Seltene Erkrankungen werden über die Häufigkeit ihres Auftretens in der Gesamtbevölkerung definiert. In der Europäischen Union gilt eine Erkrankung dann als selten, wenn sie bei nicht mehr als 5 Personen pro 10.000 Einwohner auftritt. Mit Inkrafttreten des Nationalen Aktionsplans für seltene Erkrankungen im Jahr 2015 übernahm Österreich offiziell die oben angeführte EU-Definition für seltene Erkrankungen [1]. Aktuell sind seitens der EU etwa 6000 seltene Erkrankungen definiert [2, 3]. Die Organisation der Behandlung von Patientinnen und Patienten mit seltenen Erkrankungen hat sowohl medizinische, als auch politische Dimensionen [4]. Ein Eckpfeiler für ein professionelles Versorgungskonzept ist die Konzentration der besonderen Fälle auf nur wenige Zentren, dies wird mehr und mehr von der Gesundheitspolitik gefordert, sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene.

Österreich hat prinzipiell gute Voraussetzungen für eine hochwertige Versorgung in der Kinder- und Jugendchirurgie: Es gibt lediglich 7 Abteilungen bzw. Kliniken für Kinder- und Jugendchirurgie, diese sind gleichmäßig über ganz Österreich verteilt (alphabetisch): Graz, Innsbruck, Klagenfurt, Linz, Salzburg und zwei Abteilungen in Wien stehen für die Behandlung von chirurgischen Krankheitsbildern bei Kindern und Jugendlichen in Österreich zur Verfügung. Politische Agenden werden primär von der Fachgruppe bzw. dessen Obmann und andererseits von der Fachgesellschaft und dessen Präsidenten wahrgenommen, obwohl die Fachgesellschaft in erster Linie für die wissenschaftlichen Belange zuständig ist. Für die eigentliche medizinische Versorgung sind die Leiter der jeweiligen Abteilungen verantwortlich. Daraus lässt sich ablesen, wie schwierig ein Konsens zu erzielen ist, da sehr viele Eigeninteressen unter einem Dach zu vereinen sind. Die aktuelle Problematik und die entsprechenden Lösungsansätze sollen im Folgenden dargestellt werden.

Situation und Fallzahlen in Österreich

Österreich hat aktuell etwa 8,8 Mio. Einwohner, davon sind 1,6 Mio. (18 %) Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre [5]. Es muss davon ausgegangen werden, dass seltene Erkrankungen in einer Frequenz von etwa 40–50 Fällen auf 100.000 Einwohner vorkommen; das entspricht etwa 700 Kindern pro Jahr [6]. Aus der langjährigen Erfahrung darf angenommen werden, dass lediglich ein Drittel der Kinder und Jugendlichen mit seltenen Erkrankungen eine kinder- und jugendchirurgische Problematik aufweisen, somit ist mit etwa 200–250 Vorstellungen pro Jahr in Österreich zu rechnen. Dies entspricht 30–40 seltenen Fällen pro Abteilung pro Jahr. Auf Nachfrage bei der Gesundheit Österreich GesmbH wurde diese Schätzung als durchaus realistisch bewertet.

Versorgungsqualität in Österreich

Die Versorgungsqualität hängt von vielen Faktoren ab, wobei die Fallzahl nur eine davon ist: Ein besonders geschickter Chirurg wird eventuell bessere Ergebnisse bei wenigen Eingriffen erzielen als ein weniger begabter Chirurg, selbst wenn er den Eingriff häufiger durchführt. Daher nimmt die Strukturqualität (Einrichtungen, Vernetzung mit anderen Abteilungen etc.) am jeweiligen Standort eine besonders wichtige Rolle ein. In diesem Zusammenhang sind mehrere Fragen zu beantworten. Zunächst muss geklärt werden, ob überhaupt alle seltenen Erkrankungen als solche diagnostiziert werden. Genaue Zahlen sind für Österreich nicht erhältlich, aber aus wissenschaftlichen Untersuchungen ist bekannt, dass trotz verbesserter Technik etwa 30–40 % der Kinder mit Fehlbildungen pränatal nicht entsprechend erkannt und somit oftmals nicht in entsprechend ausgestatteten Zentren zur perinatalen Betreuung vorgestellt werden [7]. Aber selbst wenn ein kinderchirurgisch relevantes Krankheitsbild im Rahmen des pränatalen Screenings festgestellt wird, erfolgt nicht in allen Fällen eine aktive Zuweisung bzw. Terminvereinbarung an der zuständigen Kinder- und Jugendchirurgie. Obwohl dahingehend nur Zahlen aus Italien vorliegen (nur 18 % der dortigen Zentren haben ein strukturiertes Pränatalmanagement; [8]), darf davon ausgegangen werden, dass die Situation in Österreich aufgrund der doch deutlich geringeren Zahl an kinderchirurgischen Versorgungszentren (7 in Österreich vs. 52 in Italien) etwas besser ist, aber immer noch ein signifikantes Verbesserungspotenzial hat. Was sind nun die eigentlichen Probleme in der Behandlung von seltenen kinderchirurgischen Krankheitsbildern? Sind diese in der Pränataldiagnostik zu finden oder im Rahmen der peripartalen Versorgung? Oder sind es Probleme, die mit der operativen Korrektur und dem eigentlichen kinder- und jugendchirurgischen Behandlungsplan im Zusammenhang stehen? Möglicherweise sind es aber auch die Langzeitbetreuung und die oft nur in enger Zusammenarbeit mit anderen Fachdisziplinen zu lösenden Folgeprobleme einer angeborenen Fehlbildung. Hier liegen keine suffizienten Daten aus Österreich vor, alle aktuellen Wortmeldungen aus diesem Bereich beruhen auf der Schilderung von Einzelschicksalen oder persönlichen Erfahrungsberichten, die jedoch keinen wissenschaftlichen Hintergrund haben. Was man nicht messen kann, kann man nicht verbessern. Und da es aktuell keine Zahlen zur Häufigkeit und Schwere von Komplikationen bzw. Art und Dauer von Krankenhausaufenthalten bei seltenen Erkrankungen in Österreich gibt, kann zum jetzigen Zeitpunkt keine fundierte Aussage zu diesem Thema getätigt werden.

Maßnahmen und Ziele

Pränataldiagnostik.

Idealerweise sollten alle kinder- und jugendchirurgischen Krankheitsbilder bereits pränatal diagnostiziert werden und dann an einem entsprechenden Zentrum vorgestellt werden.

Expertenrunde.

Zur Fallanalyse und Planung der weiteren Vorgehensweise ist ein interdisziplinärer Expertenkreis einzurichten und der Zugang zu qualitativ hochwertiger Gesundheitsversorgung, insbesondere durch Benennung nationaler und regionaler Fachzentren und Förderung ihrer Beteiligung an europäischen Referenznetzen sicherzustellen.

Operativer Eingriff:

Die operative Korrektur erfordert ein umfangreich ausgestattetes kinder- und jugendchirurgisches Umfeld und Experten mit besonders großer operativer Erfahrung.

Interdisziplinarität.

Wichtig ist die multidisziplinäre Akutbetreuung, die an einem Zentrum erfolgen sollte, wo Experten von möglichst vielen medizinischen Gebieten zur Verfügung stehen, um fachübergreifende Probleme gemeinsam lösen zu können.

Öffentlichkeitsarbeit und Informationsbereitstellung.

Maßnahmen zur Aufklärung und Beteiligung von Patienten und Patientenverbänden sowie Initiierung von Awareness-Kampagnen.

Follow up.

Die Zusammenfassung von Patienten in Spezialambulanzen zur langfristigen Begleitung und Therapiekoordination sollte schließlich in den Bereich der transitionellen Medizin münden, wo eine geordnete Übergabe an die Erwachsenenmedizin erfolgt.

Wissenschaftliche Begleitung.

Eine unabhängige wissenschaftliche Begleitung und transparente Datenanalyse ist die Voraussetzung, um Maßnahmen zur Qualitätsverbesserung planen und umsetzen zu können. Ziel ist die Etablierung geeigneter Mechanismen für Definition, Kodierung und Bestandsaufnahme seltener Krankheiten und die Erstellung von auf Fakten basierenden nationalen Leitlinien für bewährte Verfahren als Rahmen für die Erkennung seltener Krankheiten und die Publikation von Erkenntnissen und Erfahrungswerten [9].

Forschung.

Für die meisten schweren seltenen Krankheiten, die potenziell chirurgisch behandelbar wären, gibt es einfach derzeit kein spezifisches Behandlungskonzept. Die Entwicklung von Therapiemöglichkeiten steht vor 3 Hindernissen: unzureichende Kenntnis der zugrundeliegenden pathophysiologischen Mechanismen der Krankheitsbilder, mangelhafte Unterstützung der Grundlagenforschung durch die einzelnen Institutionen und fehlende Gewinnaussichten seitens der pharmazeutischen und medizintechnischen Industrie. Die hohen Kosten der Arzneimittel- und Geräteentwicklung, zusammen mit dem schätzungsweise geringen Investitionsertrag (aufgrund der sehr kleinen Patientenpopulationen) hält die Industrie in der Regel trotz der hohen medizinischen Notwendigkeit davon ab, Forschungsgelder für seltene Krankheiten bereitzustellen. Ein frühzeitiger koordinierter Dialog der handelnden Personen in den Einzelinstitutionen und nationalen Fachgesellschaften mit den Geldgebern (Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, Österreichische Gesundheitskasse, Industrie und Politik) zur Aufstellung konkreter Forschungspläne ist anzustreben.

Datenlage

Abgesehen von einzelnen Single-center-Fallserien [10, 11] sind keine gesamtösterreichischen Multicenterstudien zu seltenen kinder- und jugendchirurgischen Krankheitsbildern vorhanden. Es ist auch nicht zu erwarten, dass in absehbarer Zeit suffiziente Daten vorliegen werden. Zudem muss davon ausgegangen werden, dass bei der Übermittlung der Daten aus den jeweiligen Abteilungen ein individueller Bias bezüglich der Datenqualität nicht ausgeschlossen werden kann. Eine unbeeinflussbare und aussagekräftige Datenanalyse ist voraussichtlich nur durch Betrachtung der Sozialversicherungsdaten möglich. Erste Schritte in diese Richtung wurden seitens der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendchirurgie bereits unternommen. Es zeigt sich allerdings, dass auch diese Daten nur mit einem hohen Aufwand beurteilt werden können: Neben der eigentlichen Hauptdiagnose müssen auch die (bei komplexeren Fällen häufigen) Nebendiagnosen Berücksichtigung finden, da diese die Zahl der Operationen pro Aufenthalt und die Aufenthaltsdauer beeinflussen. Zudem sind aufgrund der oft noch fehlenden Sozialversicherungsnummern die Daten von Neugeborenen nicht vollständig zuzuordnen. Dazu kommen datenschutzrechtliche Bedenken, die eine umfassende juristische Begleitung erfordern. In einem ersten Schritt soll allen Widrigkeiten zum Trotz eine Datenbank geschaffen werden, die einige ausgewählte kinder- und jugendchirurgische Krankheitsbilder und deren Versorgung retrospektiv abbildet, um die Voraussetzungen für eine prospektive und umfassende österreichweite Datenbank zu schaffen. Allerdings sind die bisherigen Bemühungen durch die Corona-Krise aktuell ins Stocken geraten; wir hoffen auf eine baldige Fortsetzung – spätestens 2021 sollten erste Ergebnisse vorliegen.

Nutzen einer Datenbank

Anhand der Erfahrungen mit der oben genannten Vorläuferstudie könnte nicht nur ein größeres Datenbankprojekt geplant und umgesetzt werden. Es würde sich auch anbieten, in weiterer Folge Studienzentralen einzurichten, die für jeweils eine spezielle Erkrankung designiert sind und für ganz Österreich geltende, einheitliche Behandlungs- bzw. Nachbetreuungsrichtlinien erstellen. Aus einer einheitlichen Vorgehensweise in der Behandlung könnten dann entsprechend hochwertige Multicenterstudien erstellt werden, die eine Optimierung der Behandlungsrichtlinien zum Wohl der Patienten zur Folge hätten [12]. Wichtig wäre auch die Einbindung in einen gesamteuropäischen Kontext im Rahmen von Europäischen Referenz Netzwerken (ERN), da damit der Zugang zu Förderungsgeldern und somit zu hochwertiger Forschung verbunden ist. Die selten stattfindenden Aufrufe zur Neuwerbung von Mitgliedern in den ERN konnten von den potenziellen österreichischen Antragstellern zuletzt leider nicht genutzt werden, da die zuständigen Stellen im Gesundheitsministerium die Anträge aus dem eigenen Land nicht entsprechend unterstützt haben. Dies gehört dringend nachgebessert.

Schlussfolgerung

Obwohl jede seltene Krankheit nur eine relativ kleine Anzahl von Patienten und Familien betrifft, stellen sie insgesamt ein gewichtiges soziales und ökonomisches Problem für Österreich dar. Außerdem bedeutet die Notwendigkeit, Erkenntnisse zusammenzuführen und die begrenzten Ressourcen effizient zu nutzen, dass die nationale und in weiterer Folge die europäische Zusammenarbeit im Bereich seltener Krankheiten einen besonderen Mehrwert für die Maßnahmen der einzelnen Bundesländer erbringen kann [13, 14]. Eine Veränderung in der Versorgungslandschaft bei seltenen Erkrankungen erfordert eine gute Planung auf der Basis von verlässlichen Daten. Da diese aktuell nicht verfügbar sind, ist es dringend erforderlich, eine Datenbank zu schaffen, die den Status quo der Versorgungsqualität von seltenen Erkrankungen in der kinder- und jugendchirurgischen Spitalslandschaft abbildet. Neben der Verbesserung der Datenlage müssen auch die Vernetzung der Abteilungen und die Vereinheitlichung der Behandlungskonzepte durch Bildung von Studienzentralen angestrebt werden. Patienten, die unter seltenen Krankheiten leiden, wie auch deren Angehörige und die behandelnden Kollegen werden aus einer gemeinsamen Vorgehensweise einen konkreten Nutzen ziehen können.