Einleitung

Als die Weltgesundheitsorganisation am 06. Januar 2020 den Ausbruch einer rätselhaften neuen Lungenkrankheit in der chinesischen Stadt Wuhan vermeldete (Tagesschau 2020), waren die globalen Auswirkungen des Viruserregers SARS-CoV‑2 noch nicht abzusehen. Innerhalb kurzer Zeit breitete sich das Virus auch in Europa aus und führte im März 2020 zur Wiedereinführung vorübergehender Grenzkontrollen an fast allen europäischen Binnengrenzen (siehe Abb. 1). Damit erhielten Grenzen als Barrieren sozialen, politischen und ökonomischen Handelns wieder eine Bedeutung, die sie im Zuge der europäischen Integration sukzessive verloren hatten (Peyrony et al. 2021). Erst ab Anfang Juni 2020 kam es zur schrittweisen Aufhebung der Grenzkontrollen und zur Wiederöffnung der Grenzen (Mission Operationelle Transfrontalière [MOT] 2020b, S. 7). Doch auch im weiteren Verlauf der Pandemie wurden stellenweise Grenzkontrollen eingeführt, u. a. an der deutsch-tschechischen Grenze (Novotný und Böhm 2022; Tagesschau 2021).

Abb. 1
figure 1

Maßnahmen an den europäischen Binnengrenzen zu Beginn der COVID-19-Pandemie. Stand: 22. April 2020. (Quelle: MOT 2020a, Copyright MOT)

Die COVID-19-Pandemie hat so in kurzer Zeit den Blick auf ein „grenzenloses“ Europa verändert (vgl. Weber und Wille 2020, S. 204): Die meisten Binnengrenzen wurden Jahrzehnte nach ihrer Öffnung nun wieder kontrolliert oder sogar ganz geschlossen. Die Schengener Abkommen von 1985 und 1990, die den schrittweisen Abbau der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen der Vertragsstaaten festlegten (Taschner 1997), gelten heute als „integraler Bestandteil der europäischen Lebensweise“ (Europäische Kommission 2021): Ca. 1,7 Mio. Menschen leben in einem Schengenstaat und arbeiten in einem anderen; täglich pendeln ca. 3,5 Mio. Menschen über europäische Binnengrenzen (Europäische Kommission 2021). Der Schengenraum umfasst gegenwärtig 26 Staaten mit mehr als 400 Mio. Einwohner*innen, von denen ca. 150 Mio. in den Grenzregionen leben (Peyrony et al. 2021, S. 4). Regelmäßige Grenzüberschreitungen prägen den Alltag dieser Menschen. Die Pandemie bedeutete daher besonders dort eine massive Veränderung, trennten die Grenzen nun plötzlich wieder Menschen von ihrem Arbeitsplatz, ihren Familienangehörigen oder Freunden. Dieser „(Grenz‑)Schock“ (Peyrony 2021, S. 96) traf die europäischen Grenzregionen insbesondere während der ersten Pandemiewelle im Frühjahr 2020 (Abb. 2) und ist daher der logische Ausgangspunkt für diese Studie.

Abb. 2
figure 2

Quelle: EVTZ Eurodistrikt PAMINA

Die COVID-19-Pandemie hat damit neben epidemiologischen auch humangeographische Fragen aufgeworfen und die Bedeutung von Grenzen für das alltägliche Leben in Europa wieder in den Fokus gerückt. Vor allem die Zusammenarbeit von Akteur*innen aus Politik und Wirtschaft in den Grenzregionen geriet in den Blick und zeigte, welchen Belastungen solche grenzüberschreitenden Beziehungen in Krisenzeiten ausgesetzt sind. Aus humangeographischer Perspektive stellt sich dabei folgende Frage: Auf welche Weise wirken sich pandemiebedingte Grenzschließungen und die damit verbundenen Grenzerfahrungen auf die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von lokalen Akteur*innen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft (auch als Cross-Border Governance bezeichnet) aus?

Die Analyse derartiger Grenzerfahrungen lässt sich, so das Argument dieses Beitrags, mit einer „Grenzgeographie der COVID-19-Pandemie“ (Weber und Wille 2020) sinnvoll rahmen, die „auf Grenz(ziehung)en [fokussiert], die nicht auf die national-territoriale Ebene verkürzt werden können, sondern auch unter anderem auf Subjektebene wirksam werden … und multiple Grenz(ziehung)en [einschließt], die als räumliche und soziale (Un‑)Ordnungen auf unterschiedlichen (Maßstabs‑)Ebenen eingeordnet werden“ (Weber und Wille 2020, S. 197). Mit dem Fokus auf Akteur*innen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit (s. unten) ist die „Subjektebene“ derjenigen Funktionsträger*innen im Blick, die die Grenzregionen in ihrer alltäglichen professionellen Arbeit mitgestalten. Als Fallbeispiel wurde hierfür die deutsch-französisch-schweizerische Oberrheinregion gewählt (Abb. 3). Die Grenzen und Grenzziehungen, die während der Pandemie hier beobachtet werden konnten, waren sowohl territorialer Art (als erneuerte Grenz(ziehung)en zwischen Nationalstaaten) als auch sozial und politisch (zwischen verschiedenen Gesellschaften mit unterschiedlichen Umgangsweisen mit dem Virus) sowie institutionell (zwischen den etablierten lokalen Institutionen und den nationalen Regulierungen).

Abb. 3
figure 3

Région Grand Est – Verwaltungsbehörde des Programms Interreg Oberrhein

COVID-19 und Grenzen

Die geographische Grenzforschung betrachtet sowohl den strukturierten als auch den strukturierenden Charakter von Grenzen. Diese sind als physische und symbolische Barrieren wirksam und ko-konstituieren Gesellschaften und ihre räumlichen Bezüge, etwa nationalstaatliche Territorien. Grenzen werden über politische und soziale Praktiken konstruiert und stabilisiert, aber auch durch sie infrage gestellt (Reuber 2014, S. 190). Freizügigkeitsabkommen wie die Schengener Abkommen sind nur ein Beispiel für ein sog. Debordering (Weber et al. 2020, S. 7–8). Grenzen als „geopolitische Ordnungsvorstellungen“ stehen dabei in einem Spannungsfeld zwischen anhaltender Transnationalisierung und nationalstaatlich organisierter Steuerung von Territorialität (Reuber 2014, S. 189–191). Im Zuge dieser Destabilisierung territorialer Grenzen und der mit ihr einhergehenden Ordnung in abgrenzbare Nationalstaaten ist auch die Legitimierung von Grenzen und Wiederbegrenzungen (Rebordering) ein zentrales Thema für die Grenzforschung (Banse 2021).

Mit Beginn der COVID-19-Pandemie wurden Grenzen zum Schutz der jeweiligen nationalen Bevölkerung wieder legitim. Hatte sich der Diskurs im Kontext der Globalisierung und der europäischen Integration im beginnenden 21. Jahrhundert zunehmend zu einem Diskurs der offenen Grenzen entwickelt, wurden Grenzen nun auch im öffentlichen Diskurs als nötige Maßnahme zur Eindämmung einer hochansteckenden Lungenkrankheit gerechtfertigt. Das potenziell grenzüberschreitende Virus sollte in seiner Ausbreitung behindert werden, indem den Körpern, die als Wirt dienen konnten, der Grenzübertritt verwehrt wurde (Haesbaert 2020) und räumliche Abgrenzungen verschiedenster Art als Schutzmechanismen eingesetzt wurden (Jensen 2021).

Neben der Frage der Legitimität von Grenzen während der Pandemie ist interessant, wie Grenzen und grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Zuge von Wiederbegrenzungen gesteuert werden (Ulrich und Scott 2021, S. 172). Dabei ist wichtig, dass europaweit keine einheitliche Methode der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit existiert – jede der mehr als 200 Grenzregionen verfügt über eigene Akteure und Strukturen (Arbeitsgemeinschaft Europäischer Grenzregionen 2020; Wassenberg et al. 2015, S. 12). Am Beispiel der Oberrheinregion wird in diesem Artikel nachvollzogen, wie eine solche Cross-Border Governance (Ulrich und Scott 2021, S. 159–160) in Krisenzeiten funktioniert und arbeitet.

Die Fallstudie Oberrheinregion

Im Folgenden gehen wir der Frage nach, auf welche Weise sich die Grenzschließungen während der COVID-19-Pandemie und die damit verbundenen Grenzerfahrungen auf die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von lokalen Akteur*innen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in der Oberrheinregion ausgewirkt haben. Mithilfe von problemzentrierten Interviews mit Akteur*innen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit wurden die Merkmale und die zeitliche Dynamik der Grenzerfahrungen und grenzüberschreitenden Beziehungen während der Pandemie untersucht. Der zeitliche Fokus lag auf den Ereignissen im Frühjahr 2020. Im Folgenden wird zunächst in den Untersuchungsraum eingeführt und anschließend das methodische Vorgehen erläutert.

Die Oberrheinregion

Die Oberrheinregion stellt den Grenzraum zwischen den Schengenstaaten Deutschland, Frankreich und der Schweiz dar und beinhaltet die Teilregionen Baden, Elsass, Nordwestschweiz und Südpfalz (s. Abb. 4). Die Region hat aktuell ca. 6 Mio. Einwohner*innen, darunter (Stand 2018) ca. 97.000 Grenzgänger*innen, „die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausüb[en] und in einem anderen Mitgliedstaat wohn[en]“ (Europäisches Parlament und Rat der EU 2004, Art. 1, Abs. f). Ihre Anzahl nahm zwischen 2008 und 2018 um 12 % zu (Statistische Ämter am Oberrhein 2020, S. 11; s. Abb. 5). Grund für diese ausgeprägte grenzüberschreitende Mobilität sind insbesondere große Arbeitgeber in Baden und der Schweiz, die Arbeitskräfte über die Grenze locken (Hartz und Caesar 2018, S. 48). Die Oberrheinregion gilt als äußerst wirtschaftsstarker Raum, was u. a. an ihrer Lage an einer der wichtigsten Verkehrsachsen Europas liegt (Schneider-Sliwa 2018, S. 227).

Abb. 4
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Die Oberrheinregion, definiert durch das Mandatsgebiet der Oberrheinkonferenz. (Quelle: Jouhaud 2000, Copyright D‑F-CH Oberrheinkonferenz)

Abb. 5
figure 5

Grenzgängerströme in der Oberrheinregion im Jahr 2018 sowie deren prozentuale Veränderung im Zeitraum 2008–2018. (Quelle: Statistische Ämter am Oberrhein 2020, S. 11, Copyright D‑F-CH Oberrheinkonferenz)

Die Grenzregion weist eine lange Geschichte grenzüberschreitender Zusammenarbeit auf. In den 1960er-Jahren brachten zunächst private Initiativen wie der Verein „Regio Basiliensis“ die grenzüberschreitende Vernetzung voran (Schneider-Sliwa 2018, S. 219). Ab 1971 wurde diese Idee auch politisch institutionalisiert und durch die trinationalen Abkommen von Bonn (1975) und Basel (2000) gestärkt (ebd., S. 219–222). Zentrales „Informations- und Koordinationsorgan“ der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit ist die Oberrheinkonferenz, in welcher die Deutsch-Französisch-Schweizerische Regierungskommission die regionalen Regierungs- und Verwaltungsbehörden der drei Staaten verbindet (Oberrheinkonferenz 2021a). Sie umfasst neben einem Präsidium und Koordinationsausschuss auch 12 inhaltliche Arbeitsgruppen (Oberrheinkonferenz 2021b). Auf subregionaler Ebene finden sich außerdem vier sog. „Eurodistrikte“ und weitere Institutionen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit wie das Euro-Institut in Kehl oder das Netzwerk INFOBEST, das Grenzgänger*innen berät (Euro-Institut 2023, INFOBEST 2021).

Methodik

Zur Beantwortung der Fragestellung wurden im Juli und August 2021 insgesamt sechs Interviews à 30–60 Minuten mit Personen aus der Oberrheinregion geführt. Bei den Interviewten handelte es sich um Personen, die während der Pandemie in grenzüberschreitenden Institutionen (Oberrheinkonferenz, Eurodistrikt, Euro-Institut), einer Industrie- und Handelskammer (IHK) oder der Politik und Verwaltung verschiedener Städte in der Oberrheinregion an der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit beteiligt waren und somit über Expert*innenwissen in ihrem jeweiligen Bereich verfügten. Aus forschungspragmatischen Gründen wurden ausschließlich Personen aus Deutschland und Frankreich interviewt, der Schweizer Teil wurde somit bewusst außen vor gelassen. Als Erhebungsmethode wurde das problemzentrierte Interview nach Witzel (1985) gewählt. Nach der Transkription der Interviews wurde eine qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2015, S. 103–104) durchgeführt. Die Interviewten wurden zu den Auswirkungen der Grenzschließungen auf die Grenzregion, der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit während und nach der ersten Welle der COVID-19-Pandemie sowie nach der Bedeutung der Schengener Abkommen für die Region befragt. Im Folgenden werden zentrale Ergebnisse der Befragung vorgestellt.

Grenzerfahrungen am Oberrhein im Frühjahr 2020

Die Geschwindigkeit und Drastik der Wiedereinführung von Grenzkontrollen und der Schließung der meisten Grenzübergänge traf die Oberrheinregion im März 2020 insgesamt relativ unvorbereitet. Aus Sicht der Interviewten war diese Phase durch einen Mangel an Information und Koordination gekennzeichnet – die Bürgermeister*innen mancher Ortschaften an der Grenze wurden von den Maßnahmen regelrecht überrumpelt:

„Die haben sich ja selbst vor Tatsachen gestellt gesehen. Also da kam der Bürgermeister am Ort und da, wo der Grenzweg ist, … da standen dann plötzlich Warnbaken, da war dann Flatterband gespannt, und das wussten die ja stellenweise selbst nicht, was da passiert.“ (Mitarbeiter eines Eurodistrikts)

Die Wiedereinführung von Grenzkontrollen, das Verbot des Grenzübertritts ohne „triftigen Grund“ (Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat 2020) und die Schließung der kleineren Grenzübergänge beeinflussten die grenzüberschreitende Mobilität in der Grenzregion massiv. In den Ballungsräumen wie Basel oder Strasbourg wurde der grenzüberschreitende Nahverkehr eingestellt, und an den noch offenen Grenzübergängen kam es regelmäßig zu langen Staus (s. Kerssenbrock 2020). Zusätzlich benötigten Grenzgänger*innen zeitweise mehrere Formulare beim Grenzübertritt, was eine zusätzliche Mobilitätshürde darstellte und für viel Verwirrung und Unsicherheit in der Bevölkerung sorgte. Dies ließ sich auch am Beispiel der INFOBEST-Stellen beobachten, die mit Anfragen buchstäblich überrannt wurden:

„[D]a hat man erst erstens die menschlichen Schicksale auch gesehen, und dann auch letztendlich, was für eine Fülle an Fragestellungen in so einem Grenzraum ankommen, und wie unterschiedlich diese sind.“ (Mitarbeiter der Oberrheinkonferenz)

Ebenfalls empfindlich von den Grenzschließungen betroffen war die Wirtschaft in der Oberrheinregion. Umsatzeinbußen wurden durch den Verlust von Aufträgen auf der anderen Seite der Grenze oder durch den Wegfall von Kundschaft in den grenznahen Städten verursacht. Für große Industrieunternehmen wie Mercedes-Benz in Rastatt bedeuteten die Hürden beim Grenzübertritt den temporären Wegfall französischer Mitarbeiter*innen, sodass zeitweise ganze Schichten ausfielen. Kritisch drohte diese Tatsache für das Gesundheitssystem am Oberrhein zu werden, wie ein Interviewter berichtete:

„[I]n den Spitälern in Basel arbeiten zu 80 % Grenzgänger. Wenn die jetzt nicht mehr zur Arbeit kommen, dann bricht das Gesundheitssystem [zusammen], und das Spital ist nicht mehr arbeitsfähig.“ (Mitarbeiter der Oberrheinkonferenz)

Die Grenzziehungen sorgten zudem für eine Belastung der grenzüberschreitenden sozialen Beziehungen in der Oberrheinregion. Die rasante Ausbreitung des Virus im Elsass im März 2020 schürte nach Ansicht der Interviewten in Deutschland eine Angst vor den französischen Nachbarn als potenzielle Ansteckungsgefahr. Auch die temporäre Einführung eines Einkaufsverbots für französische Grenzgänger*innen in Deutschland sorgte für Spannungen in der Bevölkerung und in zahlreichen Fällen für Diskriminierung (s. auch Härtel und Vogt 2022, S. 290–291). So wurden in einigen Fällen französische Arbeitnehmer*innen in deutschen Betrieben in der Kantine von ihren Kolleg*innen separiert oder durften in der Pause nicht zum Bäcker gehen (Interviews mit Mitarbeiter*innen des Euro-Instituts und eines Eurodistriktes). Auch in Frankreich verschärfte sich der Ton gegenüber den Deutschen: Hier wurde die Wiedereinführung der Grenzkontrollen als einseitiger Akt und Affront gegen Frankreich wahrgenommen. Die negativen Erfahrungen in Deutschland verstärkten diese Stimmung, sodass es infolge zu Beschimpfungen und Anfeindungen gegen Deutsche in Frankreich bis hin zur Sachbeschädigung von Autos kam. In einem Fall erreichte die Spannung die politische Ebene, als ein französischer Bürgermeister die deutschen Grenzmaßnahmen mit Methoden der Nationalsozialisten verglich (Pfalz-Express 2021). Insgesamt wirkten die allgemeine Unsicherheit, der Frust über die Grenzschließungen sowie Berichte in den Medien als Treiber negativer Ressentiments und belasteten damit das deutsch-französische Verhältnis in der Region. Dennoch gab es auch positive Signale über die Grenze hinweg, darunter neben zahlreichen Solidaritätsbekundungen der Politik auch konkrete Unterstützungsaktionen der Bevölkerung (s. Armbruster 2020; Interview mit einem Mitarbeiter eines Eurodistrikts). Mit Blick auf die erste Pandemiewelle lässt sich festhalten, dass das deutsch-französische Verhältnis in der Oberrheinregion einer großen Belastung ausgesetzt war. Allerdings lösten sich die sozialen Spannungen mit der Wiederöffnung der Grenzen im Sommer 2020 weitestgehend wieder auf.

Grenzüberschreitende Zusammenarbeit während der Pandemie

In den ersten Wochen der wiedereingeführten Grenzkontrollen herrschte ein gewisses Chaos im Institutionengefüge der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit am Oberrhein. Mehrere Interviewte kritisierten das Fehlen eines Leitplans für eine solche Krisensituation, auch wenn das Thema Gesundheitsschutz die Oberrheinkonferenz bereits seit Längerem beschäftigte (Interviews mit einem Mitarbeiter der Oberrheinkonferenz und einem Mitarbeiter einer IHK). Zudem stand die Umstellung der Arbeitsabläufe auf eine digitale Kommunikation einer schnellen Reaktion auf die Lageänderung im Weg, und erst nach dieser Anpassung konnten die Institutionen wieder angemessen auf die Fülle neuer Fragestellungen in der Grenzregion reagieren. Im Gefüge der Cross-Border Governance dominierten zunächst Top-down-Entscheidungen der jeweiligen Nationalregierungen, was eine an die Grenzregion angepasste Steuerung erschwerte. Auf der lokalen und regionalen Ebene herrschte daher ein großer Informationsmangel, der nur mühsam behoben werden konnte, z. B. durch Initiativen wie den täglichen Newsletter des Eurodistrikts PAMINA (Eurodistrict PAMINA 2020). Lokale, meist relativ informelle Aktionen wie diese konnten so nach dem Bottom-up-Prinzip zur Verbesserung der Lage an den Grenzen beitragen, z. B. durch spezielle Grenzöffnungszeiten für medizinisches Personal oder die Aufnahme von Intensivpatient*innen aus Frankreich:

„[A]lso dass man da auch unkompliziert Patiententransfers beispielsweise organisiert hat, und nicht erstmal nach Berlin geschrieben, … ob man das jetzt darf, sondern die haben das einfach gemacht. Die haben gewusst, bei den Kollegen ist Land unter, wir übernehmen jetzt einfach mal ein paar Patienten von denen, und hinterher gucken wir, wie wir das regeln … Da ging es wirklich erstmal darum, zu helfen und Menschenleben zu retten.“ (Mitarbeiter eines Eurodistrikts)

Im weiteren Verlauf der ersten Pandemiewelle konnte die Oberrheinkonferenz nach und nach zur grenzüberschreitenden Vernetzung der Akteure beitragen. So konnten wichtige Erfolge für die Grenzgänger*innen wie die Einführung einer 24-h-Regel oder die Anerkennung von Antigen-Schnelltests erzielt werden. Auch die Eurodistrikte und die Industrie- und Handelskammern setzten ihre Ressourcen zur Lösung grenzüberschreitender Probleme ein und betrieben auf nationaler und europäischer Ebene Lobbyarbeit für die Wiederöffnung der Grenzen und die Berücksichtigung der Bedürfnisse der Grenzregionen. Nach der Überwindung des ersten „Grenzschocks“ profitierte die Oberrheinregion von ihren etablierten Netzwerken und Beziehungen in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit – Ressourcen, über die nicht jede europäische Grenzregion verfügte, wie ein Interviewter bemerkte:

„[Schauen] Sie in andere Grenzregionen, was da passiert ist, jetzt gerade während Corona: Deutschland-Polen, Deutschland-Tschechische Republik, wo auch die Grenzgängerinnen und Grenzgänger gar nicht diese Lobby hatten, … die wir eben hier bieten können am Oberrhein. Wenn halt alle Druck machen, die Oberrheinkonferenz und der Oberrheinrat und die Eurodistrikte, … dann hat das schon Auswirkungen, dass vielleicht schneller mal irgendeine problematische Regelung auch aufgehoben oder anders interpretiert und umgesetzt wird.“ (Mitarbeiter eines Eurodistrikts)

Trotz dieser Erfolge zeigten die Erfahrungen der COVID-19-Pandemie den Verantwortlichen in der Region zahlreiche Ansatzpunkte für Verbesserungen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit auf, insbesondere für den erneuten Fall einer Pandemie:

„Was man aber braucht in Zukunft, [ist] Pandemieplanung, … um gezielt Grenzregionen zu berücksichtigen. Was muss in der Grenzregion anders gedacht werden bei einem Fall, wie wenn national … Regelungen getroffen werden müssen?“ (Mitarbeiter der Oberrheinkonferenz)

Hierbei ist aus Sicht der Interviewten der europäische Austausch zwischen Grenzregionen von großer Bedeutung, um Probleme zu lösen und Best-Practice-Beispiele zu finden. Das bedeute allerdings nicht, das Grenzmanagement zu vereinheitlichen: Die optimale Lösung hänge immer von den Gegebenheiten einer Grenzregion ab, insbesondere dort, „wo die klassischen nationalen Instrumente sich als ineffizient erweisen“ (Wassenberg et al. 2015, S. 12). Im Fall der Oberrheinregion sehen die Interviewten ein großes Verbesserungspotenzial im Gesundheitsbereich, der auch nach der Pandemie besser an die Grenzregion angepasst sein sollte. Aber auch in anderen Bereichen könnten die Erfahrungen der Pandemie die Zusammenarbeit antreiben:

„Ich glaube, dass man, weil man jetzt hier etwas intensiver gesprochen hat und aufeinander zugegangen ist, … wahrscheinlich auch bei neuen Themen auch eher miteinander spricht und sich verbündet. … Da würde ich sagen, … sind wir ein Stück weiter gekommen.“ (Stadtpolitiker in der Oberrheinregion)

Ziel sei die Weiterentwicklung einer Cross-Border Governance mit „360°-Perspektive“ (Interview mit einem Mitarbeiter eines Eurodistrikts), welche die vorhandenen Steuerungsmöglichkeiten möglichst komplementär für die Bevölkerung der Oberrheinregion einsetze. Diese Möglichkeit der politischen Dezentralisierung, die bereits Anfang des Jahres 2020 im Vertrag von Aachen festgehalten wurde (Vertrag von Aachen 2020, Art. 13, Abs. 2), bestätigt Akteur*innen wie die Oberrheinkonferenz und die Eurodistrikte in ihrer Rolle bei der Förderung der grenzüberschreitenden Beziehungen in der Region. Die beschriebene Zusammenarbeit der verschiedenen Akteur*innen während der Pandemie bedeutet für die grenzüberschreitenden Institutionen in der Oberrheinregion eine große Chance, die bisherigen Beziehungen und damit die europäische Integration weiter zu vertiefen.

Fazit

Die COVID-19-Pandemie führte im Frühjahr 2020 in Europa zu einem regelrechten „Grenzschock“ und stellte so zahlreiche Gewissheiten über das Leben, Arbeiten und politische Kooperieren in Grenzregionen wie der Oberrheinregion infrage. Die seit Inkrafttreten der Schengener Abkommen 1995 kaum wirksamen nationalstaatlichen Grenzen zwischen Deutschland, Frankreich und der Schweiz wurden nun als physische und soziale Barrieren re-konstituiert. Die hier vorgestellten qualitativen Daten zeigen nicht nur, wie emotional dieser Grenzschock aufgenommen und der langjährig aufgebaute politische und soziale Zusammenhalt über die Grenze hinweg auf die Probe gestellt wurde, sondern auch, wie die Zusammenarbeit nach einer Zeit der Irritation an die neue Situation angepasst werden konnte.

Im Hinblick auf die politische Steuerung von Grenzregionen lässt sich für das Frühjahr 2020 ein deutlicher „nationaler Reflex“ feststellen, der die existierenden Strukturen der Cross-Border Governance vielerorts ignorierte und die Grenzregionen wieder als territoriale Peripherie betrachtete (Albers et al. 2021, S. 375). Arbeiten aus dem deutsch-tschechisch-polnischen Grenzgebiet bestätigen diese Beobachtung (Novotný und Böhm 2022; Opioła und Böhm 2022). Nach einer relativ ungeordneten Phase zu Beginn der Pandemie konnten die institutionellen Akteure am Oberrhein jedoch auf das vorhandene geteilte Wissen und die etablierten Beziehungen zurückgreifen und das Soziale und Räumliche in der Grenzregion neu ordnen (vgl. Weber und Wille 2020). Dafür widersetzten sie sich zum Teil den nationalen Regelungen, um, der etablierten Ordnung der Grenzregion folgend, grenzüberschreitendes Zusammenleben (wieder) zu ermöglichen. In diesem Konflikt zwischen nationalen Zentren und grenznahen Peripherien konnte die Oberrheinregion von langjährigen Strukturen und Erfahrungen in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit profitieren. Gleichzeitig sorgten die Erfahrungen während der Pandemie für neue Impulse für die zukünftige Zusammenarbeit und stärkten den politischen Willen dafür auf verschiedenen Ebenen. Opiłowska (2021) weist zudem darauf hin, dass die in Grenzregionen entstandenen Narrative der grenzüberschreitenden Verbindungen auch in disruptiven Momenten aufgerufen werden und die COVID-19-Pandemie in vielen Grenzregionen das Bewusstsein für den gemeinsamen grenzüberschreitenden Lebensraum gestärkt hat.

Die COVID-19-Pandemie hat für die Humangeographie als Teil der interdisziplinär ausgerichteten Grenzforschung (border studies) zahlreiche neue Fragestellungen aufgeworfen und die Bedeutung der innereuropäischen Grenzen und ihren Verräumlichungen wieder in den Fokus gerückt. Im Sinne einer durch die Erfahrungen der Pandemie reformulierten Grenzgeographie, die „räumliche und soziale (Un‑)Ordnungen auf unterschiedlichen (Maßstabs‑)Ebenen“ (Weber und Wille 2020, S. 197) einbezieht, lohnt es sich, diejenigen Felder und Regionen zu betrachten, für die Grenzen in vor-pandemischer Zeit konstitutiv waren. Konkrete Ansatzpunkte ergeben sich aus der Untersuchung einzelner Grenzregionen während der Pandemie (z. B. Cyrus und Ulrich 2021; Fleßa und Kuntosch 2022; Härtel und Vogt 2022) oder der Betrachtung im gesamteuropäischen Kontext (Brodowski et al. 2023; Peyrony 2021; Weber et al. 2021).