgewählte Jugendliche erfolgt nach strenger Indikationsstellung

Behandlungspfad

Die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Übergewicht und Adipositas erfolgt nach einem Behandlungspfad, der das Ausmaß des Übergewichts (Übergewicht vs. Adipositas), das Alter und Begleiterkrankungen berücksichtigt. Hierbei wird zunächst zwischen Kindern und Jugendlichen mit Übergewicht und jenen mit Adipositas unterschieden. Grundlage ist der (Be‑)Handlungspfad Übergewicht & Adipositas auf Primärversorgungsebene [2].

Eine Modifikation wurde in Bezug auf die zugrunde gelegten Perzentilenkurven (Kromeyer-Hauschild statt WHO Growth Charts) zur Diagnose von Übergewicht bzw. Adipositas vorgenommen. In Abb. 2 ist die Vorgehensweise bei Kindern und Jugendlichen mit Übergewicht dargestellt; Abb. 3 zeigt das Prozedere bei Adipositas und extremer Adipositas.

Abb. 2
figure 2

Behandlungspfad für Kinder und Jugendliche mit Übergewicht (modifiziert nach [2])

Abb. 3
figure 3

Behandlungspfad für Kinder und Jugendliche mit Adipositas und extremer Adipositas (modifiziert nach [2]). aAdjuvante pharmakologische Gewichtsreduktion ist möglich bei Jugendlichen mit Adipositas ab 12 Jahren, wenn körperliche oder schwerwiegende psychologische Begleiterkrankungen vorliegen. bEine bariatrische Operation ist nur im Einzelfall, nach strenger Indikationsstellung möglich, wenn alle nachfolgenden Kriterien erfüllt sind (weitere Details s. Therapie-Leitlinienempfehlungen 28–33): Body-Mass-Index (BMI) > 50 kg/m2 oder BMI > 35 kg/m2 + assoziierte Begleiterkrankungen und mindestens 6 Monate frustrane Lebensstilintervention und das Erreichen eines Pubertätsstadiums IV nach Tanner und von 95 % der prognostizierten Endgröße sowie eine erfolgte psychiatrisch/psychologische Untersuchung, um Störungen zu erkennen, die eine Kontraindikation zu einer Adipositas-chirurgischen Maßnahme darstellen können

In den Behandlungspfaden wird auf Handlungsempfehlungen zu den Themen Diagnostik, Anamnese, Aufklärung der Familie, Therapieindikation, Therapie von Begleiterkrankungen, Lebensstilintervention, Ernährung, Steigerung körperlicher Aktivität, Verhaltensänderung, pharmakologischer und bariatrisch-chirurgischer Intervention verwiesen, die im Anhang Supplement 3 detailliert ausgeführt sind.

Versorgungsniveaus

Die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Adipositas in 4 verschiedenen Versorgungsniveaus wird in Abb. 4 dargestellt. Darin ist zusammengefasst, welche Vorgaben an Diagnostik, Therapie, Prozesssteuerung, Teamzusammensetzung und deren Qualifikation, verwendete Werkzeuge und Schulungsunterlagen der Versorgungsniveaus gestellt werden (Anhang Supplement 4). Zudem wird auf die jeweiligen Ausführungen in der S3-Leitlinie und den darin gegebenen Empfehlungen verwiesen; soweit notwendig werden österreichspezifische Besonderheiten beschrieben.

Abb. 4
figure 4

Übersicht über Vorgaben an Diagnostik, Therapie, Prozesssteuerung, Teamzusammensetzung und -qualifikation, Schulungsmaterial, Qualitätsmanagement und die zugrundeliegenden Leitlinienempfehlungen der verschiedenen Versorgungsniveaus (© Projektgruppe Nationales Konzept Adipositas im Kindes- und Jugendalter im Auftrag der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde)

Rehabilitation

Österreichische Kinder und Jugendliche mit Adipositas wurden bis 2019 überwiegend nach Deutschland zur Rehabilitation überwiesen. In einem Vergabeverfahren wurde in Österreich der Zuschlag für Rehabilitationseinrichtungen für Kinder- und Jugendliche erteilt, die Phase-II-Einrichtungen laut Österreichischem Rehabilitationsprozess sind.

Voraussetzungen

Rehabilitation funktioniert nur in interdisziplinärer und intensiver Zusammenarbeit zwischen Arzt/Ärztin, Diätologen, Ergotherapeuten, Logopäden, Physiotherapeuten, Pflegepersonal, Psychologen/Psychotherapeuten, Freizeitpädagogen, Sozialarbeitern und anderen, unter Berücksichtigung der familiären, schulischen und beruflichen Situationen sowie mit individuell leistungsangepasstem Therapieablauf möglichst mit begleitendem Schulunterricht oder berufsorientiertem Praktikum.

Voraussetzungen sind:

  • Abgeschlossene Diagnostik vor Zuweisung (kinder- und jugendfachärztlich, psychologisch und kinder- und jugendpsychiatrisch sowie orthopädisch)

  • Nur im Rahmen eines mehrwöchigen Therapieprogramms (mindestens 3–5 Wochen), möglichst mit Bezugspersonen

  • Eingebettet in ambulante interdisziplinäre Versorgungsstruktur vorher und nachher

  • Möglichkeit zur Verlängerung je nach Notwendigkeit, alternativ Etablierung von Wohngemeinschaften für unbegleitete Jugendliche

Eine Rehabilitation ist sinnvoll und vorteilhaft,

  • wenn eine ambulante interdisziplinäre Therapie ausgeschöpft wurde und dadurch medizinisch wie auch psychosozial keine ausreichende Verbesserung erreicht werden konnte.

  • wenn die notwendige Intensität der Patienten schulungen unter ambulanten Bedingungen nicht gewährleistet werden kann.

  • wenn durch einen kurzfristigen/langfristigen Aufenthalt im familiären Setting eine Therapieoptimierung erreicht werden kann.

  • wenn durch einen kurzfristigen/langfristigen Aufenthalt jugendlicher Patienten außerhalb des familiären Settings eine Entlastung und dadurch Therapieoptimierung im Sinn von selbstständiger Mitarbeit/Lebensstilführung erzielt werden kann.

  • wenn die bestehende/n Komorbidität/en eine stationäre Therapie erforderlich macht/machen.

  • als Therapieoption vor bariatrisch-chirurgischen Eingriffen.

Schwerpunktsetzung der Zentren:

  • Rehabilitationszentrum mit Schwerpunkt „Stoffwechsel“: Stationäre Rehabilitation von Patienten mit Schwerpunkt Adipositas ± metabolische Komorbiditäten

  • Rehabilitationszentrum mit Schwerpunkt „Mental Health“: Stationäre Rehabilitation von Patienten mit Schwerpunkt Adipositas und psychisch/psychiatrischen Verhaltensstörungen (F-Diagnosen nach ICD-10) mit Bedarf für „mental health“

Ein- und Ausschlusskriterien

Indikation zur stationären Rehabilitation

Altersgruppen

  • Kinder ab dem Kleinkindalter bis zum etwa 12. Lebensjahr mit einer Begleitperson

  • Jugendliche ab dem etwa 12. Lebensjahr allein bzw. nach Möglichkeit gemeinsam mit einer Begleitperson

Rehabilitationszentrum mit Schwerpunkt „Stoffwechsel“

  • Absolvierte Lebensstilintervention über zumindest 6 Monate und stabiler/ansteigender BMI und

  • Patientinnen und Patienten mit extremer Adipositas oder

  • Adipositas mit metabolischen Komorbiditäten (metabolisches Syndrom, Diabetes mellitus Typ 2 [T2DM], nichtalkoholische Fettlebererkrankung [NAFLD])

Rehabilitationszentrum mit Schwerpunkt „Mental Health“

  • Absolvierte Lebensstilintervention über zumindest 6 Monate und stabiler/ansteigender BMI und

  • Patientinnen und Patienten mit Adipositas mit F‑Diagnosen nach ICD-10 mit oder ohne metabolische Komorbiditäten (metabolisches Syndrom, T2DM, NAFLD)

Wer kann zuweisen?

Die Zuweisung kann sowohl von Spitalsabteilungen als auch von niedergelassenen Ärzten erfolgen.

Dauer der stationären Rehabilitation

  • Stoffwechsel: 3 Wochen, optionaler Antrag auf Verlängerung auf 6 Wochen durch Rehabilitationseinrichtung

  • Mental Health: 5 Wochen, Option auf Verlängerung bei medizinischer Notwendigkeit durch Rehabilitationseinrichtung

  • Langzeittherapie über 2 bis 6 Monate für Patient*innen bei unzureichender Umsetzung der Therapieziele innerhalb der initialen 3 Wochen und besonderem Schweregrad assoziierter Komorbiditäten bzw. Patient*innen mit besonders schwieriger psychosozialer Situation und erheblichen Komorbiditäten. Die Indikation dazu sind „D-Patienten“ nach Wiegand (Tab. 1), schwierige psychosoziale Situation, wenngleich keine F‑Diagnose.

Tab. 1 ABCD-Schema nach Wiegand [10]

Eine Begleitung ist bei allen Patientinnen und Patienten anzustreben, insbesondere bei Kindern unter 12 Jahren.

Zielsetzungen einer stationären Rehabilitation

  • Erreichen einer langfristigen Stabilisierung bzw. Reduktion des Körpergewichts mit anhaltendem Lerneffekt im Sinn einer Lebensstilmodifikation

  • Reduktion von Komorbiditäten zur Verbesserung des metabolischen, psychosozialen und psychiatrischen Gesundheitszustands

  • Verbesserung oder Wiederherstellung der Lebensqualität, u. a. durch Stärkung des Selbstbewusstseins und des Selbstwertgefühls

  • Verbesserung oder Wiederherstellung der körperlichen und psychischen Belastbarkeit bzw. Verstärkung oder Steigerung der persönlichen Ressourcen

  • Verbesserung des individuellen Selbstmanagements in der Änderung der allgemeinen Lebensgewohnheiten (Tagesstruktur, Leistungsbereitschaft) und Unterstützung, Anleitung und Beratung der Patientinnen und Patienten/der gesamten Familie bei der Umsetzung der Rehabilitationsziele in den Alltag

  • Unterstützung, Anleitung und Beratung in der Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit und motorischen Fähigkeiten durch Sport und Bewegung unter Berücksichtigung individueller Fertigkeiten und Neigungen

  • Unterstützung, Anleitung und Beratung in der Optimierung bzw. Umstellung des Ess- und Ernährungsverhaltens

  • Erlernen vom Medienkompetenz

  • Unterstützung, Anleitung und Beratung in der Verbesserung sozialer Integration (Peer Group, Schule, Berufsfindung und Berufshinführung und -beratung)

  • Unterstützung im Umgang und in der Akzeptanz von (chronischer) Krankheit oder Beeinträchtigung und Erlernen von Copingstrategien

  • Ausgleich und Unterstützung bezüglich krankheitsbegleitender schulischer Leistungsschwierigkeiten und Beratung für eine spätere berufliche Tätigkeit

  • Verbesserung der Adhärenz

  • Vermittlung einer adäquaten Nachsorge (ambulante Therapieprogramme, Wohngemeinschaften, betreutes Wohnen etc.)

Die Einbindung der Eltern ist ein zentraler Behandlungsbaustein, der den nachhaltigen Erfolg der Rehabilitation verbessern soll.

Behandlungskonzept

Für die Rehabilitation gelten wie für die anderen Versorgungsebenen und therapeutischen Settings die in Abschn. „(Evidenzbasierte) Leitlinie Therapie (2019)“ (Leitlinie Therapie) beschriebenen, evidenzbasierten, Therapieinhalte sowie die in Abschn. „Qualitätsmanagement“ beschriebenen Anforderungen an Struktur‑, Prozess‑, Ergebnis- und Konzeptqualität.

Ergänzende Details zu den Therapieinhalten sowie zum Behandlungsablauf sind im Anhang Supplement 5 zu finden.

Nachsorgekonzept als Teil der Behandlungskette

Weder eine strukturierte Nachsorge durch niedergelassene Ärzte noch eine Nachsorge nach einem Intervallrehabilitationskonzept haben eindeutig positive Effekte auf die Nachhaltigkeit gezeigt [25]. Eine Projektgruppe der KgAS hat ein Nachsorgekonzept entworfen, das die vorliegende Evidenz berücksichtigt und in einer Machbarkeitsstudie evaluiert wurde. Die Auswertung zeigte eine gute Machbarkeit und hohe Zufriedenheitswerte bei allen beteiligten Gruppen (Kinder/Jugendliche, Eltern, Nachsorgekräfte, Rehabilitationsklinik; [11]).

Nach einer stationären Rehabilitation der Phase II laut Österreichischem Rehabilitationsprozess wird demnach die Indikation zur Nachsorge von der vorbehandelnden Einrichtung entsprechend dem Schweregrad der Adipositas, den Komorbiditäten und der Prognose der Zielerreichung nach dem International-Classification-of-Functioning-Disability-and-Health(ICF)-Teilhabemodell gestellt. Eine Rahmenbedingung ist ein Case Management, das verschiedene Schnittstellen und Professionen der Nachsorge verbindet: In der Stufe 1 (entsprechend einer Phase-II-Rehabiliation), organisiert das Case Management aus der Rehaeinrichtung heraus ambulante Betreuung und Angebote. Die Nachsorge selbst sollte durch Therapeuten im Einzelsetting oder in kleinen therapeutischen Gruppen durchgeführt werden. Die Schulung der Familie bzw. der Bezugsperson(en) und die Motivationsförderung des Patienten/der Patientin stehen im Vordergrund. Die einzelnen formulierten Module enthalten kognitive, sozioemotionale, verhaltens- sowie umfeldbezogene Zielebenen und eine stichwortartige Ausarbeitung über Ablauf, Zeitbedarf, notwendige Materialien und Bezüge zum Trainermanual (Leichter-Aktiver-Gesünder) der Adipositasbehandlung [9]. Diese Nachbetreuung kann somit am besten von ambulanten Therapieeinrichtungen der zweiten Versorgungsstufe (s. Abschn. „Versorgungsniveaus“; Abb. 4) angeboten werden. Folgende Themen wurden modularisiert:

  • Erst‑, Familiengespräch – Bestandsaufnahmen – Zielplanung

  • Ressourcen und Hindernisse zur Aufrechterhaltung der Lebensstilveränderung

  • Unterstützungsmöglichkeiten/Planung für den Betroffenen/die Betroffene

  • Ernährungspyramide, Portionsgrößen

  • Selbstwahrnehmung, Selbstbeobachtungstagebuch

  • Umgang mit Risikosituationen, Frust und Stress

  • Umgang mit Hänseleien, Mobben

  • Exploration der häuslichen Umgebung

  • Einkaufstraining

  • Umgang mit Rückfällen

  • Essen außer Haus und bei besonderen Anlässen

  • Aktive Alltagsgestaltung und Medienkonsum

  • Aktive Freizeitgestaltung (Bewegung, Inaktivität)

  • Recherche und Finanzierung von Freizeit und Sportangeboten

  • Kontakt herstellen zu Anbietern und Begleitung zu Freizeit- und Sportangeboten

Qualitätsmanagement

Qualitative und quantitative Qualitätskriterien

Gewichtsmanagementprogramme sollten im Sinn der Sicherheit und der Wirksamkeit der Anwendung einer Reihe von Qualitätskriterien entsprechen, wie strukturelle und personelle Voraussetzungen, Wissenschaftlichkeit, Datendokumentation und Evaluierung. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung des deutschen Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung hat bereits in der Vergangenheit wesentliche Qualitätskriterien für Programme zur Prävention und Therapie von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen veröffentlicht [27]. Auch die (Be‑)Handlungspfade der Medizinischen Universität Graz [2] spiegeln qualitative und quantitative Parameter zur Beurteilung von Übergewicht- und Adipositastherapieprogrammen wider. Die Anforderungen sind mit diesen Qualitätskriterien in Übereinstimmung und umfassen Anforderungen an die

  • konservative Adipositastherapie und

  • bariatrisch-chirurgische Adipositastherapie

im Hinblick auf Struktur‑, Prozess‑, Ergebnis- und Konzeptqualität. Diese sind im Anhang Supplement 6 beschrieben.

Die Struktur- und Prozessqualität muss fortlaufend dokumentiert werden. Zur Sicherung der Nachhaltigkeit und Überprüfung der Wirksamkeit ist wenigstens eine verpflichtende Nachuntersuchung ein Jahr nach Ende der Schulungsmaßnahme als fester Bestandteil in das Programm integriert.

Das Fundament für eine optimale Betreuung der Kinder und Jugendlichen mit Übergewicht oder Adipositas sind fachspezifische Weiterbildungen.

Das Absolvieren eines Basisseminars ist für alle Disziplinen Voraussetzung, um in einem Adipositasschulungsteam umfassende und strukturierte Betreuung anbieten zu können. Im Rahmen dieser Basisschulung werden Grundlagen und fachspezifische Inhalte vermittelt und ein qualitätsgesichertes Trainermanual (bundesweiter Standard, ähnlich dem Betreuungs- und Therapieprogramm Therapie aktiv) zur Verfügung gestellt.

Zudem sind von allen Disziplinen regelmäßig Weiterbildungen in diesem Bereich durchzuführen.

Um die inhaltliche Qualität des Schulungsprogramms sicherzustellen, empfiehlt es sich, dass Mitglieder des Therapieteams in Ergänzung zu den für Gesundheitsberufe gesetzlich sichergestellten Qualifikationen spezialisierte Fort- und Weiterbildungsangebote wahrnehmen. Beispiele dafür sind

Andere Angebote sind ebenfalls anzuerkennen.

Der Umfang der Basisschulungen ist mit den Vertreter*innen der verschiedenen Berufsgruppen abzustimmen und zu definieren (Diplomfortbildungspunkte der Ärztekammer, Continuing Professional Development-Zertifikat der Medizinisch-Technischen Dienste oder ähnliche im Fortbildungszeitraum von 5 Jahren).

Wünschenswert ist eine Einbindung von und inhaltliche Abstimmung mit den relevanten österreichischen Berufsverbänden (v. a. Dachverband der Diätologen, Dachverband der Physiotherapeuten, Berufsverband der Psychologen, ÖGKJ).

Ökonomische Aspekte

Mehrere Studien sowie ein rezenter OECD-Bericht [19] belegen eindrucksvoll die gesteigerten Kosten im Gesundheitssystem bei Adipositas im Kindes- und Jugendalter und damit verbundene Belastungen für die Allgemeinheit (Tab. 2).

Tab. 2 Gesteigerte Kosten für Gesundheitssysteme

Umsetzungsplan

Mit dem Umsetzungsplan soll skizziert werden, wie und in welchem Zeitplan Partner auf allen Versorgungsebenen in allen Bundesländern Österreichs gewonnen werden.

  • Bildung einer Projektgruppe

  • Pilotierung des Grobkonzepts in fünf Regionen, in denen bereits (bislang unabhängige) Versorgungsstrukturen bestehen

  • Vorbereitung zur bundesweiten Ausrollung

    • Konzeption der bundesweiten Ausrollung

    • Erhebung des Ist-Stands der für eine bundesweite Ausrollung infrage kommenden Partner der vier Versorgungsebenen in allen österreichischen Bundesländern

    • Einladung zur Teilnahme am Versorgungskonzept der infrage kommenden Partner der vier Versorgungsebenen in allen österreichischen Bundesländern

    • Festlegung der initialen Projektpartner

  • Bundesweite Ausrollung

Pilotierung mit folgenden bestehenden Projekten

  • Wien: ENORM INFORM

    • Setting: Gruppe

    • Alter: 6–14 Jahre (6–9 Jahre, 10–14 Jahre)

  • Oberösterreich: FIT KIDS

    • Setting: Gruppe

    • Alter: bis 12 Jahre

    • Gruppen- und Einzelsetting

  • Salzburg: INFORM INDIVIDUELL/EASY KIDS

    • Setting: Einzel/GRUPPE

    • Alter: 3–18 Jahre

  • Kärnten: DOWN & UP

    • Setting: Gruppe

    • Alter: 8–18 Jahre

  • Vorarlberg: X‑Team

    • Setting: Gruppe

    • Alter: 8–13 Jahre

Annahme: 2 % von 40.000 Kindern und Jugendlichen mit Adipositas nehmen jährlich das Angebot der Stufe 3 (multidisziplinäres Programm) an, 1 % ein Rehaangebot.

  • 800 Kinder/Jugendliche ambulant

  • 400 Rehapatienten

    • 30 % Stoffwechselschwerpunkt (120 Patienten × 3 Wochen, entspricht ca. 7,3 belegte Betten über 50 Wochen/Jahr)

    • 70 % Mental Health

      Kurzreha (80 %; 224 Patienten mal 5 Wochen; entspricht etwa 22,4 belegte Betten über 50 Wochen/Jahr)

Annahme: 50 % der für Reha infrage kommenden Patienten bedürfen eines stationären Aufenthalts zur differenzierten, multidisziplinären Diagnostik.

Daraus ergibt sich der in Tab. 3 dargestellte Bedarf an Bettenkapazitäten an stationären Abteilungen zur interdisziplinären Diagnostik, wenn dies ambulant nicht möglich ist.

Tab. 3 Bedarf an Bettenkapazitäten an stationären Abteilungen zur interdisziplinären Diagnostik, wenn dies ambulant nicht möglich ist

Finanzierungskonzept

Annahme: Die Primärversorgung ist finanziert bzw. nicht Teil des vorliegenden Konzepts.

Notwendige Finanzierung:

Die Sicherstellung der Finanzierung folgender Punkte ist konkreter Gegenstand dieses Konzepts:

  1. 1.

    Finanzierung eines Detailkonzepts für eine bundesweite Umsetzung des Grobkonzepts

  2. 2.

    Finanzierung der bundesweiten multidisziplinären ambulanten Therapie (Stufe 4 der Lebensstilintervention)

Annahme: Evidenzbasierte Therapieprogramme sind über die Lebensspanne kostensparend.

Es gibt belastbare internationale Daten dafür, dass eine multidisziplinäre ambulante Therapie von Kindern und Jugendlichen mit Adipositas, wie sie im gegenständlichen Konzept vorgeschlagen wird, kosteneffektiv ist [19, 20]. Prospektive österreichische gesundheitsökonomische Studien, die die Komplexität der Erkrankung und die geplante Vernetzung von stationären und ambulanten Maßnahmen berücksichtigen, fehlen bislang (Tab. 4).

Tab. 4 Geschätzte Kosten einer bundesweiten multidisziplinären ambulanten Therapie

Annahme: Kosten pro Kind/Jugendlicher pro Jahr für multidisziplinäre Betreuung: 2200 €.

Wenn 800 Kinder und Jugendliche (2 % der Betroffenen pro Jahr) eine multidisziplinäre Therapie in Anspruch nehmen, entstehen ambulante Gesamtkosten von etwa 1,8 Mio. € pro Jahr. Dem gegenüber stehen anzunehmende direkte und indirekte Kosten für das österreichische Gesundheitssystem von etwa 1 Mrd. € [12] bzw. 30 – bis 700 Mio. € [15; 18] für die 40.000 aktuell betroffenen Kinder und Jugendlichen mit Adipositas (ohne jene mit Übergewicht) über die Lebensspanne. Zusätzlich berücksichtigt werden müssen weitere Wirkfaktoren wie die gesellschaftliche Akzeptanz und Enttabuisierung der Erkrankung.