Fallbeispiel

Die 14-jährige Hannah („Elias“) wird in Begleitung ihrer Eltern vorstellig. Hannah berichtet, dass sie seit der Pubertät eine massive Unzufriedenheit mit sich selbst verspüre und die aufgrund ihres Körpers und ihres Geburtsgeschlechts gesellschaftlich zugedachte Rolle zunehmend ablehne. Diese Gefühle hätten in weniger ausgeprägter Form schon länger bestanden, seien meist verwirrend gewesen und hätten zuletzt großen Leidensdruck ausgelöst. Schon als Kind habe Hannah rückblickend betrachtet immer „mit den Buben gespielt“ und beispielsweise Kleider sowie lange Haare „gehasst“. Die Eltern bestätigen das, in ihren Augen sei Hannah immer schon ausgesprochen „burschikos“ aufgetreten. Verschiedene, im ländlichen Herkunftsraum wichtige gesellschaftliche Anlässe seien deshalb auch schon im Kindesalter schwierig gewesen. Hannah habe hier oft unglücklich gewirkt und z. B. bei der Erstkommunion das Tragen eines Kleides verweigert. Elias habe sich ab dem 13. Lebensjahr selbst verletzt; seine Eltern hätten daraufhin eine Psychotherapeutin kontaktiert. Dort habe er es aber nicht geschafft, „das entscheidende Thema“ anzuschneiden. Über Recherche im Internet und in sozialen Netzwerken sei ihm zunehmend klarer geworden, dass er ein „Transjunge“ sein könnte. Vor seinen Eltern und Geschwistern habe er aus Scham den Gedanken aber zunächst geheim gehalten und sich hauptsächlich mit gleichgesinnten Online-Bekanntschaften darüber ausgetauscht. Hierbei habe er zum ersten Mal das Gefühl verspürt, verstanden zu werden. Er habe dann den Tipp bekommen, eine Beratungseinrichtung für Jugendliche aufzusuchen. Dort habe man ihn relativ rasch hinsichtlich eines Outings im familiären Umfeld bestärkt und zu einem Kontakt mit der Klinik geraten. Elias hat sehr konkrete Ziele: Er strebe eine Hormontherapie an, zudem eine amtliche Personenstandsänderung. Dafür brauche er eine Bestätigung von der Klinik. Elias Eltern zeigen sich im Erstgespräch ambivalent. Einerseits geben sie an, immer hinter ihrem Kind stehen zu werden, andererseits zeigen sie sich belastet und betonen, „mehr Zeit“ zu brauchen, da sie keine falsche Entscheidung treffen wollen.

Einleitung

In Österreich wird bei Kindern unmittelbar postpartal aufgrund äußerer anatomischer Merkmale das Geschlecht bestimmt und zusammen mit anderen Daten der zuständigen Behörde übermittelt. Aufgrund dieser Angaben erfolgen mit der Festlegung des Personenstands automatisch weitreichende und – so kein Einspruch dagegen erfolgt – lebenslange juristische Konsequenzen durch die Einteilung in männlich oder weiblich. Häufig ist mit dieser Festlegung auch eine kulturell gefärbte Erwartung hinsichtlich des geschlechtsspezifischen Rollenverhaltens und einer damit verbundenen Erziehung verbunden. Erst relativ spät, nämlich 2018, wurde im österreichischen Personenstandsgesetz die Möglichkeit der Eintragung einer dritten Kategorie neben weiblich oder männlich für Menschen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung festgelegt (Rechtsinformationssystem des Bundes, RIS, https://www.ris.bka.gv.at, G77/2018).

Die geschlechtliche Differenzierung des Menschen ist ein komplexer Prozess, der im Wesentlichen auf den in Tab. 1 dargestellten Ebenen stattfindet. Personen mit Geschlechtsdysphorie und Transidentität, wie im Fallbeispiel dargestellt, aber auch Personen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung zeigen uns immer wieder, dass eine übereinstimmende Ausrichtung aller Ebenen als entweder männlich oder weiblich zwar die mit Abstand häufigste, aber keine für alle Menschen stimmige oder immer zutreffende Variante darstellt [1].

Tab. 1 Ebenen der geschlechtlichen Differenzierung des Menschen

In den letzten Jahren sind Kinder und Jugendliche mit zum Teil starkem Leidensdruck, deren Geschlechtsidentitätsempfinden von der für sie getroffenen Zuteilung abweicht, in der gesellschaftlichen Mitte angekommen. Gegenwärtig erleben wir im öffentlichen Diskurs eine steigende Sichtbarkeit dieser Thematik, zum Teil aber auch eine von Betroffenen wie Helfern polarisiert geführte ideologische Debatte [2].

In Sprechstunden und spezialisierten Zentren zeigt sich seit einiger Zeit eine stark ansteigende Inanspruchnahme seitens betroffener Jugendlicher, Kinder und ihrer Familien [3,4,5]. Auch an unserer eigenen Sprechstunde für Geschlechtsdysphorie an der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in Hall in Tirol können wir diesen Trend beobachten (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Zahl der Erstvorstellungen 2013–2020 in der Sprechstunde für Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter, Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Hall in Tirol

Klassifikation und Terminologie

Zunächst sollen einige Begriffe definiert werden, auf die im Folgenden Bezug genommen wird [1, 6, 7].

  • Das Geschlechtsidentitätsempfinden ist ein fundamentaler Aspekt unseres menschlichen Lebens. Es bezeichnet das Grundgefühl, die innere Überzeugung und die subjektive Gewissheit, dem männlichen oder weiblichen Geschlecht oder einer anderen Geschlechtsidentität aus dem Genderspektrum anzugehören.

  • Gender steht meist für die öffentliche und in der Regel gesetzlich anerkannte Rolle als Bub oder Mädchen bzw. Mann oder Frau oder einer anderen Kategorie. Meistens aber nicht immer stimmen Geschlechtsidentitätsempfinden und Gender überein.

  • Zuweisungsgeschlecht bzw. Geschlechtszuweisung nimmt auf den Vorgang Bezug, einem Neugeborenen anhand anatomischer primärer Geschlechtsmerkmale ein weibliches oder ein männliches Geschlecht zuzuweisen. Meist, aber nicht immer, stimmen Zuweisungsgeschlecht und Geschlechtsidentitätsempfinden überein.

  • Der Begriff Transgender bezieht sich auf Personen, die sich vorübergehend oder dauernd mit einem Gender identifizieren, das sich von ihrem Zuweisungsgeschlecht unterscheidet.

  • Geschlechtsdysphorie (GD) bezeichnet einen klinisch relevanten Leidensdruck, der sich aus der Diskrepanz zwischen Geschlechtsidentitätsempfinden und dem üblicherweise bei der Geburt festgelegten Zuweisungsgeschlecht ergibt.

Mit der 2013 erfolgten Einführung des Begriffs der Geschlechtsdysphorie im DSM‑5 [7] wurde ein deskriptiver und nicht wertender Begriff eingeführt, der das klinische Problem der Dysphorie in den Mittelpunkt stellte. Dadurch wurde vermieden, die geschlechtliche Identität eines Kindes oder Jugendlichen als etwas Pathologisches oder zu Behandelndes anzusprechen, wie das mit früheren Bezeichnungen der Fall war, bzw. in der ICD-10 nach wie vor ist. In ähnlicher Weise wird in der voraussichtlich 2022 in Kraft tretenden ICD-11 der Begriff Geschlechtsinkongruenz eingeführt, der nicht mehr im Kapitel der psychischen Erkrankungen, sondern im Abschnitt „Zustände im Zusammenhang mit sexueller Gesundheit“ verortet wird. Damit wird Geschlechtsinkongruenz als (seltene) Normvariante innerhalb eines breiten Spektrums von möglichen Geschlechtsidentitäten definiert [8]. In Tab. 2 sind die diagnostischen Kriterien für eine Geschlechtsinkongruenz im Kindes- bzw. Jugendalter angeführt (Übersetzung durch den Autor).

Tab. 2 Diagnostische Kriterien der Geschlechtsinkongruenz nach ICD-11 [11]

Epidemiologie

Daten zur Prävalenz von Transidentität im Kindes- und Jugendalter zeigen eine große Streuungsbreite in Abhängigkeit von Erhebungsmethode und Falldefinition und sind daher nicht einfach zu interpretieren. Insgesamt scheinen Metaanalysen mit eng gefassten Falldefinitionen die Häufigkeit eher zu unterschätzen; Befragungen, die auf der Selbsteinschätzung von Jugendlichen beruhen, die Häufigkeit des Phänomens eher zu überschätzen [5, 9]. In einer Metaanalyse für Jugendliche und Erwachsene wurde eine sehr niedrige gemittelte Prävalenz von 4,6 pro 100.000 Einwohnern bzw. 0,0046 % berechnet [10]. Zahlreiche neuere Studien, die Jugendliche nach einer Selbsteinschätzung ihrer Geschlechtsidentität befragen, zeigen für variante Geschlechtsentwicklungen durchwegs Prävalenzraten im einstelligen Prozentbereich [11]. In einem großen repräsentativen Sample von fast 1000 Jugendlichen aus dem Raum Hamburg berichteten insgesamt 4,2 % der befragten 10–16-Jährigen über eine fallweise von ihrem Geburtsgeschlecht abweichende Geschlechtsidentität; 1,6 % gaben eine Geschlechtsinkongruenz an [12]. Eine weitere Ursache für die große Streuungsbreite der Prävalenzdaten könnte in sich ändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen liegen, die in den letzten Jahren die Inanspruchnahme für betroffene Jugendliche deutlich erleichterten. Dafür würde sprechen, dass jüngere Studien durchwegs höhere Prävalenzraten angeben [13].

Ein wissenschaftlich gut repliziertes Phänomen ist, dass zuletzt eine Umkehr der Geschlechterverteilung stattgefunden hat: Aktuell werden weitaus mehr geburtsgeschlechtlich weibliche Jugendliche mit einem Transitionswunsch hin zum männlichen Geschlecht an Spezialambulanzen vorstellig [4, 14]. Auch an unserer eigenen Sprechstunde zeigten im Einklang dazu 75 % ein weibliches, 25 % ein männliches Geburtsgeschlecht [11]. Über die Ursachen dafür kann nur spekuliert werden; verschiedene Autoren betonen den Einfluss soziokultureller Ursachen sowie die potenziell größere Gefahr möglicher Stigmatisierung für geburtsgeschlechtlich männliche Transfrauen [14].

Ein wichtiger Befund betrifft die Entwicklung von kindlicher Geschlechtsinkongruenz. Bisher verfügbare Daten lassen den Schluss zu, dass diese Geschlechtsinkongruenz nur in einem Teil aller Kinder bestehen bleibt. In der bisher größten Kohortenstudie zu dieser Thematik zeigte sich, dass 40 % aller Kinder, die vor dem 12. Lebensjahr wegen Geschlechtsdysphorie an einer holländischen Spezialsprechstunde vorstellig wurden, im Jugendalter eine gegengeschlechtliche Hormonbehandlung in Anspruch nahmen. Umgekehrt entschieden sich 60 % im Jugendalter gegen eine Behandlung [15]. Dementsprechend wird in der Literatur von Kindern gesprochen, deren Geschlechtsinkongruenz als Persister bestehen bleibt, im Unterschied von Kindern, deren Geschlechtsinkongruenz als Desister wieder verschwindet. Zwar werden in der Literatur Faktoren beschrieben, die mit einer Persistenz assoziiert sind (wie z. B. weibliches Geburtsgeschlecht, junges Alter, bereits erfolgter sozialer Rollenwechsel in das Wunschgeschlecht), eine sichere Vorhersage der Entwicklung als „Persister“ oder „Desister“ ist in der Kindheit jedoch nicht möglich [5]. Dies verdeutlicht die Bedeutung einer zunächst ausnahmslos ergebnisoffenen und entwicklungsbegleitenden Therapie: Das im Kindesalter relativ häufig vorkommende Experimentieren mit Geschlechterrollen sollte nicht zu früh auf die „Arbeitshypothese Trans“ festgelegt werden [6, 11].

Behandlungsleitlinien

Leitlinien auf internationaler, deutschsprachiger sowie österreichischer Ebene (Tab. 3) haben in den letzten Jahren versucht, dem komplexen Phänomen der kindlichen und jugendlichen Transidentität entsprechende Handlungsanweisungen zur Seite zu stellen (Übersicht in [11]).

Tab. 3 Gültige Leitlinien zur Behandlung transidenter Kinder und Jugendlicher [11]

Auf österreichischer Ebene wurden 2017 die „Empfehlungen für den Behandlungsprozess bei Geschlechtsdysphorie von Kindern und Jugendlichen“ [16] sowie die Stellungnahme „Intersexualität und Transidentität“ der Bioethikkommission des Bundeskanzleramts [1] herausgegeben. Die Veröffentlichung der Bioethikkommission behandelt auch das Thema der Intersexualität und beinhaltet neben medizinischen und rechtlichen Grundlagen ethische Überlegungen und Empfehlungen. Beide Dokumente sind per Download unter den im Literaturverzeichnis angegebenen Adressen beziehbar; ihre Kenntnis ist für alle auf dem Gebiet in Österreich tätigen Fachkräfte Voraussetzung.

Die österreichischen „Empfehlungen für den Behandlungsprozess bei Geschlechtsdysphorie von Kindern und Jugendlichen“ [16] betonen die Wichtigkeit einer breit angelegten Diagnostik im multiprofessionellen Team vor jeder Therapieentscheidung. Bausteine der Diagnostik sind Informationen aus den Bereichen Kinder- und Jugendpsychiatrie, klinische Psychologie, pädiatrische- bzw. gynäkologische Endokrinologie sowie Psychotherapie (Abb. 2). Vor einer Behandlungsentscheidung sollte sichergestellt sein, dass eventuell vorhandene psychische Störungen und/oder somatische Erkrankungen diagnostiziert und behandelt sind. An unserer Sprechstunde kommt eine ausführliche psychodiagnostische Testbatterie zur Anwendung, mithilfe derer Aspekte der Geschlechtsdysphorie, komorbide Störungen, aber auch z. B. die Identitätsentwicklung von Betroffenen jungen Menschen untersucht wird [17].

Abb. 2
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Multiprofessionelles Team

Der diagnostische Prozess wird nach den Leitlinien durch ein Informationsgespräch mit dem betroffenen Kind bzw. dem oder der Jugendlichen und ihrer bzw. seiner Familie oder Obsorgeberechtigten abgeschlossen. Bezugnehmend darauf wird ein individueller Behandlungsplan mit teilweise aufeinander aufbauenden Behandlungsschritten erstellt (Abb. 3). Die Empfehlungen halten dazu fest: „Bei Kindern vor der Pubertät liegt das Hauptaugenmerk auf der ergebnisoffenen klinisch-psychologischen oder psychotherapeutischen Begleitung. Nach dem Pubertätseintritt besteht die Möglichkeit einer zweistufigen hormonellen Behandlung mit Unterdrückung zunächst der körpereigenen Pubertätsentwicklung und später Beginn der gegengeschlechtlichen Hormonbehandlung. Für beide Indikationsstellungen müssen stringente Kriterien zur Anwendung kommen.“ Irreversible chirurgische Geschlechtsangleichungen im Genitalbereich sind in Österreich vor der Volljährigkeit nicht möglich. Operative Brustentfernungen (Mastektomien) können nach den Leitlinien bereits vor der Volljährigkeit durchgeführt werden. Wesentlich sind die parallel zu den körperlichen Interventionen laufende klinisch-psychologische bzw. psychotherapeutische Begleitung und die unterstützende Einbeziehung der Familie bzw. Erziehungsberechtigten.

In den Leitlinien wird auch auf die in Österreich seit 2009 bestehende Möglichkeit einer Personenstandsänderung Bezug genommen. Diese stellt für junge Menschen im Prozess der Transition eine wichtige Möglichkeit dar, durch eine Namens- und Geschlechtsänderung auch in allen offiziellen Bezügen im Wunschgeschlecht zu leben. Alltagsabläufe wie der geschlechtergetrennte Turnunterricht in der Schule, das geschlechtergetrennte Übernachten in Lehrlingsunterkünften, aber auch Behördengänge, Bewerbungen oder Reisetätigkeiten erfahren dadurch unter Umständen Erleichterung. Für die Personenstandsänderung, die nach einer Erkenntnis des österreichischen Verfassungsgerichtshofs unabhängig von somatischen Interventionen erfolgen kann, muss eine Stellungnahme durch ein im Kinder- und Jugendbereich arbeitendes Behandlungsteam vorliegen.

Eine genauere Darstellung der somatischen Aspekte der Gonadotropin-Releasing-Hormon-Analoga-Therapie sowie der gegengeschlechtlichen Hormontherapie bei Jugendlichen würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, es wird auf eine Übersichtsarbeit verwiesen [18].

Abb. 3
figure 3

Abfolge von Behandlungsschritten. FTM „female to male“ (Frau zu Mann); GnRH Gonadotropin-Releasing-Hormon; MTF „male to female“ (Mann zu Frau)

Herausforderungen für Fachkräfte

In der Arbeit mit geschlechtsinkongruenten Kindern und Jugendlichen stellen sich trotz zunehmenden Wissenstands eine Reihe von Herausforderungen, auf die abschließend kurz eingegangen werden soll. Zunächst kann wie bereits dargestellt nur ein ausnahmslos ergebnisoffener Zugang der Tatsache Rechnung tragen, dass nur ein Teil aller Kinder mit Geschlechtsinkongruenz auch im Erwachsenenalter als transidente Menschen leben und eine Vorhersage über einen möglichen Entwicklungsverlauf nur in beschränktem Maß möglich ist [19]. Zugleich weisen Studien aber darauf hin, dass tatsächlich transidente Kinder und Jugendliche unter ihren zugewiesenen Geschlechterrollen unter Umständen stark leiden und in höherem Ausmaß psychische Begleitstörungen entwickeln als diejenigen jungen Menschen, denen ihr Umfeld ermöglicht, geschlechtlich selbstbestimmt und authentisch zu leben und die früh professionell darin unterstützt werden [2]. Bisher verfügbare Daten verweisen auf einen guten Outcome bei leitliniengerechter Behandlung [20], aktuell sind aber nur wenige Studien mit kleinen Fallzahlen verfügbar. Auf der Ebene der Behandlung trifft das von Betroffenen ins Feld geführte Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung auf die ärztliche Verpflichtung zu evidenzbasierter Indikationsstellung sowie ausführlicher Aufklärung und Dokumentation. Häufig ist es nicht einfach, betroffenen jungen Menschen mit ihrem (verständlichen) Leidensdruck einen klaren Rahmen zu vermitteln. Es gilt aber, diesen Rahmen unter Berücksichtigung des Behandlungsauftrags der betroffenen Jugendlichen sowie der Position von Eltern oder Obsorgeträgern zu einer Therapieentscheidung zu verwandeln. Fachkräfte befinden sich in einer ethischen Dilemmasituation, in der keine neutrale Haltung möglich ist, da „auch eine Nichtentscheidung eine Entscheidung darstellt“ [2], nämlich unter Umständen eine Entscheidung, aus Sicht von Betroffenen den als aversiv erlebten Körper weiterhin ertragen zu müssen.

Fazit für die Praxis

  • Kinder und Jugendliche, die unter ihren als nicht stimmig empfundenen Geschlechtsmerkmalen leiden, sind in steigendem Ausmaß medial und im klinischen Versorgungssystem präsent.

  • Kindern und deren Familien sollte im präpubertären Stadium zunächst eine ergebnisoffene und entwicklungsbegleitende Beratung und Psychoedukation angeboten werden, die kindlichem Experimentieren einen Freiraum lässt und nicht zu früh den Fokus auf mögliche Transidentität einengt. Im Bedarfsfall kann der Einbezug von Kindergarten oder Schule erfolgen.

  • Für ein Verständnis der individuellen Situation von Jugendlichen ist als Ausgangspunkt für jegliche weitere Intervention eine ausführliche Abklärung an einem spezialisierten Zentrum indiziert. Bausteine der Diagnostik sind der kinder- und jugendpsychiatrische, somatische, psychodiagnostische sowie psychotherapeutische Befund.

  • Die Therapie bei Jugendlichen richtet sich entwicklungsbegleitend nach individuellen Erfordernissen und beinhaltet in jedem Fall eine psychotherapeutische Behandlung, die später bei Bedarf um somatomedizinische Bausteine ergänzt werden kann.

  • Die Behandlung erfolgt nach den österreichischen Leitlinien durch ein Team, dem pädiatrische und/oder gynäkologische Endokrinologen, Kinder- und Jugendpsychiater, klinische Psychologen sowie Psychotherapeuten angehören. Behandlungsentscheidungen werden gemeinsam im Rahmen einer multiprofessionellen Fallkonferenz (Transgender-Board) getroffen.