1 Einleitung

Matthias Müller (Friedrich-Schiller-Universität Jena), Christina Walther (Jena) und Iris Ruhmann (Springer-Verlag) versuchen mit Forschend durch Haus und Garten ein neues Format. Sie erzählen von einer 3‑Generationen-Familie, die mit ihren drei Kindern mathematische und naturwissenschaftliche Experimente durchführt. Die Kinder sind ca. 5–16 Jahre alt. Ganz unkonventionell wird vom chaotischen Alltag dieser Familien berichtet: über die üblichen Sorgen, wer holt die Kleine aus dem Kindergarten ab, wann kommt der Große zum Sport zurück, wer räumt die Küche auf, über Streitigkeiten zwischen den Kindern, Berufstätigkeit der Eltern u. v. a. m. Trotz einigem Stress finden alle Gelegenheit, sich mit Tetraedern, fluoreszierenden Stoffen, geometrischer Reihe, Ellipsenkonstruktion, natürlichen Farbstoffen, Herstellung von Brausepulver usw. zu beschäftigen. Sie sind mit Herz und Verstand dabei und haben viel Spaß. Das ist großartig.

2 Zielgruppe

Das Buch wendet sich an die ganze Familie. Eltern finden Anregungen zur mathematischen und naturwissenschaftlichen Beschäftigung ihrer Kinder, die Kinder können die Versuchsanleitungen und „Kochrezepte“ ausprobieren. Doch an wen wenden sich die Alltagsgeschichten? Sie sind amüsant, manchmal nicht ganz stimmig und leiten letztlich die Experimente ein. Da die Experimente nicht reflektiert werden, offensichtlich alles klappt – nicht so wie in der (echten) Forschung, ist das dramaturgisch nicht sehr aufregend. Die erzählerische Idee hangelt sich an den einzelnen Zimmern entlang: vom Kinderzimmer in den Garten über Küche, Arbeitszimmer, Bad ins Wohnzimmer.

An wen wendet sich die theoretische, didaktische Einordnung und Rechtfertigung des Titels und Vorgehens? An wen wenden sich die Quellenangaben zu den mathematischen Versuchen, die auf die ursprünglichen Texte in mathematisch-didaktischer Literatur oder Schülerzeitschriften verweisen? Sollten nicht die interessierten Schüler:innen in mathematischen Sachbüchern oder Webseiten weiterlesen?

Die Autor:innen betonen, dass „Forschend-entdeckendes Lernen […] als selbsttätige und zielgerichtete Auseinandersetzung mit einem neuen Sachverhalt oder Problem charakterisiert werden“ [kann] (S. 5). Doch die hier vorgestellten Themen sind nicht unbedingt alle neu. Themen wie die geometrische Reihe, Rechnen in endlichen Körpern, Farben des Rotkohls kommen in den ersten Semestern des Mathestudiums oder im Chemieunterricht der 7. Klasse vor. Vorgeschlagene Experimente haben einen bekannten Ausgang und sind für uns vorhersagbar. So sehen die Rezensentinnen den Begriff des Forschenden Lernens, wie er hier dargestellt wird, kritisch.

Einige Experimente sind also aus dem Studium und erwarten ein gewisses Wissen auf Abi-Niveau, andere Experimente (Tetraeder bauen oder fluoreszierende Stoffe finden) lassen sich leicht auch mit kleinen Kindern durchführen. Die Zielgruppe für die Experimente ist also ganz breit aufgestellt.

3 Inhaltliche Kritik

Den Rezensentinnen sind bei einigen Experimenten Ungenauigkeiten aufgefallen bzw. die Art der Darstellung ist problematisch.

2.1 Tetraeder

In diesem Abschnitt wird eine spezielle Art von Tetraedern beschrieben: sogenannte gleichschenklige. Ein solcher Tetraeder ist einer, „bei dem die im Raum gegenüberliegenden Kanten paarweise gleich lang sind. Das Flächennetz des gleichschenkligen Tetraeders besteht aus vier kongruenten spitzwinkligen Dreiecken“ (S. 12).

In einem Atemzug wird die geometrische Eigenschaft der Seitenlängen mit den vier kongruenten Dreiecken genannt. Danach wird argumentiert, dass solche gleichschenkligen Tetraeder keine stumpfen oder rechten Winkel haben können, weil „ein Eckeninnenwinkel des Modells größer als 180° entstehen [würde]. Kein konvexer Körper besitzt einen solchen Eckwinkel“ (S. 13). Dieser Argumentation ist ohne Abbildung eines Eckeninnenwinkels schwer zu folgen.

Wenn man aber versucht, ein Flächennetz eines gleichschenkligen Tetraeders mit einem rechten Winkel zu zeichnen (Abb. 1) und sich dann die Konstruktion des Tetraeders durch Anklappen von vorerst 2 der Dreiecke vorzustellen, findet man, dass die dann aufgerichteten Eckpunkte P und Q sich über der Ausgangsgrundlinie PR bzw. QR befinden müssen, sich für ein Tetraeder berühren müssen und folglich mit R zusammenfallen. Sie stehen dann doch nicht „über“ der Grundfläche, das Tetraeder hätte eine rechteckige Grundfläche, seine Höhe ist Null, es ist also doch kein Tetraeder. Alle Innenwinkel sind zwischen 0 und 90° (Abb. 2).

Abb. 1
figure 1

Flächennetz eines gleichschenkligen Tetraeders mit rechtem Winkel

Abb. 2
figure 2

Konstruktion eines gleichschenkligen Tetraeders mit rechtem Winkel

2.3. „Allzweckstöpsel“

Diese geometrische Figur (Abb. 3) wird konstruiert und soll sogar 3‑D-gedruckt werden.

Abb. 3
figure 3

„Allzweckstöpsel“ (nach Abb. 2.5 des Buches) jetzt im rechtshändigen Koordinatensystem

Bei der Abbildung dazu wird ein nicht rechtshändiges Koordinatensystem benutzt, in dem die x‑Richtung nach vorn, die y‑Richtung nach oben und die z‑Richtung nach rechts zeigen. Das wäre noch zu verzeihen, wenn nicht in der Bildunterschrift von einem kreisförmigen Grundriss, einem rechteckigen Seitriss und einem dreieckigen Aufriss geschrieben wird. In der Welt außerhalb der Schule wird die z‑Richtung als Richtung in die Höhe benutzt, die x‑ und y‑Richtungen bilden den 2‑dimensionalen „Grund“ für den Grundriss.

3.1 Natürliche fluoreszierende Stoffe

In den Kapiteln 3.1. und 3.4 wird erwähnt, dass alle Pflanzen Chlorophyll besitzen. Das stimmt nicht.

Es werden chemische Zusammensetzungen von Chinin, Cumarin u. a. mittels verschiedener Formelschreibweisen dargestellt. Dazu werden „Eigene Werke“ aus Wikipedia verwendet. Hier empfehlen wir, dass die Autorin diese Formeln selbst erstellt und eventuell sogar diskutiert, mit welcher Software man das macht.

3.2 Geometrische Reihe

Für die geometrische Reihe soll „ein Wasserfass mit 64 l Fassungsvermögen mit unendlich vielen Wassermengen befüllt werden“ (S. 45). Das ist sprachlich und mathematisch ungenau, es wird und kann ja tatsächlich nur ein endliches Volumen von Wasser, nämlich 64 l, in das Fass gefüllt werden, wenn auch in unendlich vielen Schritten oder Teilen. Diese Fassgeschichte fängt damit schon recht unglücklich an. Auch die Formulierung, dass sich die tägliche, sich immer halbierende Nachfüllwassermenge „immer schneller verringert“ (S. 46), ist nicht korrekt. Die Differenzen dieser Mengen werden jeden Tag kleiner, am Ende ist die Differenz nahe Null und die Tage stellen wir uns doch linear gleichmäßig verlaufend vor …

3.3 Die Ellipse

Die bekannte Gärtnerkonstruktion (siehe Wiki https://de.wikipedia.org/wiki/Gärtnerkonstruktion, dort sogar mit Animation, Aufruf am 09.10.2022) wird sehr umständlich und unverständlich beschrieben und gezeichnet.

4.1 Natürliche Farbstoffe

Auf S. 73 ist ein für ein Experiment für Kinder sehr ärgerlicher Fehler passiert: statt des Farbstoffs Cyanidin des Rotkohls steht da Cyanid (hochtoxisches Gift).

5.2 Unrunde Münzen

Bei der Diskussion des Reuleaux-Dreieckes findet sich ein Fehler: „…, denn legt man nun zwei parallele Stützgeraden an das Releaux-Dreieck an, so verläuft die eine immer durch einen der Kreisbögen und die zweite durch die dem Kreisbogen gegenüberliegenden Ecke, also durch den Mittelpunkt des Kreisbogens“. Schön wäre eine Abbildung des Autors mit eventueller Klärung der Stützgeraden dazu, doch diese Abbildung findet sich bei Wikipedia: https://en.wikipedia.org/wiki/Reuleaux_triangle#Construction, Aufruf am 10.10.2022. Die 2. „parallel supporting line“ schneidet dabei den einen Kreisbogen nicht in der Mitte!

6.1 Flüssigkeiten mischen

Es wird vorgeschlagen die Volumenverminderung durch Mischen verschiedener Flüssigkeiten nachzustellen. Die erwähnten Tensid-haltigen Haushaltsmaterialien „Waschmittel, Shampoos oder Duschbäder“ (S. 113) haben in der Regel schäumende Eigenschaften und zusätzlich eine im Vergleich zu Wasser erhöhte Viskosität. Grundvoraussetzung für die Beobachtung der Volumenverminderung ist das gründliche Vermischen der verschiedenen Substanzen. Ein solches gründliches Vermischen der Flüssigkeiten würde man im Hausexperiment höchstwahrscheinlich durch Rühren oder Schütteln erzielen. In diesem Fall schäumen die Substanzen und eine Auswertung wird maßgeblich erschwert oder sogar verfälscht.

6.2. Wandfliesen

In diesem Kapitel geht es um pythagoreische Tripel, die mittels Puzzles visualisiert werden sollen. Die Überlegungen beginnen mit dem folgenden Muster, siehe Abb. 4. Es besteht aus 28 × 29 quadratischen Grundelementen (Fliesen) in verschiedenen Blautönen, Gelb und Weiß. Wir wenden uns zuerst den gelben Fliesen zu, die zu den Flächen G1, …, G4 zusammengeklebt wurden und außerdem den hellblauen in den Flächen Hb1, …, Hb5.

Abb. 4
figure 4

Wandfliesenmuster aus dunkelblauen, hellblauen, graublauen (hier quadratisch gemustert wegen der SW-Umsetzung im Druck), weißen und gelben Fliesen, Abb. nach der Abb. 6.3. im Buch

Es gibt 25 gelbe Fliesen. Das Rätsel besteht darin, das Tripel (3, 4, 5) zu entdecken oder vielmehr G1, … G4 so zu legen, dass ein Quadrat aus 32 Fliesen und eins aus 42 oder eins aus 52 Fliesen entstehen, weil ja

$$3^{2}+4^{2}=5^{2}$$

ist. Leider passen die Flächen nicht zusammen, siehe Abb. 5 und 6, der Autor hat offensichtlich übersehen, dass Puzzleteile oder Fliesen nicht gespiegelt werden können. Ihre Rückseite sieht ganz anders aus.

Abb. 5
figure 5

Fehlgeschlagene Zusammensetzung der Flächen G1, …, G4 zu Quadraten mit der Länge 3 bzw. 4

Abb. 6
figure 6

Fehlgeschlagene Zusammensetzung der Flächen G1, …, G4 zu einem Quadrat der Länge 5

Bei den hellblauen Fliesen ist ein anderer Fehler passiert, die Anzahl der Fliesen ist nämlich:

$${\#}\mathrm{Hb}_{1}=129$$
$${\#}\mathrm{Hb}_{2}=9$$
$${\#}\mathrm{Hb}_{3}=9$$
$${\#}\mathrm{Hb}_{4}=16$$
$${\#}\mathrm{Hb}_{5}=18$$

Die Gesamtzahl von hellblauen Fliesen ist demnach

$${\#}\mathrm{Hb}=\Sigma _{i}\mathrm{Hb}_{i}=129+9+9+16+18=181$$

– und nicht 169! So funktioniert die Zerlegung in Quadrate natürlich nicht, es ist zwar

$$3^{2}+4^{2}+12\cdot 13=181{,}$$

aber eben nicht die Zerlegung für die Gleichung

$$3^{2}+4^{2}+12^{2}=13^{2}{,}$$

siehe S. 119. Die Darstellung der 181 Fliesen als Quadrat aus 13 × 13 Teilen kann ebenfalls nicht klappen.

7.3. Spiel 21

Im Spiel 21 werden alle möglichen Augenwerte beim Wurf zweier Würfel aufgelistet. Dazu werden deren Wahrscheinlichkeiten bestimmt. So hat das Ereignis

$$X=\{1{,}2\}$$

ganz richtig die Wahrscheinlichkeit

$$p=1/18.$$

Doch was sind die „aufsummierte Wahrscheinlichkeit“ 1 und die „Gegenwahrscheinlichkeit“ 0 zu diesem Ereignis? Unseres Erachtens sind Verteilungsfunktionen hier nicht nötig.

4 Ausblick

Wir empfehlen, in mathematischen Berechnungen von Anfang an mit Bezeichnungen zu arbeiten. Es ist trivial, dass

$$1+1=2$$

ist. Aber wenn die Berechnung einer mathematischen Größe x den Wert 2 liefert, ist das eine andere Aussage:

$$x=1+1=2$$

Außerdem sollten die Abbildungen größer sein (7.1, 7.2), Bezeichnungen an die Achsen kommen (S. 142). Ein fester Einband mit einer Bindung wäre sehr praktisch, sodass das Buch auch aufgeschlagen liegen bleiben kann, um die Versuche und die „Kochrezepte“ nachzuvollziehen. Alle würden sich über ein neues, korrigiertes Wandfliesenpuzzle als Beilage in handlicher Größe freuen. Wenn nämlich eine Fliese nur 2 × 2 mm groß ist, kann man sich schnell verzählen …

Mit diesen Ratschlägen sehen wir ein großes Potenzial in diesem Buch.