Einleitung

Das Neugeborenen-Screening (NGS) zielt darauf ab, behandelbare Krankheiten (im Screening sprechen wir genauer gesagt von Konditionen), die mit einer signifikanten Morbidität oder Mortalität verbunden sind, frühzeitig zu identifizieren [1]. Das NGS bedient sich der getrockneten Blutstropfen auf Filterkarten (Trockenblutkarten), die eine einfache Blutentnahme, eine hohe Probenstabilität und einen einfachen und kostengünstigen Transport der Proben zu einem zentralen Labor ermöglichen. In den 1960er-Jahren markierte die Analyse von Trockenblutkarten auf Phenylketonurie (PKU) den Ausgangspunkt für bevölkerungsweite Screenings und ist damit eine der am längsten laufenden Screening-Initiativen der Welt [2]. Danach haben nicht nur immer mehr Länder NGS-Programme entwickelt, sondern immer mehr Screening-Technologien und therapeutische Interventionen haben zu einer raschen Ausweitung des NGS geführt. Der Einschluss und Ausschluss von Konditionen in die Screening-Panels ist ein dynamischer, anhaltender Prozess. Dieser wurde durch ein besseres Verständnis der Krankheiten und ihrer Pathomechanismen, Therapien und die Verfügbarkeit geeigneter diagnostischer Tests beschleunigt. In den 1990er- und 2000er-Jahren führte die Einführung von massenspektrometrischen Methoden, als erweitertes NGS bezeichnet, zu einem großen Sprung [3]. Infolgedessen sind Morbidität und Mortalität von Kindern mit Erbkrankheiten und angeborenen Krankheiten dramatisch zurückgegangen [4]. Der nächste Sprung könnte durch die Einführung genetischer Screening-Methoden unmittelbar bevorstehen. Obwohl das NGS international als wichtige Gesundheitsinitiative für die Bevölkerung anerkannt ist und im Wesentlichen in der gesamten entwickelten Welt sowie in vielen Entwicklungsländern angewendet wird, bestehen große Unterschiede hinsichtlich der untersuchten Bedingungen. Interessanterweise gibt es höchstwahrscheinlich keine zwei Länder mit identischem Screening. Dies ergibt sich aufgrund unterschiedlicher Interpretation der Auswahlkriterien sowie unterschiedlicher wirtschaftlicher und politischer Umstände [5].

Neugeborenen-Screening in Österreich

Bereits in den 1960er-Jahren hat der Kinderarzt Professor Otto Thalhammer die Bedeutung des NGS für das Gesundheitswesen erkannt und in Pionierarbeit diese Innovation in Österreich an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde implementiert, wo es bis heute im Auftrag des Gesundheitsministeriums (derzeit Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz) lokalisiert ist. Es unterliegt ständiger Erneuerung nach den neuesten Qualitätskriterien; es wird mit modernsten technischen Methoden und durch fachkompetenten Mitarbeiter multidisziplinär durchgeführt.

Vorerst wurde nur eine Krankheit, die Phenylketonurie, untersucht. Innerhalb desselben Jahres wurden die Galaktosämie und rasch danach noch weitere 8 angeborene Stoffwechselstörungen bzw. Endokrinopathien (kongenitale Hypothyreose, Biotinidasemangel, zystische Fibrose und adrenogenitales Syndrom) eingeschlossen. Damals galt das österreichische NGS deshalb als eines der umfassendsten Früherkennungsprogramme weltweit. Die Entwicklung der revolutionären technischen Errungenschaft, der Tandem-Massenspektrometrie, mit der mehrere Blutparameter simultan in wenigen Minuten untersucht werden können, führte Ende der 1990er-Jahre in den USA und im April 2002 in Österreich, geleitet durch Prof. Sylvia Stöckler-Ipsiroglu, zur Erweiterung des Screening-Panels um noch 20 weitere Krankheiten [6].

Entwicklungen aufgrund von Forschungsergebnissen sowohl technischer als auch medizinischer Natur resultieren in der ständigen Erneuerung des NGS. Auch das Panel an gesuchten Konditionen verändert sich im Lauf der Zeit. Aktuell wird im österreichischen NGS nach 28 Konditionen gesucht (die Anzahl variiert in Abhängigkeit von der Kategorisierung der Krankheiten). Inkludiert sind 2 Hormonstörungen und die zystische Fibrose. Die metabolischen Zielkrankheiten gehören größtenteils der Gruppe der Intoxikationskrankheiten an, d. h. Krankheiten, die sich bald nach der Geburt oder in den ersten Lebensmonaten manifestieren, wie mittel-, lang- oder überlangkettige Fettsäureoxidationsdefekte oder Organoazidurien, wie Methylmalonazidurie, Glutarazidurie Typ I, oder Harnstoffzyklusdefekte wie Citrullinämie.

Vitamin-B12-Mangel im österreichischen Neugeborenen-Screening

Ein Mangel an Vitamin B12 (Cobalamin; VitB12) kann sich nachteilig auf die Entwicklung von Säuglingen auswirken und wird zunehmend als globales Gesundheitsproblem erkannt [7, 8] VitB12-Mangel bei Neugeborenen und Säuglingen ist zumeist eine Folge von mütterlichem Mangel, der durch genetische Polymorphismen, chronische oder Autoimmungastritis, Magenbypass, Darminflammationen (Colitis ulcerosa), Wirt-Mikrobiom-Wechselwirkungen, Einnahme von Medikamenten (Carbamazepin), „hemolysis, elevated liver enzymes and low platelet count syndrome“ (HELLP-Syndrom) verursacht wird. Üblicherweise ist allerdings die Hauptursache eines maternalen VitB12-Mangels der geringe Verzehr von Nahrungsmitteln tierischen Ursprungs, während im letzten Trimenon ein Mehrbedarf von VitB12 besteht. Die Gefahr einer Mangelernährung nimmt insbesondere bei Führung einer veganen und einer vegetarischen Ernährung zu [7].

Eine unzureichende VitB12-Aufnahme führt zunächst dazu, dass die VitB12-Speicher in der Leber aufgebraucht werden, um die Menge an VitB12, die an Holotranscobalamin, die aktive Form von VitB12, gebunden ist, im Blut konstant zu halten. Die Erschöpfung der VitB12-Speicher führt zu einer Abnahme des zirkulierenden Holotranscobalamins, was die zellulären VitB12-abhängigen Reaktionen stört und eine Akkumulation von Methylmalonsäure (MMA) und Homozystein verursacht. Aufgrund der hohen interindividuellen Variabilität werden die VitB12-, aber auch die Holotranscobalamin-Spiegel im Serum als suboptimale diagnostische Marker angesehen, während die MMA- und Homozysteinspiegel das zelluläre Cobalamin besser widerspiegeln und somit auf einen funktionellen VitB12-Mangel hinweisen [9].

VitB12-Mangel bei Säuglingen kann zu Gedeihstörungen, Apathie, Anorexie, Entwicklungsverzögerung, muskulärer Hypotonie, abnormalem Elektroenzephalogramm und zerebraler Atrophie führen. VitB12-Mangel kann einfach und sicher behandelt werden, durch die Verabreichung von Cyanocobalaminpräparaten, meist per os, oder von Hydroxycobalaminpräparaten parenteral (am optimalsten intramuskulär). Nach Substitution kommt es im Fall eines schweren VitB12-Mangels zu einer deutlich sichtbaren, raschen Verbesserung des Muskeltonus und der Motorik sowie der mit VitB12-Mangel verbundenen klinischen Symptome [8]. Obwohl ein Verdacht auf VitB12-Mangel im NGS nachgewiesen werden kann, ist ein VitB12-Mangel selten in regulären NGS-Panels zu finden und wird meist als sekundäre Erkrankung, Zufallsbefund oder Differenzialdiagnose angesehen [7, 8].

Aufgrund teilweise unspezifischer und zeitversetzter Symptome oder Entwicklungsstörungen, die nicht unbedingt wahrgenommen werden, besteht eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit, dass VitB12-Mangel bei Kindern nicht erkannt bzw. nach Beginn einer altersentsprechenden Kleinkinderkost nicht mehr nachgewiesen werden kann.

Darüber hinaus ist ein früher Zeitpunkt der Behandlung von großer Bedeutung, da besonders ein längerer Mangel zu irreversiblen neurologischen Schäden führen kann [10]. Diese Tatsachen waren der Anlass, im Jahr 2018 eine sensible und spezifische Methode zum Nachweis von VitB12-Mangel zu entwickeln und in das österreichische NGS-Programm zu integrieren. Seither wurden 0,15 % der Neugeborenen als Screening-positiv für einen VitB12-Mangel eingestuft, von denen knapp zwei Drittel einen akut niedrigen VitB12-Spiegel (< 148 pmol/L) bzw. sogar etwas mehr einen Holotranscobalamin-Wert unter 35 pmol/l aufwiesen. Insgesamt haben wir somit eine Prävalenz für VitB12-Mangel von etwa 90 pro 100.000 österreichischen Neugeborenen gefunden [11]. Das ist aufgrund des verbesserten Screening-Algorithmus deutlich mehr als in vergleichbaren publizierten internationalen Studien [12,13,14]. Insgesamt können wir durch die Anwendung der Screening-Strategie für VitB12-Mangel in Österreich rund 100 Kinder pro Jahr vor dem Risiko schützen, an manchmal schwerwiegenden Folgen von VitB12-Mangel zu leiden. Weitere Forschungsarbeiten sind erforderlich, um das VitB12-Mangel-Screening weiter zu optimieren, die tatsächliche Häufigkeit von VitB12-Mangel bei Neugeborenen zu erfassen und den tatsächlichen Nutzen des Screenings und der resultierenden Behandlung von Neugeborenen auf ihre entwicklungsbedingten und neurologischen Ergebnisse zu bewerten, also den Nutzen eines solchen Screenings endgültig nachzuweisen. Schließlich zeigt die von uns und anderen gefundene hohe Prävalenz von mutmaßlichem VitB12-Mangel, dass bessere Informationen zu VitB12 und dessen Mangel sowie zur Supplementierung von Müttern während der Schwangerschaft und Stillzeit erforderlich sind.

Praktische Umsetzung des Neugeborenen-Screening

Das NGS sollte zwischen der 36. und 72. Lebensstunde durchgeführt werden. Auf der Vorderseite der dafür vorgesehenen Filterpapierkarte sind Felder zur Dokumentation der Daten des Neugeborenen und der Kindesmutter sowie Besonderheiten, die die peri-/postpartale Zeit des Neugeborenen betreffen. Zur Vermeidung unnötiger Recalls oder gar falsch-negativer Resultate sollte unbedingt die Beschreibung der korrekten Blutabnahme und die weitere Behandlung auf der Rückseite der Trockenblutkarte beachtet werden. Die Kindesmutter sollte vor der Blutabnahme über das Screening (am besten mit dem vom österreichischen NGS ausgegebenen Informationsfolder) informiert werden und dies mit ihrer Unterschrift auf der Karte bestätigen. Sollte sie gegen die Durchführung sein, ist dies mit ihrer Unterschrift zu dokumentieren.

Neuerungen und Ausblick

Mit dem Ziel, so optimal wie möglich die Recall-Raten zu reduzieren, werden ständig neue Algorithmen und Zweittests überprüft und eingeführt. So konnte 2017 die zuvor hohe Recall-Rate bei der Detektion der zystischen Fibrose durch Einführung des Tests auf das pankreatitisassoziierte Protein um 75 % bei erhaltener Sensitivität reduziert werden. Das bedeutet, dass etwa 600 Familien jährlich nicht mehr unnötig kontaktiert und beunruhigt werden.

Neue Zielkrankheiten, derzeit noch in Pilotstudien, sind primäre Immundefizienzen („severe combined immunodeficiency“, SCID), die schon in einigen europäischen Ländern implementiert wurden.

Aktuelle wissenschaftliche Entwicklungen betreffend kurative Therapien („splicing modifyer“ SMN 2, Gentherapie) für die spinale Muskelatrophie (SMA) machen die Implementierung des Screenings auf diese Krankheit in das NGS dringend erforderlich. Hier ist eine Pilotstudie zur Prüfung in Vorbereitung. Methodisch wird eine entsprechende Veränderung im Erbgut mittels eines PCR-Tests nachgewiesen.

Nicht zuletzt gibt es in Österreich Bestrebungen, einige lysosomale Speicherkrankheiten wie Mukopolysaccharidose Typ I oder Morbus Pompe und Hämoglobinopathien in das NGS langfristig aufzunehmen.

Take home message

Österreich hatte von Beginn an eine Vorreiterrolle in einer weltweit bahnbrechenden und einer der erfolgreichsten präventivmedizinischen Errungenschaft, dem NGS. Dieses wird in Österreich fortwährend entsprechend dem technischen und wissenschaftlichen Fortschritt adaptiert, erweitert und erneuert, um das bestmögliche frühzeitige Erkennen schwerer Erkrankungen zu ermöglichen. Eines der Hauptkriterien, Konditionen präsymptomatisch so früh als möglich zu diagnostizieren, gilt auch für den VitB12-Mangel. Die einfache Methode der Probengewinnung mittels Fersenstich sowie die hohe Akzeptanz des NGS in der österreichischen Bevölkerung ermöglichen diesen Erfolg. Somit wird Kindern mit einer schweren Erkrankung und ihren Familien eine deutlich bessere Lebensqualität, aber auch in vielen Fällen ein nahezu normales Leben ermöglicht.