Inhalt

Einleitung und Definitionen

1.:

Diagnostik

1.1:

Initialdiagnostik

1.2:

Verlaufsdiagnostik

2.:

Medikamentöse Therapie

2.1:

Therapieoptionen

2.1.1:

Faktorkonzentrate (FVIII oder FIX)

2.1.1.1:

Faktorkonzentrate mit Standard-Halbwertszeit (SHL)

2.1.1.2:

Faktorkonzentrate mit verlängerter HWZ (EHL, extended half-life)

2.1.2:

Nicht-Faktor-Therapien (NFT; Non-Replacement Therapies, NRT)

2.1.3:

Gentherapie

2.1.4:

Desmopressin (DDAVP)

2.1.5:

Antifibrinolytika (Tranexamsäure)

2.1.6:

Unspezifische Maßnahmen und Lokaltherapeutika (Haemostyptika)

2.2.:

Therapieformen

2.2.1:

Prophylaxe

2.2.2:

Bedarfstherapie (On-Demand)

2.2.3:

Heimtherapie

3.:

Begleitende Therapieoptionen

3.1:

Physikalische Medizin

3.1.1:

Akute Gelenkblutung

3.1.2:

Akute/chronische Synovitis

3.1.3:

Hämophile Arthropathie

3.2:

Orthopädie

3.2.1:

Konservativ

3.2.2:

Operativ

3.3:

Schmerztherapie

3.3.1:

Interventionsbezogene Schmerzen

3.3.2:

Schmerzen bei Gelenk- und Muskelblutungen

3.3.3:

Chronisch-hämophile Arthropathie

3.3.4:

Analgetika

4.:

Messung von Outcomes

4.1:

Blutungsfrequenz

4.2:

Muskuloskelettale Evaluierung (Bewegungsapparat)

4.3:

Patienten-zentrierte Evaluation (Patient-Reported Outcomes, PROs)

5.:

Spezielle Aspekte der Prophylaxe und Therapie bei Kindern mit schwerer Hämophilie

5.1:

Therapieinitiierung in den ersten Lebensjahren

5.2:

Venöser Zugang

5.3:

Transition

6.:

Spezielle Aspekte der Therapie und Prophylaxe bei Erwachsenen mit schwerer Hämophilie

6.1:

Empfehlung für Fortsetzung der Primärprophylaxe

6.2:

Evidenz für Gelenkserhalt durch späte Prophylaxe

7.:

Mittelschwere und leichte Hämophilie

8.:

Therapie bei Trauma, lebensbedrohlichen und speziellen Blutungen

8.1:

Trauma und lebensbedrohliche Blutungen

8.2:

Spezielle Blutungen

8.2.1:

Hämaturie

8.2.2:

Blutungen der Mundschleimhaut

8.2.3:

Epistaxis

9.:

Vorgehen bei Operationen und Zahnextraktionen

9.1:

Operationen

9.2:

Zahnextraktionen

9.3:

Weibliche Verwandte

10.:

Therapie von PwH mit Inhibitoren (Hemmkörpern)

10.1:

Akute Blutungen und Operationen bei Inhibitoren

10.1.1:

Hämophilie A

10.1.2:

Hämophilie B

10.2:

Blutungsprophylaxe bei Inhibitoren

10.3:

Hemmkörperelimination

11.:

Perinatales Management der Hämophilie

11.1:

Konduktorinnen

11.2:

Genetische Untersuchung und Geschlechtsbestimmung des Fetus

11.3:

Geburt

11.3.1:

Faktorspiegel und das Blutungsrisiko von Konduktorinnen

11.3.2:

Geburtsmodus und Blutungsrisiko für das Neugeborene

11.4:

Das Neugeborene mit Hämophilie

11.4.1:

Diagnose beim Neugeborenen

11.4.2:

Behandlung des Neugeborenen mit Hämophilie

12.:

Psychosoziale Aspekte

12.1:

Behandlung der Hämophilie

12.2:

Lebensqualität

12.3:

Komorbiditäten

Einleitung

Die vorliegende Leitlinie ist ein überarbeiteter und aktualisierter Konsensus zur Behandlung der angeborenen Hämophilie in Österreich auf Basis der 2015 publizierten Leitlinie [1] Unter „Behandlung“ ist in diesem Zusammenhang sowohl die prophylaktische als auch die therapeutische Gabe von Blutgerinnungsfaktor-Konzentraten (in weiterer Folge kurz „Faktorkonzentrate“ genannt) und Nicht-Faktor-Therapien zu verstehen. Dies inkludiert auch alle anderen für die Hämophilie relevanten prophylaktischen und therapeutischen Maßnahmen.

Die Leitlinie wurde durch Mitglieder des wissenschaftlichen Beirates der Österreichischen Hämophilie Gesellschaft (ÖHG) erstellt. Sie soll den Stand des Wissens der Hämophilie-Behandlung beschreiben und damit auch in der Hämophilie weniger erfahrenen Kollegen als Richtschnur dienen.

Wesentliche Grundlage dieser Leitlinie sind die überarbeiteten internationalen Guidelines der „World Federation of Hemophilia“ aus dem Jahr 2020 [2]. Diese wurden den nationalen Gegebenheiten und Erfahrungen angepasst. Diese Publikation fasst den aktuellen Stand des Wissens in der Diagnostik und Behandlung der Hämophilie zusammen und soll als gemeinsame Referenz für eine angemessene medizinische Betreuung von Personen mit Hämophilie (PwH) dienen. Darüber hinaus kommt diesem Dokument besondere Wertigkeit zu, weil PwH und ihre Interessensvertretung aktiv in seine Erstellung einbezogen wurden. Besonders bei schwerwiegenden seltenen Erkrankungen sind ein akkordiertes Vorgehen und ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Arzt und Patient wichtig. Durch die Möglichkeit der Heimbehandlung werden PwH oder den Eltern diagnostische (Erkennen von behandlungsbedürftigen Blutungen) und therapeutische (Selbstinjektion) Aufgaben übertragen. Die Leitlinie soll zu einer gleichmäßig hohen Qualität der Hämophilie-Behandlung in Hämophilie-Zentren, aber auch nicht spezialisierten Spitälern und Arztpraxen in ganz Österreich beitragen.

Definitionen

Bei der Hämophilie handelt es sich um eine X‑chromosomal vererbte Blutgerinnungsstörung, die auf Mutationen der für Faktor (F) VIII bzw. FIX kodierenden Gene beruht. Bei Hämophilie A ist der Faktor VIII betroffen, die Inzidenz liegt bei 1:6000 Geburten. Bei Hämophilie B ist der Faktor IX betroffen, die Inzidenz liegt bei 1:30.000 [3]. Damit handelt es sich bei der Hämophilie um eine seltene Erkrankung („orphan disease“). Differentialdiagnostisch sind die verschiedenen Formen der Von-Willebrand-Erkrankung (Von Willebrand Disease, VWD) abzugrenzen sowie die durch Autoantikörper verursachte „erworbene Hämophilie“ bei genetisch nicht-hämophilen Personen.

Tab. 1 stellt die Schweregrade der Hämophilie anhand der bei PwH individuell im Plasma vorhandenen Faktoraktivität dar und unterteilt diese in schwer, mittelschwer und leicht. Die frühere Abgrenzung einer Subhämophilie mit einer Faktoraktivität von > 15 % wird nicht mehr verwendet. Der obere Grenzwert wurde in Übereinstimmung mit den internationalen Leitlinien mit 40 % definiert [2]. Jedoch variiert dieser Grenzwert in unterschiedlichen Publikationen zwischen 25 und 50 % (dem unteren Grenzwert des Normalbereichs) [4] In der FVIII-Mutationsdatenbank sind einige Hämophilie-Mutationen beschrieben, die mit einer FVIII-Aktivität zwischen 40 und 50 % einhergehen [5]. Faktor VIII als Akutphasenprotein kann bei besonderen klinischen Situationen (z. B. bei Entzündungen oder nach Operation oder Blutung) bei Personen mit leichter Hämophilie mitunter auf über 40–60 %, also bis in den Normbereich, ansteigen. Diese Aspekte sind bei Diagnosestellung oder beim Ausschluss einer Hämophilie in Erwägung zu ziehen.

Tab. 1 Schweregrade der Hämophilie A/B nach Faktoraktivität [2]

1. Diagnostik

1.1 Initialdiagnostik

Die diagnostische Evaluierung von Personen mit Verdacht auf Hämophilie, bei denen eine Blutungsneigung festgestellt wurde, beginnt mit der Familien- und Eigenanamnese des Patienten, wobei auf Gerinnungsstörungen in der Familie besonderer Wert gelegt wird. Bei Verdacht auf familiäre Disposition erfolgt die Diagnostik auch ohne Blutungsneigung zum Ausschluss oder zur Bestätigung einer Hämophilie. Tab. 2 listet die wichtigsten Laboruntersuchungen für die initiale und Verlaufsdiagnostik auf.

Tab. 2 Laboruntersuchungen für die Initial- und Verlaufsdiagnostik

Nach Diagnosestellung sollte unverzüglich die Anbindung der betroffenen PwH an ein Hämophilie-Zentrum erfolgen. Idealerweise sollte es sich dabei um ein „Haemophilia Comprehensive Care Centre“ (HCCC) handeln, in dem eine multidisziplinäre Betreuung von PwH möglich ist, zumindest aber ein „Haemophilia Treatment Center“ (HTC) [6].

1.2 Verlaufsdiagnostik

Die Verlaufsdiagnostik setzt sich aus folgenden Teiluntersuchungen zusammen:

  • Körperliche Untersuchung einschließlich des klinischen Gelenkstatus: Die Erhebung entsprechend standardisierter physikalischer Scores wird empfohlen, da sie eine Einschätzung des muskuloskelettalen Systems und Verlaufskontrollen erlauben (siehe auch Kap. 4).

  • Labordiagnostik siehe Tab. 2.

  • Nach Bedarf bildgebende Untersuchungen von Gelenken (Ultraschall, Nativröntgen, Magnetresonanztomographie).

  • Die Kontrolluntersuchungen im Hämophilie-Zentrum sollten zur Anpassung des Behandlungsplans (Dosis, Frequenz) genützt werden.

Bei schwerer und mittelschwerer Hämophilie sollten Kontrolluntersuchungen bei Kindern in der Anfangsphase der Behandlung (bis zum 50. Expositionstag) zunächst alle fünf bis zehn Faktor-Expositionstage erfolgen, danach mindestens alle sechs Monate. Bei leichter Hämophilie sollen die Kontrolluntersuchungen abhängig von Blutungs- und Behandlungsfrequenz erfolgen.

Spiegelmessungen für verschiedene EHL-FVIII/IX-Konzentrate erfordern spezifische Tests (chromogen oder koagulometrisch), die lokal verfügbar und evaluiert sein sollten. Daher soll ein enger Kontakt zwischen den anfordernden Therapeuten und dem ausführenden Labor bestehen, um den für das verwendete Produkt geeigneten Test auszuwählen. Zur Überprüfung der Teststrategien bzw. der Wiederfindung sollten Hersteller den Laboratorien spezifisches Kontrollmaterial für die neuen Therapeutika zur Verfügung stellen.

Bei PwH unter Emicizumab-Prophylaxe sollten bei speziellen therapeutischen Fragestellungen (z. B. Blutungen oder präoperativ) Emicizumab-Spiegel mittels koagulometrischer Tests unter Verwendung spezifischer Emicizumab-Kalibratoren erfolgen. Eine FVIII-Aktivität lässt sich unter Emicizumab-Therapie nur mittels bovinem chromogenen FVIII-Test erfassen.

Empfehlungen Diagnostik

  • Eine Initialdiagnostik sollte bei allen Personen mit Blutungsneigung und Verdacht auf Hämophilie bzw. bei familiärer Disposition erfolgen.

  • Kontrolluntersuchungen bei schwerer und mittelschwerer Hämophilie sollten in der Anfangsphase der Behandlung alle 5 bis 10 Faktor-Expositionstage erfolgen, danach mindestens alle 6 Monate.

  • Kontrolluntersuchungen bei leichter Hämophilie sollten abhängig von Blutungs- und Behandlungsfrequenz erfolgen.

  • Spiegelmessungen müssen mit für die jeweilige Therapie geeigneten Tests erfolgen (chromogen/koagulometrisch), wobei unterschiedliche Testbatterien und Teststrategien beachtet werden müssen.

2. Medikamentöse Therapie

2.1 Therapieoptionen

Zur Behandlung der Hämophilie und zur Supportivtherapie stehen folgende Produkte zur Verfügung:

  1. 1.

    Faktorkonzentrate

  2. 2.

    Non-Faktor-Therapien (NFT; auch Non-Replacement Therapies, NRT)

  3. 3.

    Gentherapie

  4. 4.

    Desmopressin

  5. 5.

    Antifibrinolytika (Tranexamsäure)

  6. 6.

    Lokaltherapeutika (Hämostyptika) und unspezifische Maßnahmen

Eine Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirates der Österreichischen Hämophilie Gesellschaft (ÖHG) zu Aspekten der medikamentösen Therapie findet sich im regelmäßig aktualisierten Konsensus [9].

2.1.1 Faktorkonzentrate (FVIII oder FIX)

2.1.1.1 Faktorkonzentrate mit Standard-Halbwertszeit (SHL)

Die Verweildauer von verabreichtem Faktor wird anhand der Plasma-Halbwertszeit angegeben. Diese beträgt bei SHL-Präparaten für FVIII ca. 8–12 h, für FIX ca. 12–20 h, mit großer interindividueller Variabilität [10, 11]. FVIII- und FIX-Konzentrate sind entweder aus Plasma gewonnen („plasma derived“, pd) oder rekombinant (r) hergestellt.

Plasmatische Faktorkonzentrate:

Sie werden aus gepooltem Spenderplasma hergestellt. Für FVIII gibt es Produkte mit reinem FVIII oder mit variablem Gehalt an Von-Willebrand-Faktor (FVIII/VWF-Konzentrate).

Vorteile: natürliche Moleküle, vermutlich geringere Inhibitorinzidenz bei neubehandelten Patienten (previously untreated patients, PUPs).

Nachteile: potenziell Übertragung von humanpathogenen Infektionen, benötigen gekühlte Lagerung, größere Volumina.

Rekombinante Faktorkonzentrate:

Vorteile: theoretisch unbegrenzte Verfügbarkeit; Molekülmodifikationen z. B. zur Halbwertszeitverlängerung.

Nachteile: nicht-natürliche Moleküle mit potenziell höherer Nebenwirkungsrate (z. B. Inhibitorinzidenz), produktionsabhängige Verfügbarkeit.

2.1.1.2 Faktorkonzentrate mit verlängerter HWZ (extended half-life, EHL)

Sie basieren auf rekombinant modifizierten FVIII- oder FIX-Molekülen und erzielen ihre HWZ-Verlängerung durch PEGylierung (kovalente Bindung an Polyethylenglykol), Fusion mit dem Fc-Fragment von Immunglobulinen oder mit Albumin (nur FIX).

Für FVIII-Konzentrate kann eine HWZ-Verlängerung auf das ca. 1,4- bis 1,8-Fache erzielt werden, für FIX-Konzentrate auf das ca. 3 bis 5‑Fache [12].

Vorteile von EHL: höhere Talspiegel, Reduktion von Blutungen; Ausweitung des Injektionsintervalls für Prophylaxe:

FVIII 1–2 ×/Woche, FIX alle 7 bis 14 Tage; die höhere Clearance bei jüngeren Kindern kann kürzere Injektionsintervalle erfordern.

Nachteile: potenzielle Akkumulation von PEG (Polyethylenglykol); endgültige Daten zur Inhibitorinzidenz bei zuvor unbehandelten Patienten liegen für einige EHL noch nicht vor.

Ein neuartiges, kombiniertes EHL-FVIII-VWF-Produkt mit hochgradig verlängerter HWZ (Efanesoctocog alfa) steht vor der Zulassung in Europa. Außerhalb der Zulassungsstudien liegen dafür derzeit noch keine ausreichenden klinischen Erfahrungen vor.

Zu Faktorkonzentraten für die Behandlung von PwH mit Inhibitoren siehe Kap. 10.

Tab. 3 gibt Auskunft über die bei verschiedenen Blutungsarten anzustrebenden Plasmaspiegel von FVIII und FIX sowie über die notwendige Therapiedauer. Die Autoren sind der Meinung, dass es keine ausreichende Evidenz für unterschiedliche Zielspiegel bei Hämophilie A und B gibt und haben daher diesbezüglich keine Unterscheidung getroffen. Bei EHL-Präparaten bestehen allerdings bezüglich der Dosierungsintervalle Unterschiede zwischen FVIII- und FIX-Konzentraten. Die Vorschläge sind als Richtwerte zu verstehen, die ausnahmslos nicht auf randomisierten, kontrollierten Studien beruhen, sondern aus Kohortenstudien und klinischen Erfahrungswerten resultieren.

Tab. 3 Empfehlungen für FVIII/FIX-Spiegel. (Adaptiert nach [2, 13]. Alle Autoren haben in allen Punkten diesen adaptierten Empfehlungen zugestimmt)

Weiters ist darauf hinzuweisen, dass bei schweren Blutungen immer normale Faktorspiegel anzustreben und entsprechende Dosierungen der Faktorkonzentrate zu verwenden sind.

Speziell bei der Hämophilie B ist die niedrigere Wiederfindungsrate (Recovery) von Faktor IX zu beachten.

Faktorkonzentrate haben aufgrund ihrer pharmakokinetischen Eigenschaften gegenüber Non-Faktor-Therapien den Vorteil, dass nur sie für die Behandlung von akuten Blutungen geeignet sind und bei Prophylaxe eine Individualisierung für die einzelne PwH erlauben.

Empfehlungen Faktorkonzentrate

  • Empfehlungen hinsichtlich Zielspiegel und Therapiedauer bei verschiedenen Blutungsarten sind in Tab. 3 zusammengefasst.

  • Bei schweren Blutungen sollten in den ersten Tagen immer normale Faktorspiegel (Talspiegel 50–80 %) angestrebt werden (siehe auch Kap. 8).

  • Bei schweren Blutungen, schweren Traumata oder Operationen soll die Therapie durch regelmäßige Bestimmung des Faktorspiegels überwacht werden (z. B. Talspiegel 1 × täglich vor der morgendlichen Gabe des Faktorkonzentrats; siehe auch Kap. 9).

2.1.2 Non-Faktor-Therapien (NFT; Non-Replacement Therapies, NRT)

Die einzige derzeit in Österreich zugelassene NFT ist der bispezifische monoklonale FVIII-mimetische Antikörper Emicizumab. Er verbindet die Faktoren FIXa und FX und vermittelt damit deren enzymatische Aktivität in der Gerinnungskaskade. Zur Aufsättigung wird Emicizumab mit 3 mg/kg einmal pro Woche über 4 Wochen verabreicht; zur Erhaltung kann das Äquivalent von 1,5 mg/kg/Woche in Intervallen von 1 bis 4 Wochen gegeben werden.

Vorteile: lange HWZ von mehreren Wochen, subkutane Verabreichung.

Nachteile: Aufsättigungsphase erforderlich, daher ausschließlich prophylaktische Wirksamkeit (nicht zur Behandlung von akuten Blutungen geeignet!); keine Wirksamkeit bei Hämophilie B; Risiko von Thrombosen und thrombotischer Mikroangiopathie (bei zusätzlicher hochdosierter Therapie mit aktiviertem Prothrombinkomplexkonzentrat).

Wirksamkeit und Sicherheit von Emicizumab für erwachsene Personen mit Hämophilie A (mit und ohne FVIII-Inhibitoren) und Kinder mit Inhibitoren sind in Zulassungsstudien gut dokumentiert [14]. Inzwischen sind auch positive Daten für den Einsatz von Emicizumab bei (noch unbehandelten) Säuglingen und Kleinkindern ohne Inhibitoren verfügbar [15].

Bei Blutungen und auch für Operationen ist die zusätzliche Gabe eines FVIII-Konzentrats oder bei Personen mit FVIII-Inhibitoren von rekombinantem Faktor VIIa (rFVIIa) oder aktiviertem Prothrombinkomplexpräparat (APCC) erforderlich. Dabei ist wegen der Gefahr von Thrombosen und thrombotischer Mikroangipathie auf die Maximaldosierungen zu achten.

Eine Messung von Emicizumab-Wirkspiegeln ist nur mit indirekten Methoden möglich. Aufgrund der stabilen Wirkspiegel und der hohen therapeutischen Breite ist eine Messung in der Regel nicht notwendig, kann aber bei Verdacht auf Wirkungsverlust (z. B. durch seltene Antikörper gegen Emicizumab) oder perioperativ erforderlich sein.

In klinischer Entwicklung ist eine Reihe weiterer NFTs, die durch Hemmung von Gerinnungsinhibitoren die Balance im Gerinnungssystem zugunsten verstärkter Blutgerinnung auslenken, womit bei PwH die Blutungsneigung vermindert werden kann (Rebalanzierungstherapie) [16]. Für Gerinnungsgesunde würde dies ein Risiko von überschießender Blutgerinnung bedeuten (Thromboserisiko), welches auch bei PwH nicht gänzlich auszuschließen ist, insbesondere bei anderen klinischen Thromboserisikofaktoren (fortgeschrittenes Alter, Herz-Kreislauferkrankungen). Diese NFT umfassen Antikörper gegen tissue factor pathway inhibitor (TFPI) (Concizumab, Marstacimab), einen Hemmstoff der Produktion von Antithrombin in der Leber (Fitusiran) und einen Hemmstoff des aktivierten Protein C (SerpinPC). Diese Substanzen werden alle subkutan verabreicht, sind für Hämophilie A und B ohne und mit Hemmkörpern vorgesehen und ausschließlich für die Prophylaxe geeignet. Diese NFT sind in Europa derzeit noch nicht zugelassen.

Empfehlungen Non-Faktor-Therapie (Emicizumab)

  • Emicizumab stellt für Personen mit Hämophilie A aller Altersgruppen ohne und mit Inhibitoren eine wirksame und sichere Alternative zu FVIII-Konzentraten dar.

  • Bei Säuglingen und Kleinkindern kann die subkutane Verabreichung einen besonderen Vorteil darstellen.

  • Bei Blutungen und auch für Operationen ist die zusätzliche Gabe eines FVIII-Konzentrats oder (bei Personen mit FVIII-Inhibitoren) von rekombinantem Faktor VIIa (rFVIIa) oder aktiviertem Prothrombinkomplexkonzentrat (APCC) erforderlich

2.1.3 Gentherapie

Die Gentherapie als eine neue Therapieoption für die Behandlung der schweren Hämophilie A und B verfolgt grundsätzlich das Ziel, durch eine einmalige Infusion die Produktion des fehlenden oder nicht ausreichend produzierten Faktors wiederherzustellen. Dabei wird der bei Hämophilie fehlende oder defekte Genabschnitt als sogenanntes Transgen mit einem Vektor – i.e. Kapsid des Adeno-assoziierten Virus (AAV) – in Leberzellen transferiert, wo die endogene Produktion von FVIII bzw. FIX einsetzt.

In Europa ist eine Gentherapie sowohl für die Hämophilie A als auch die Hämophilie B zugelassen. Auf Basis der GENEr8‑1 Studie besteht bei Erwachsenen mit schwerer Hämophilie A ohne Inhibitoren in der Vorgeschichte und ohne nachweisbare Antikörper gegen den AAV Subtyp 5 (AAV5), der als Vektor zum Einsatz kommt, eine Zulassung [17, 18].

Auf Basis der HOPE‑B Studie wurde die Gentherapie, ebenfalls AAV5-basiert, zur Behandlung von schwerer und mittelschwerer Hämophilie B bei Erwachsenen ohne Faktor-IX-Inhibitoren in ihrer Vorgeschichte zugelassen [19, 20].

Derzeit gibt es in Österreich noch keine Erfahrungen in der Anwendung der Gentherapie in der klinischen Routine. Es sind überregionale und internationale Empfehlungen für die Durchführung der Gentherapie publiziert worden, die den Prozess von der Evaluierung der Patienteneignung über die Durchführung der Gentherapieinfusion bis hin zur engmaschigen Nachsorge beschreiben [21, 22]. Die Etablierung und Durchführung der Gentherapie in Österreich soll sich nach solchen Empfehlungen richten und in einem Hämophilie-Zentrum mit entsprechender Infrastruktur erfolgen.

2.1.4 Desmopressin (DDAVP)

DDAVP ist ein synthetisches Analogon des antidiuretischen Hormons Vasopressin und kann bei Personen mit leichter oder mittelschwerer Hämophilie A, Konduktorinnen der Hämophilie A und Personen mit VWD (außer VWD Typ IIb und III) eingesetzt werden. Eine Einzeldosis von 0,3 μg/kg Körpergewicht Desmopressin (s.c. oder i.v.) führt zu einem Anstieg des FVIII und des VWF um das 3‑ bis 6‑Fache [2]. Eine intranasale Verabreichung kann in einer Dosierung von 1 bis 2 Sprühstößen à 150 µg erfolgen. Der entsprechende Nasenspray ist aber derzeit nicht verfügbar.

Bei akuten schweren Blutungen und Epistaxis sollten intranasale Gaben aufgrund des unsicheren Ansprechens vermieden werden. Desmopressin kann auch zur präoperativen Prophylaxe 60 min vor kleineren Operationen verabreicht werden. Die Dosierungen sind in Tab. 4 angegeben.

Tab. 4 Dosisempfehlung für Desmopressin bei Personen mit Hämophilie A. (Quelle [23])

Die intravenöse Verabreichung sollte in 50 bis 100 ml Kochsalzlösung langsam über einen Zeitraum von 20 bis 30 min erfolgen. Kindern sollte Desmopressin grundsätzlich nur einmal täglich verabreicht werden, bei Erwachsenen kann eine zweimal tägliche Gabe unter enger Kontrolle erwogen werden. Desmopressin soll aufgrund der zu erwartenden Tachyphylaxie nur an maximal 3 aufeinanderfolgenden Tage verwendet werden.

Desmopressin hat keinen Effekt auf den Faktor IX-Spiegel und ist bei Hämophilie B nicht wirksam.

PwH zeigen signifikante interindividuelle Unterschiede im Ansprechen auf Desmopressin, vor allem bei intranasaler Verabreichung. Daher wird eine „Testverabreichung“ empfohlen, um zu evaluieren, ob Desmopressin für die individuelle PwH eine Therapieoption darstellt und vertragen wird. Dabei werden FVIII, VWF und Thrombozytenzahl vor und nach der Infusion gemessen. 60 min nach intravenöser Gabe ist der höchste Wirkspiegel erreicht. Dies erlaubt eine Einschätzung des zu erwartenden Faktorspiegels nach der Infusion und damit einen Rückschluss auf die blutungshemmende Wirkung des Medikamentes.

Zusätzlich besteht eine direkte Wirkung auf die Thrombozytenfunktion.

Es ist wichtig, beim Desmopressin-Einsatz das Risiko einer Wasserintoxikation und Hyponatriämie zu beachten. Für Kinder unter zwei Jahren und Personen mit Anfallsleiden ist Desmopressin grundsätzlich kontraindiziert. Bei Kindern zwischen 2 und 6 Jahren kann Desmopressin mit Vorsicht und unter strenger Observanz hinsichtlich Trinkmenge und Ausscheidung angewandt werden. Weiters besteht eine Kontraindikation bei Patienten mit instabiler Angina pectoris oder bekannter Atherosklerose [24]. In der Schwangerschaft sollte Desmopressin nur mit äußerster Vorsicht eingesetzt werden; bei Präeklampsie und Eklampsie sollte Desmopressin vermieden werden.

Eine Kombination von Desmopressin mit Tranexamsäure ist sinnvoll, insbesondere bei Schleimhautblutungen oder Eingriffen an Schleimhäuten.

2.1.5 Antifibrinolytika (Tranexamsäure)

Bei PwH kann bei Blutungen und Eingriffen an den Schleimhäuten adjuvant ein Antifibrinolytikum (Tranexamsäure) verabreicht werden. Antifibrinolytika hemmen die Aktivierung von Plasminogen zu Plasmin und sind besonders effektiv bei Schleimhautblutungen wie z. B. Epistaxis oder Menorrhagie. Die Anwendung von Tranexamsäure alleine hat jedoch keinen präventiven Effekt bezüglich Gelenkblutungen [2, 25].

Tranexamsäure kann intravenös (10–15 mg/kg i.v. 3–4 × tgl.), per os (20–25 mg/kg p.o. 3–4 × tgl.) oder lokal verabreicht werden (Tab. 5). Eine intravenöse Verabreichung sollte langsam erfolgen, um Blutdruckabfall und Schwindel vorzubeugen [2]. Eine Dosisreduktion ist bei eingeschränkter Nierenfunktion notwendig.

Tab. 5 Verabreichung und Dosierung von Tranexamsäure

Besonders nützlich ist Tranexamsäure bei zahnärztlichen Eingriffen, sie kann auch zur Stillung von Blutungen rund um den Zahnwechsel verwendet werden ([26, 27]; siehe auch Kap. 9). Bei Blutungen im Mundschleimhautbereich ist die lokale Anwendung der intravenösen Präparation in einer der oralen Dosis äquivalenten Menge möglich. Die Lösung kann zur Mundspülung bzw. zum Gurgeln verwendet und anschließend geschluckt werden, womit noch eine systemische Wirkung erzielt wird. Die Therapiedauer beträgt bis zu 10–14 Tage.

Tranexamsäure kann in Kombination mit Faktorkonzentrat oder DDAVP wie auch mit aktiviertem Prothrombinkomplex-Konzentrat oder rFVIIa verabreicht werden [28].

Bei Hämaturie sind Antifibrinolytika aufgrund der Gefahr der Bildung von abflussbehindernden Blutgerinnseln in der Blase mit Vorsicht einzusetzen.

Empfehlungen zu adjuvanten medikamentösen Therapien

  • Desmopressin ist eine wirksame Alternative bei leichter, ev. mittelschwerer Hämophilie A, VWD und Konduktorinnen der Hämophilie A mit verminderten FVIII-Spiegeln bei Blutungen und invasiven Eingriffen.

  • Bei allen PwH soll bei Schleimhautblutungen und Zahnextraktionen adjuvant ein Fibrinolysehemmer (Tranexamsäure) verabreicht werden.

2.1.6 Unspezifische Maßnahmen und Lokaltherapeutika (Haemostyptika)

Als erste lokale Maßnahme bei äußeren Blutungen sollten Kompression und Druckverband angewandt werden (siehe Tab. 6). Bei stark blutenden Verletzungen können lokale Hämostyptika die Behandlung sinnvoll ergänzen. Mit Kaolin, Thrombin oder Tranexamsäure getränkte Wundauflagen führen im Vergleich zu Standardverbänden zu einer rascheren Blutstillung. Notfalls ist eine chirurgische Blutstillung mit oder ohne Anwendung von Fibrinkleber indiziert.

Tab. 6 Weitere Maßnahmen bei Blutungen. (Quelle: Autoren)

Bei starkem Blutverlust kann auch die Transfusion von Erythrozytenkonzentrat erforderlich sein. Die Indikation zur Transfusion soll für jede PwH individuell auf Basis des klinischen Gesamtbildes und der jeweils aktuellen Transfusionsempfehlungen erfolgen.

2.2. Therapieformen

2.2.1 Prophylaxe

Unter Prophylaxe bei Hämophilie ist die regelmäßige Substitution des fehlenden oder verminderten Blutgerinnungsfaktors oder einer Non-Faktor-Therapie zu verstehen, um Blutungen zu verhindern.

Die Prophylaxe stellt den Goldstandard und die erste Wahl für alle Personen mit schwerer Hämophilie A und B sowie für Personen mit moderater Hämophilie aber schwerem klinischen Phänotyp dar [2, 29]. Über die WFH Guidelines hinaus wird für PwH in Österreich eine Prophylaxe in jedem Alter (primär, sekundär oder tertiär) und zu jeder Zeit empfohlen (Tab. 7).

Tab. 7 Definition der Prophylaxe bei Hämophilie

Für Kinder ist primäre Prophylaxe die erste Wahl, d. h. idealerweise vor dem Auftreten eines ersten Gelenkblutungsereignisses. Je früher die Prophylaxe begonnen wird, desto effektiver lässt sich das Risiko für das Auftreten von Gelenkblutungen und ihren Folgen verringern (siehe Kap. 6). Bei Kindern wird bei Prophylaxe mit einem Faktorkonzentrat aus Gründen der praktischen Machbarkeit mit einer 1 × wöchentlichen Gabe gestartet und dann schrittweise zur vollen Prophylaxe mit mehrmals wöchentlichen Gaben gesteigert.

Zur Optimierung sollte die Prophylaxe auf die individuelle PwH zugeschnitten werden [2, 30] (Tab. 8). Die Anpassung von Dosis und Injektionsintervall soll abhängig gemacht werden von

  • Alter und Gewicht

  • Blutungshäufigkeit

  • Lebensstil bzw. körperlicher Aktivität

  • bestehender Synovitis bzw. Arthropathie

  • individueller Pharmakokinetik

  • Halbwertszeit des Faktorproduktes (SHL od. EHL).

Tab. 8 Standard-Dosierungen für die Prophylaxe (laut Fachinformationen)

Traditionell wurden für eine Prophylaxe Faktor-Talspiegel ≥ 1 % angestrebt, was das Auftreten von Spontanblutungen signifikant verringert und insgesamt zu weniger Blutungen in Gelenke und Muskeln führt als bei Talspiegeln unter 1 % [31]. Idealerweise sollten höhere Talspiegel (≥ 3–5 %) angestrebt werden, da damit ein noch geringeres Blutungsrisiko besteht und Langzeitschäden an den Gelenken besser vermieden werden können [2]. Im klinischen Alltag werden diese höheren Zielspiegel jedoch nicht in allen Situationen erreichbar sein.

Die Wirksamkeit der Prophylaxe soll anhand der Blutungshäufigkeit regelmäßig überprüft werden. Treten trotz Prophylaxe weiterhin Blutungen auf, soll das Prophylaxe-Regime in Dosis und/oder Frequenz eskaliert werden.

Emicizumab stellt eine Alternative zu FVIII-Konzentraten für die Prophylaxe dar. Wirksamkeit und Sicherheit sind für Personen mit Hämophilie A aller Altersgruppen ohne und mit Inhibitoren gut etabliert. Im Säuglings- und Kleinkindesalter kann die subkutane Verabreichung gegenüber einem venösen Zugang einen besonderen Vorteil darstellen.

2.2.2 Bedarfsbehandlung (On-Demand-Therapie)

Darunter versteht man die Substitution von Faktorkonzentraten im Fall akuter Blutungen. In Österreich erhalten meist nur Personen mit leichter Hämophilie oder mit mildem Phänotyp eine On-Demand-Therapie. Bei Personen mit schwerer Hämophilie soll eine Bedarfstherapie nur noch zur Behandlung von Durchbruchsblutungen unter Prophylaxe stattfinden.

Eine On-Demand-Therapie soll so rasch wie möglich erfolgen, d. h. schon bei den ersten Anzeichen oder Verdacht auf eine Blutung begonnen und dann alle 8–12 bzw. 24 h weiter gegeben werden. Eine relevante Gelenkblutung mit nachgewiesenem Erguss sollte konsequent über mehrere Tage behandelt werden.

Eine Bedarfstherapie ist mit allen Faktorkonzentraten möglich (Dosis und Dosisintervall lt. Tab. 3). Für EHL gelten grundsätzlich die dort angegebenen Spitzen- und Talspiegel. Die Intervalle der Verabreichung können anhand der HWZ des Produktes angepasst werden.

Bei regulärer Prophylaxe mit Emicizumab muss für die Behandlung von etwaigen spontanen oder traumatischen Blutungen ein FVIII-Konzentrat bereitstehen.

Zur Bedarfstherapie mit Desmopressin siehe oben.

2.2.3 Heimtherapie

Mittelfristig muss das Ziel sein, dass PwH bzw. ihre Betreuungspersonen die Prophylaxe und On-Demand-Therapie selbständig durchführen. Dies ist im Sinne einer alltagsgerechten und im Bedarfsfall möglichst schnellen Behandlung.

Die praktische Organisation und Durchführung der Heimtherapie soll an die individuellen Gegebenheiten der PwH und des sozialen Umfelds (Eltern, Familie, Betreuungspersonen) angepasst werden. Dies kann initial durch den Einsatz mobiler Krankenschwestern und im Weiteren durch die Information und Schulung der Eltern, später der betroffenen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen erreicht werden. Niedergelassene Allgemeinmediziner, Kinderfachärzte und periphere Kinderabteilungen können ebenfalls in die Verabreichung und Schulung involviert werden.

Empfehlungen Therapieformen

  • Für Personen (Kinder und Erwachsene) mit Hämophilie A oder B mit schwerem Phänotyp wird eine Prophylaxe zur Vorbeugung von Blutungen, insbesondere Gelenkblutungen, empfohlen.

  • Bei Kindern sollte eine primäre Prophylaxe, d. h. vor dem Auftreten einer ersten Gelenkblutung, begonnen werden.

  • Auch die sekundäre und tertiäre Prophylaxe, d. h. nachdem bereits Blutungen bzw. Gelenkschäden aufgetreten sind, wird empfohlen.

  • Im Blutungsfall sollen PwH aller Schweregrade ehest möglich die für die Art der Blutung geeignete On-Demand-Therapie erhalten, d. h. schon bei den ersten Anzeichen einer Blutung und bis zum Blutungsstillstand.

  • Blutungen unter einer Prophylaxe mit Emicizumab erfordern eine Behandlung mit einem FVIII-Konzentrat oder, bei Vorhandensein eines Inhibitors, mit Bypassing Präparaten.

  • Ziel für jede PwH sollte die Heimtherapie sein, d. h. die Prophylaxe und On-Demand-Therapie durch die PwH selbst oder ihre Betreuungspersonen.

3. Begleitende Therapieoptionen

3.1 Physikalische Medizin

Bei PwH ist unter entsprechender Prophylaxe generell eine regelmäßige körperliche Aktivität zum Erhalt bzw. Aufbau der Knochendichte, zur Verbesserung der motorischen Grundeigenschaften Kraft, Koordination, Ausdauer, Funktion und Flexibilität und zum Erhalt eines gesunden Körpergewichts empfohlen [2]. Die geeignete Aktivität/Sportart und der Trainingsumfang sollten individuell je nach Schweregrad der Erkrankung, Gerinnungstherapie, vorliegenden Gelenkschäden und Trainingszustand gewählt werden, gemeinsam mit muskuloskelettalen Spezialisten, die Erfahrung mit Hämophilie haben. Kontaktsportarten sollten gemieden bzw. nur unter angemessenen Vorsichtsmaßnahmen ausgeübt werden [2].

Die unten beschriebenen physikalischen Maßnahmen ergänzen die Gerinnungstherapie, die medikamentöse analgetische bzw. antiinflammatorische Therapie und das durch die Orthopädie vorgegebene Prozedere im Management muskuloskelettaler Komplikationen.

3.1.1 Akute Gelenkblutung

Bei einer akuten Gelenkblutung ist eine Behandlung nach dem RICE („Rest, Ice, Compression, Elevation“) bzw. POLICE-Schema („Protection, Optimum Loading, Ice, Compression, Elevation“) empfohlen. Nach Blutungen, die Gelenke der unteren Extremität betreffen, ist eine initiale Entlastung des Beins und ein Belastungsaufbau unter Supervision durch einen muskuloskelettalen Spezialisten, der sich an Funktion, Bewegungsumfang, Schmerz und entzündlichen Symptomen orientiert, empfohlen [2].

Physiotherapie sollte unter entsprechendem Gerinnungsschutz beginnen, sobald die Schmerzen abgeklungen sind. Ziel ist eine Wiederherstellung der Gelenkfunktion. Eine Kälteapplikation wird initial für 15–20 min ohne direkten Hautkontakt empfohlen.

3.1.2 Akute/chronische Synovitis

Bei einer akuten Synovitis ist neben der Intensivierung der Gerinnungstherapie bzw. Prophylaxe von physikalischer Seite ergänzend zu den weiteren Maßnahmen (antiinflammatorische/analgetische Therapie, ggf. orthopädisches Prozedere) eine Ruhigstellung des betroffenen Gelenks empfohlen [32]. Bei akuter und chronischer Synovitis ist eine begleitende Physiotherapie indiziert. Nach einer Blutung mit nachfolgender Synovitis ist eine frühe funktionelle Physiotherapie zur Besserung von Bewegungsumfang, Koordination/Propriozeption und Kraft im geschlossenen System wichtig, um Folgeerscheinungen wie Muskelverkürzung/Schwäche, Schmerz und Bewegungseinschränkung zu minimieren. Auch Ergotherapie mit Training der Alltagsaktivitäten und eine manuelle Behandlung zur Verbesserung des Bewegungsumfangs sind förderlich.

Weiters können physikalische Modalitäten mit analgetischem und/oder resorptionsförderndem Effekt, wie Lymphdrainage, Elektrotherapie, Ultraschall- (gepulst, Phonophorese), Laser- und Magnetfeld-Therapie angewendet werden. Auch Kälteapplikation kann, wenn als angenehm empfunden, sinnvoll sein. Falls nötig, werden Orthesen, Hilfsmittel oder Einlagen verordnet.

3.1.3 Hämophile Arthropathie

Vorrangig empfohlen ist eine Physiotherapie/Bewegungstherapie mit dem Schwerpunkt auf eine Verbesserung der Kraft, Koordination/Propriozeption, Flexibilität und Funktion unter ausreichendem Gerinnungsschutz. Die Unterwassertherapie ist besonders bei stärkeren Schmerzen eine gute Therapieoption [33]. Auch manuelle Therapie und Elektrotherapie sind empfohlen [2]. Insbesondere bei Kindern können Laser- oder Magnetfeldtherapie eingesetzt werden, um arthropathiebedingte Schmerzen zu lindern und die Funktion zu verbessern [34]. Im Bedarfsfall sollten entsprechende Einlagen, Orthesen oder Hilfsmittel verordnet werden.

3.2 Orthopädie

3.2.1 Konservativ

  • Punktion: Bei ausgedehnten und noch frischen Gelenkblutungen, noch bevor der Gerinnungsprozess vollständig eingesetzt hat. Vor der Punktion ist eine entsprechende Faktorsubstitution erforderlich, um Nachblutungen vorzubeugen.

  • Physiotherapie

  • Radiosynoviorthese: Infiltration radioaktiver Isotopen ins betroffene Gelenk bei Synovitis mit rezidivierenden Blutungen.

3.2.2 Operativ

  • Bei Synovitis und erfolgloser Radiosynoviorthese kann, wenn noch keine fortgeschrittene Arthrose vorliegt, eine arthroskopische Synovektomie in Erwägung gezogen werden.

  • Eine Gelenkversteifung (Arthrodese) kommt vor allem für das obere Sprunggelenk in Frage.

  • Ein künstlicher Gelenkersatz kann an Knie und Ellbogen, seltener an der Hüfte durchgeführt werden. Für das obere Sprunggelenk zeigt die Arthrodese bessere Langzeitergebnisse.

3.3 Schmerztherapie

Akute und chronische Schmerzen sind bei der Hämophilie häufig. Die wichtigste Schmerzprävention ist eine konsequente Faktorprophylaxe. Dennoch benötigen einige PwH abhängig von Schmerzursache, Intensität und Ausmaß der Arthropathie eine zusätzliche adäquate Schmerztherapie. Voraussetzung einer strukturierten und angepassten Schmerztherapie ist die altersadäquate Schmerzmessung [33, 34].

3.3.1 Interventionsbezogene Schmerzen

Schmerzen und Traumatisierung durch i.v.-Faktorgaben und Blutabnahmen spielen insbesondere bei Kindern eine erhebliche Rolle. Zur Schmerzreduktion eignen sich topische Analgetika, wie z. B. Lidocain-Creme 2,5 % (bis 3. Lebensmonat max. 1 g), die für mindestens 30–45 min einwirken soll [35]. Darüber hinaus erleichtern Psychoedukation und psychologische Interventionen (gute Aufklärung und Erläuterung, Entspannungstechniken, Hypnose etc.) den Umgang mit Schmerzen.

3.3.2 Schmerzen bei Gelenk- und Muskelblutungen

Akute Blutungen verursachen Schmerzen aufgrund von Schwellungen, Bewegungseinschränkung sowie Muskelverspannungen. Im Vordergrund stehen zügige Faktorsubstitution und initiale Ruhigstellung (siehe auch Abschn. 3.1). Kühlung mittels Eisbeuteln wird subjektiv als angenehm empfunden und soll nach individuellem Nutzen durchgeführt werden. Für die akute Blutung ist selten eine medikamentöse Schmerztherapie notwendig.

3.3.3 Chronische hämophile Arthropathie

Schmerzen entstehen durch chronische Synovitis, Bewegungseinschränkung, Muskelverspannung, Atrophie oder Fehlbelastung, oft gefolgt von Gelenkfehlstellung und -versteifung. Die Therapie umfasst funktionelles Training (siehe auch Abschn. 3.1) und adäquate Analgesie (siehe Tab. 9). Rezidivierende Schmerzen mit unzureichender Therapie bergen ein hohes Risiko für eine Senkung der Schmerzschwelle mit Chronifizierung auch schon im Kindesalter [34]. PwH mit persistierenden Schmerzen sollten in Zusammenarbeit mit Schmerztherapeuten behandelt werden.

Tab. 9 Analgetisches Stufenschema für PwH. (Nach [2])

3.3.4 Analgetika

Die Schmerzbehandlung soll in einer stufenweisen Strategie erfolgen (siehe Tab. 9).

Für die Schmerzbehandlung geeignete Wirkstoffe sind in Tab. 10 aufgelistet.

Tab. 10 Wirkstoffe für die Schmerzbehandlung bei PwH

Empfehlungen Schmerztherapie

  • Gelenkblutungen müssen primär mit Faktorsubstitution und Ruhigstellung, gegebenenfalls auch mit Schmerztherapie behandelt werden.

  • Schmerzen sollten rechtzeitig beachtet und altersgerecht evaluiert werden.

  • Zur Vermeidung einer Schmerzchronifizierung muss bei langwierigen Gelenkproblemen eine adäquate Schmerztherapie nach Stufenschema (Tab. 9) erfolgen.

  • Medikamente mit Thrombozytenaggregations-hemmenden Eigenschaften (NSAR) sollten nur für begrenzte Zeit und unter ausreichender Faktorgabe verabreicht werden.

  • Ggf. sollten spezialisierte Schmerztherapeuten mit einbezogen werden.

4. Messung von Outcomes

Folgende Aspekte des Gesundheitszustandes der PwH sollten Beachtung finden und in enger Zusammenarbeit aller Fachdisziplinen (Hämatologie, Pflege, Physikalische Medizin/Physiotherapie, Orthopädie, Psychologie und Sozialarbeit) erfasst werden.

4.1 Blutungsfrequenz

Blutungen und ihre Behandlung sollen von den PwH bzw. ihren Betreuungspersonen möglichst in Echtzeit dokumentiert und mindestens 1 × jährlich gemeinsam mit den behandelnden Ärzten analysiert werden [2]. Die Dokumentation sollte als Tagebuch entweder in Papierform oder als elektronisches Patiententagebuch (z. B. Haemoassist®) durchgeführt werden. Bei letzterem besteht auch die Möglichkeit des Datentransfers in das Österreichische Hämophilie-Register.

4.2 Muskuloskelettale Evaluierung (Bewegungsapparat)

Der muskuloskelettale Zustand von PwH sollte zumindest 1 × jährlich bewertet werden [2]. Entsprechend der ICF Classification der WHO sollte das Outcome Measurement folgende Aspekte berücksichtigen und beinhalten:

Gelenkstruktur und Funktion: Eine regelmäßige Erhebung des Gelenksscores ist für PwH von großem Nutzen. Am verbreitetsten ist sowohl für Kinder als auch für Erwachsene die Bestimmung mittels HJHS (Haemophilia Joint Health Score). Frühe strukturelle Gelenkveränderungen, wie z. B. synoviale Hypertrophie oder Knorpelschäden als frühe Hinweise auf eine Synovitis, werden am besten über Ultraschall oder MRI erfasst, späte osteochondrale Veränderungen sind mittels Röntgen darstellbar.

Scores zur Evaluierung können von der WFH-Website (www.wfh.org) heruntergeladen werden [36].

4.3 Patienten-zentrierte Evaluation (Patient-Reported Outcomes, PROs)

Schmerz: Zur Einschätzung der Schmerzsituation von PwH stehen zur Verfügung:

  • Eindimensional: NRS (Numerische Rating-Skala) oder VAS (Visuelle Analogskala) wie die Wong-Baker FACES Scale

  • Multidimensional: BPI (Brief Pain Inventory v2), McGill Pain Questionnaire

  • Krankheitsspezifisch: MHPQ (Multidimensional Haemophilia Pain Questionnaire)

  • Subskalen der Lebensqualitätsfragebögen (s. unten) bzw. Schmerzerfassung im Rahmen der Gelenkscore-Erhebung (HJHS/Gilbert Gelenkscore)

Aktivität und Beteiligung: Die Bewertung erfolgt mittels Fragebögen wie HAL (Haemophilia Activities List), pedHAL oder FISH (Functional Independence Score in Haemophilia) oder IPAQ (International Physical Activity Questionnaire). Die Wahl ist auch von der Eignung für die jeweilige Person abhängig.

Lebensqualität: Die direkte Perspektive der PwH bzgl. Health-related Quality of Life, Gesundheitszustand, Adhärenz und Zufriedenheit mit der Behandlung sollen in die Bewertung einfließen [37]. Als Tools stehen zur Verfügung:

EQ-5D-5L, Short Form 36 Health Survey v2 (SF-36v2), Patient-Reported Outcomes Measurement Information System (PROMIS) sowie zur Bewertung der Hämophilie-spezifischen Lebensqualität CHO-KLAT, HAEMO-QoL‑A und Patient Reported Outcomes, Burdens and Experiences (PROBE) [38, 39]. Der PROBE Fragebogen, der hier speziell empfohlen wird, kann über das österreichische Hämophilie-Register angewandt werden, wofür eine eigene Einverständniserklärung nötig ist.

Viele dieser Scores sind in der Routine kaum regelmäßig erhebbar, sondern stellen standardisierte Messinstrumente dar, die im Rahmen von klinischen Studien (insbesondere Therapieevaluationen) eingesetzt werden.

Empfehlungen Messung von Outcomes

  • Eine Bewertung des Gesundheitszustandes der PwH sollte mindestens 1 × jährlich, in Abhängigkeit vom Schweregrad der Hämophilie und klinischer Komplikationen erfolgen.

  • Die Bewertung sollte Blutungsfrequenz und Gelenkgesundheit einschließen.

  • Relevante Patient Reported Outcomes sind Schmerz, körperliche Aktivität und Lebensqualität.

5. Spezielle Aspekte der Prophylaxe und Therapie bei Kindern mit schwerer Hämophilie

5.1 Therapieinitiierung in den ersten Lebensjahren

Hinweis: Diagnostik und Therapie beim Neugeborenen mit Hämophilie werden in Kap. 11 behandelt.

Die Therapieinitiierung bei Säuglingen/Kleinkindern (PUPs) stellt eine besondere Herausforderung dar. Nach einer Phase relativer Beschwerdefreiheit in den ersten Lebensmonaten treten mit erhöhter Mobilität des Kindes im zweiten Lebenshalbjahr vermehrt Blutungen auf.

Idealerweise sollte die Initiierung einer Prophylaxe vor jeglicher Gelenkblutung und spätestens bis zum Alter von 2 Jahren erfolgen [40]. Der zeitgerechte Beginn einer Prophylaxe führt zu weniger Gelenkblutungen, weniger konsekutiven Arthropathien und zu einer deutlich höheren Lebensqualität [41].

In der Praxis wird die Prophylaxe meist mit Auftreten vermehrter Hämatome oder einer ersten klinisch relevanten Blutung begonnen, in Österreich üblicherweise im Alter von 6–18 Monaten.

Hindernisse für die Etablierung einer regelmäßigen Prophylaxe können ein schwieriger Venenzugang, organisatorische Herausforderungen oder die (initial) fehlende Akzeptanz durch die Familie sein. Daher erfordert die initiale Prophylaxe eine enge Zusammenarbeit mit den Eltern, anderen medizinischen Betreuern und eventuell die Anlage eines speziellen Venenzugangs (siehe unten). Ein einschleichender Beginn der Prophylaxe mit einmal wöchentlicher Gabe von Faktorkonzentrat hilft oft, die schwierige initiale Behandlungsphase zu überwinden, stellt jedoch noch keine ausreichende Prophylaxe dar und muss so bald wie möglich gesteigert werden. Die Hoffnung, dass ein solches niedrigdosiertes Regime auch das Risiko einer Hemmkörperentwicklung reduziert, hat sich nicht bestätigt [42, 43].

Das Alter bei Prophylaxebeginn dürfte das Hemmkörperrisiko ebenfalls nicht beeinflussen [44].

Sowohl aus Plasma hergestellte als auch rekombinante Faktorkonzentrate sind für die Therapieinitiierung geeignet. Bei der Hämophilie B erlauben EHL bereits bei einem Intervall von 1 ×/Woche einen ausreichenden Prophylaxeschutz, während der Vorteil von bislang verfügbaren FVIII-EHL für die Initiierung der Prophylaxe bei Hämophilie A begrenzt ist.

Als Alternative steht Emicizumab für die Prophylaxe auch schon beim Kleinkind zur Verfügung [45]. Die subkutane Verabreichung ist gerade für Kleinkinder sehr attraktiv. Eine Emicizumab-Prophylaxe bei Säuglingen und Kleinkindern soll bevorzugt im Rahmen von Studien bzw. Registern erfolgen, um noch mehr systematische Daten zu sammeln [46].

Unter Prophylaxe ist die Freiheit von schweren Blutungen anzustreben. Wenn unter ausreichender Prophylaxe spontan Gelenkblutungen auftreten, so muss zuerst an das Auftreten eines Hemmkörpers gegen den verabreichten Faktor gedacht werden. Bei negativem Hemmkörpertest ist nach Machbarkeit eine Steigerung der Häufigkeit und/oder der Dosis vorzunehmen.

Die Entwicklung von Hemmkörpern (neutralisierender Alloantikörper) ist die schwerste Komplikation der Behandlung mit Faktorkonzentraten (siehe auch Kap. 10). Das Risiko der Entwicklung eines Hemmkörpers wird ganz wesentlich vom zugrundeliegenden genetischen Defekt bestimmt und beträgt bei schwerer Hämophilie A 20 bis 40 %, bei schwerer Hämophilie B bis 10 %. Das höchste Risiko für eine Hemmkörperentstehung liegt in den ersten 20–50 Behandlungstagen und ist danach sehr gering. Daher soll innerhalb der ersten 50 Behandlungstage alle 5–10 Behandlungstage routinemäßig eine Hemmkörperbestimmung erfolgen. Ob unter Prophylaxe mit Emicizumab die intermittierende Gabe von FVIII bei Blutungsbehandlungen in späterem Alter das Risiko einer Hemmkörperentwicklung positiv oder negativ beeinflusst, ist derzeit unbekannt. Manche Behandler streben eine initiale Prophylaxe mit FVIII-Konzentrat bis zumindest dem 20. Expositionstag an, bevor sie mit einer Emicizumab-Prophylaxe beginnen.

Für PwH besteht bei intramuskulären Impfungen ein erhöhtes Risiko für Muskelblutungen. Grundsätzlich wird daher empfohlen, Impfungen bei PwH subkutan zu verabreichen. Für einige Impfstoffe, wie z. B. Diphterie, Tetanus, Haemophilus influenzae und Hepatitis B gibt es Daten über eine vergleichbare Impfantwort nach subkutaner und intramuskulärer Impfung [47]. Auf Basis bisher vorhandener Daten kann davon ausgegangen, dass auch bei den meisten anderen Impfungen eine subkutane Gabe zu vergleichbaren Impfantworten führt [48]. Impfstoffe, für die entweder keine Daten zur Wirksamkeit bei subkutaner Gabe verfügbar sind oder für die eine intramuskuläre Gabe explizit empfohlen wird (z. B. Covid-19 mRNA-Impfstoffe, Impfstoffe gegen Influenza, Humanes Papillomavirus, Meningokokken, Tollwut) sollen intramuskulär verabreicht werden und innerhalb von 24 h davor eine prophylaktische Faktorgabe erfolgen [49,50,51].

Die vielfältigen Aufgaben in der Betreuung von Kindern mit Hämophilie von der Aufklärung der Eltern bis zum Angebot psychotherapeutischer Unterstützung sind in Tab. 11 aufgelistet.

Tab. 11 Aufgaben bei der Betreuung von Kindern mit Hämophilie. (Quelle: Autoren)

Empfehlungen zur Therapieinitiierung bei Kindern

  • Es wird eine primäre Prophylaxe zur Prävention von Gelenkblutungen und einer hämophilen Arthropathie empfohlen.

  • Die prophylaktische Behandlung soll individualisiert werden. Der Prophylaxebeginn erfordert eine enge Zusammenarbeit mit Eltern und medizinischen Betreuern.

  • Sowohl aus Plasma hergestellte als auch rekombinante Faktorkonzentrate sind geeignet. EHL-Konzentrate erlauben bei Hämophilie B Dosierungsintervalle von bis zu > 1 Woche.

  • Emicizumab stellt aufgrund der subkutanen Verabreichung eine attraktive Alternative für die Prophylaxe bei Hämophilie A dar.

  • Bis zum 50. Behandlungstag mit Faktorkonzentrat soll alle 5–10 Behandlungstage routinemäßig eine Hemmkörperkontrolle erfolgen.

5.2 Venöser Zugang

Der Zugang über eine periphere Vene ist auch bei Kleinkindern immer die erste Wahl, da er keinen chirurgischen Eingriff erfordert und die niedrigste Komplikationsrate aufweist. Durch neue Therapieansätze wie EHL und NFT können operative Gefäßzugänge heute öfter vermieden werden. Wenn dies nicht möglich ist, bestehen zwei Optionen:

  1. 1.

    Port-a-cath-System [52]: Hier handelt es sich um die operative Implantation einer subkutanen Kammer mit einer durch die Haut anstechbaren Membran, die Anschluss an das zentrale Venensystem hat. Port-a-caths werden zumeist am Thorax über dem Musculus pectoralis fixiert, der ein gutes Widerlager darstellt.

    Vorteil: Sofort für Faktorgaben verwendbar.

    Nachteile bzw. mögliche Komplikationen: Infektion, tiefe Venenthrombose, mechanische Dysfunktion (Okklusion, Membrandefekt, Diskonnektion), Dislokation, Hautnekrose.

  2. 2.

    Arteriovenöser Shunt [53]: Hier handelt es sich um eine chirurgisch hergestellte Anastomose zwischen einer Arterie und einer oberflächlichen Vene an der oberen Extremität (Gracz-Shunt: A. brachialis und Unterarmvene [V. cephalica, V. basilica, V. mediana cubiti oder V. perforans]; Brescia-Cimino-Shunt: A. radialis und V. Cephalica).

    Vorteile: Leichte Punktierbarkeit nach Venenstauung analog zu peripherer Venenpunktion; Komplikationsrate geringer als bei Port-a-cath.

    Nachteile bzw. mögliche Komplikationen: erst nach „Reifen“ des Shunts verwendbar (ca. 1–3 Wochen nach OP); Okklusion, Thrombophlebitis, Schwellung des operierten Arms, Verletzungsrisiko, vermindertes Armwachstum.

Es liegen keine direkt vergleichenden Studien zwischen Port-a-cath-System und arteriovenösem Shunt vor. Beide Optionen können je nach Situation der PwH empfohlen werden. Die Eltern/PwH sollten über beide Möglichkeiten informiert werden, um eine gemeinsame Entscheidung mit den Betreuern zu treffen.

Empfehlungen venöse Zugänge

  • Erste Wahl ist der periphere venöse Zugang.

  • Ist dies nicht möglich, so stehen ein Port-a-cath-System oder ein arteriovenöser Shunt als Alternativen zur Verfügung, wobei zwischen diesen beiden Möglichkeiten je nach Situation der PwH entschieden werden soll.

5.3 Transition

Die Anpassung der Betreuung von PwH an die unterschiedlichen Lebensabschnitte (Säuglingsalter/Kleinkind, Kindergarten, Schule, Sport, Pubertät, Selbstständigkeit, Beruf etc.) stellt eine kontinuierliche Transition dar. Sind schon Übergänge von verschiedenen Therapiestrategien (Umstellung auf neue Medikamente, Wechsel von s.c. auf i.v. Therapie oder vice versa) nicht immer einfach, so stellt der Übergang von der pädiatrischen Betreuung in jene durch Erwachsenenmediziner die PwH, Eltern und Behandler oftmals vor beträchtliche Anforderungen.

Insbesondere muss in diesen Übergangszeiten auf eine Erhaltung der Adhärenz bzgl. der Prophylaxe bei Jugendlichen (13–17 Jahre) und jungen Erwachsenen (18–30 Jahre) geachtet werden [54, 55].

Oft liegen aufgrund der guten Behandlungsmöglichkeiten in der Kindheit keine Begleiterkrankungen und nur geringe Symptome vor, was zu einer fehlenden Wahrnehmung bzw. Unterschätzung der Erkrankung führen kann. Kontinuierliche altersentsprechende Auffrischung und Erweiterung des Wissens über die Krankheit Hämophilie, ihre Gefahren u. a. für Gelenke und die Vorteile der Prophylaxe sind von großer Wichtigkeit. Inadäquates Erlernen des Selbstmanagements beim Wechsel von der pädiatrischen zur erwachsenenmedizinischen Betreuung kann ebenso Adhärenzprobleme begünstigen wie die Angst vor Ausgrenzung (Teilnahme an sportlichen/sozialen Ereignissen) bzw. der Wunsch nach „Normalität“ oder Unabhängigkeit als junger Erwachsener.

Beim problemlosen, optimalen Übergang von der pädiatrischen zur Erwachsenenbetreuung von PwH ist eine gute Zusammenarbeit zwischen den pädiatrischen und Erwachsenen-Behandlungszentren von eminenter Bedeutung. Wesentlich im Vorfeld der Übergabe der PwH sind:

  • Aufklärung über die Erkrankung und ihre Komplikationen, psychosoziale Aspekte.

  • Training technischer Fähigkeiten zur Selbstinjektion von i.v. und s.c. Gaben, je nach Therapieregime.

  • Erstellung eines Transitionsplans und schriftliche Weitergabe der Informationen vom Pädiater an den Erwachsenen-Hämophilie-Behandler: u. a. Art der Hämophilie, Schweregrad, Familienanamnese, Ergebnisse der genetischen Untersuchung, Blutgruppe, Vorgeschichte von Inhibitoren, von schweren Blutungen während Kindheit und Jugend, Operationen, Krankenhausaufenthalten und sonstigen Erkrankungen, Gelenkzustand, Therapieart im Kindes- und Jugendalter, derzeitige Therapie, Informationen über Adhärenz und sozialmedizinische Aspekte, Information über Einträge ins Hämophilie-Register und die Blutungs- und Therapiedokumentation.

  • Sicherstellung der Faktor/NFT-Bereitstellung bis zur Erstvorstellung am Erwachsenen-Hämophilie-Zentrum.

  • Individuelle, persönliche Übergabe der PwH im Rahmen eines gemeinsamen Gespräches zwischen den Behandlungszentren und PwH/Eltern.

Die Transitionsphase aus Perspektive der Erwachsenen-Hämophilie-Behandler:

  • Einschätzung der Adhärenz zwischen letzter Kontrolle an der Pädiatrie bis zur Vorstellung am Erwachsenen-Hämophilie-Zentrum,

  • Re-Evaluation der Blutungsrate,

  • Einschätzung der Selbstinjektionen und Anpassung der Therapie,

  • Einschätzung des Wissens über Hämophilie,

  • Zufriedenheit von PwH und Arzt sowie

  • Anzahl der Krankenhausaufenthalte.

Empfehlungen Transition

  • Erlernen des Selbstmanagements als Kinder und Jugendliche.

  • Erstellung eines Transitionsplans und schriftliche Weitergabe der Informationen vom Pädiater an den Erwachsenen-Hämophilie-Behandler.

  • Einmalige Transitionsteam-Besprechung im Beisein der PwH/Eltern, Behandler der Pädiatrie und Erwachsenenbehandler.

  • Zusätzlich zu den persönlichen Gesprächen in der Ambulanz eignet sich die Teilnahme an Hämophilie-Sommercamps für die Vorbereitung der Transition.

6. Spezielle Aspekte der Therapie und Prophylaxe bei Erwachsenen mit schwerer Hämophilie

6.1 Empfehlung für Fortsetzung der Prophylaxe

Therapie und Prophylaxe bei Erwachsenen sind im Wesentlichen so zu handhaben wie bei Kindern und Jugendlichen. Laut WFH wird eine Fortführung der primären prophylaktischen Verabreichung von Faktorkonzentraten bzw. die Einleitung einer sekundären Prophylaxe bei Hämophilie auch für Erwachsene empfohlen, weil der Schweregrad der Hämophilie auch im Erwachsenenalter fortbesteht, das Risiko spontan auftretender und traumatischer Blutungen bestehen bleibt und die aus der Prophylaxe resultierenden Vorteile in allen Altersgruppen vorhanden sind [2]. Eine sekundäre oder tertiäre Prophylaxe kann zwar die hämophile Arthropathie nicht verhindern, aber ihren Schweregrad vermindern [56,57,58].

Alternativ zu Faktorkonzentraten kann eine Blutungsprophylaxe mit Emicizumab durchgeführt werden. Besonders zu empfehlen ist dies für PwH, die trotz Prophylaxe wiederholt Gelenkblutungen oder andere klinisch relevante Blutungen haben, oder PwH, die mit der i.v. Injektion nicht zurechtkommen.

Bei manchen Erwachsenen mit schwerer Hämophilie und hämophiler Arthropathie wird auf Wunsch der PwH noch eine Therapie bei Bedarf durchgeführt. Bei diesen Personen kann in besonderen Situationen, z. B. nach orthopädischen Eingriffen oder nach schweren oder immer wiederkehrenden Blutungen in ein Gelenk, eine zeitlich begrenzte Prophylaxe (über Wochen oder Monate) in der Zeit der Rehabilitation, oft verbunden mit Physiotherapie, eine gute Alternative zu einer reinen Bedarfstherapie oder einer langfristigen Prophylaxe sein.

Auf spezielle klinische Situationen, wie z. B. hochbetagte Personen oder PwH mit Komorbiditäten wie Vorhofflimmern oder st. p. koronarer Stentimplantation, wird hier nicht eingegangen, da gerade auf diesen Gebieten derzeit neue internationale Leitlinien erarbeitet werden.

6.2 Evidenz für Gelenkerhalt durch späte Prophylaxe

Eine späte Prophylaxe bei Personen mit schwerer Hämophilie führt im Vergleich zur On-Demand-Therapie zu weniger Blutungen, weniger Schmerzen und geringerem Ressourceneinsatz, besserer Gelenkgesundheit, Aktivität, Zufriedenheit und Lebensqualität. Auch bei gleicher Blutungsrate entwickelt sich der Gelenkstatus unter Prophylaxe günstiger als unter Bedarfstherapie. Eine konsequente Prophylaxe ist demnach für den Gelenkerhalt von großer Bedeutung, reduziert jedoch nicht die Progression bestehender struktureller Arthropathien, was für deren Irreversibilität spricht.

Empfehlungen Prophylaxe bei Erwachsenen mit schwerer Hämophilie

  • Für erwachsene Personen mit schwerer Hämophilie wird eine Blutungsprophylaxe mit Faktorkonzentrat oder Emicizumab routinemäßig empfohlen. Dies kann sowohl die Weiterführung einer schon in der Kindheit begonnenen Prophylaxe als auch die Wieder- oder Neueinführung einer Prophylaxe im Erwachsenenalter bei entsprechender Indikation (Blutungen) bedeuten.

7. Mittelschwere und leichte Hämophilie

Personen mit mittelschwerer Hämophilie und regelmäßigen Blutungen sollten wie Personen mit schwerer Hämophilie eine Prophylaxe erhalten. In allen anderen Fällen ist eine Therapie bei Bedarf indiziert. Dies kann mit SHL- oder EHL-Präparaten durchgeführt werden. Emicizumab ist grundsätzlich auch für mittelschwere Hämophilie A mit schwerem Blutungsphänotyp zugelassen und kann in besonderen Fällen in Betracht gezogen werden.

Personen mit (genetisch bestätigter) leichter Hämophilie A oder B können variable Faktorenspiegel zeigen. Zur Diagnose ist deshalb neben einer Untersuchung mittels verschiedener Tests (koagulometrische oder chromogene FVIII/FIX-Bestimmung, genetische Untersuchung) bei Verdacht auf Hämophilie A auch der Ausschluss einer VWD erforderlich. Bei Eingriffen, traumatischen Blutungen, Hämaturie und Epistaxis kann bei Hämophilie A als Alternative zur Steigerung der FVIII-Aktivität eine Therapie mit Desmopressin (siehe Abschn. 2.1.4) verwendet werden. Bei Hämophilie B ist Desmopressin nicht wirksam. Bei großen Operationen oder schweren Blutungen ist auch bei Personen mit leichter Hämophilie eine Substitution mit Faktorkonzentrat anzuwenden (Zielspiegel je nach Blutungsmuster, siehe Tab. 3).

5–10 % der Personen mit leichter oder moderater Hämophilie A entwickeln Inhibitoren, typischerweise im späteren Lebensalter und häufig nach intensiver FVIII-Exposition (z. B. im Rahmen von Operationen). Zur Wirksamkeit einer Immuntoleranz-Induktion (ITI) bei leichter oder moderater Hämophilie A wie auch bei Hämophilie B gibt es nur wenig Daten [59, 60].

Empfehlungen mittelschwere und leichte Hämophilie

  • Personen mit mittelschwerer Hämophilie und dem klinischen Bild einer schweren Form sollen eine Prophylaxe mit Faktorkonzentraten oder Emicizumab erhalten. Ansonsten erfolgt eine Behandlung bei Bedarf.

  • Für Personen mit mittelschwerer oder leichter Hämophilie A kommt als Alternative zu Faktorkonzentraten eine Therapie mit Desmopressin unter Beachtung der Kontraindikationen in Frage.

  • Bei schweren Blutungen oder großen Operationen ist besonders in den ersten Tagen eine Substitution mit Faktorkonzentraten in Erwägung zu ziehen.

  • Für Personen mit Hämophilie B werden ausschließlich FIX-Konzentrate zur Therapie und Prophylaxe (z. B. perioperativ) eingesetzt.

  • Die erforderlichen Spiegel aus Tab. 3 gelten auch für Personen mit mittelschwerer und leichter Hämophilie.

8. Therapie bei Trauma, lebensbedrohlichen und speziellen Blutungen

8.1 Trauma und lebensbedrohliche Blutungen

Bei schweren Traumata und/oder lebensbedrohlichen Blutungen (z. B. intrazerebrale, schwere gastrointestinale, abdominelle oder retroperitoneale Blutungen, Blutungen im Rachen- oder Halsbereich oder im Auge) ist die Dosierung so zu wählen, dass ein Talspiegel im Normbereich (mindestens 50 %) gehalten wird. Als „loading dose“ können die Dosierungsvorgaben verwendet werden, wie sie vor Operationen vorgeschlagen werden (siehe Kap. 9).

Bei diesen Blutungen gilt: Wenn Faktorkonzentrat vorhanden ist, zuerst substituieren, dann evaluieren und transportieren. Die PwH soll möglichst in ein Zentrum mit Hämophilie-Erfahrung transportiert werden. Es muss sichergestellt werden, dass am geplanten Ort der Versorgung Faktorkonzentrat bereits zur Verfügung steht oder schon während des Patiententransports dorthin angeliefert wird. In den allermeisten Fällen ist die stationäre Aufnahme der PwH erforderlich. Die Dauer der Substitution wird im Allgemeinen mehrere Tage betragen, bis die Blutung völlig abgeklungen bzw. resorbiert ist. Angaben für anzustrebende Faktorspiegel finden sich in Tab. 3. Bei PwH mit Inhibitoren sind „Bypassing Agents“ (APCC oder rFVIIa) in der höchsten empfohlenen Dosierung bzw. im kürzesten empfohlenen Intervall zu wählen.

Empfehlungen Trauma und lebensbedrohliche Blutungen

  • Bei Zeichen einer möglicherweise lebensbedrohlichen Blutung sofortiges Anheben des Faktorspiegels in den Normbereich (Talspiegel 50–80 %). Weitere Dosierung und Dauer nach Evaluation der Blutung und bis zu deren komplettem Stillstand bzw. Resorption.

  • Bei PwH mit Inhibitoren sind „Bypassing Agents“ (aktiviertes Prothrombinkomplexkonzentrat oder rFVIIa) in der höchsten empfohlenen Dosierung bzw. im kürzesten empfohlenen Intervall zu wählen, unter Emicizumab bevorzugt rFVIIa.

  • Die Therapie soll durch regelmäßige Bestimmung des Faktorspiegels überwacht werden (z. B. Talspiegel 1 × täglich vor der morgendlichen Gabe des Faktorkonzentrats).

  • Die Therapie sollte von einem HCCC oder HTC übernommen bzw. mit einem solchen abgestimmt werden.

8.2 Spezielle Blutungen

8.2.1 Hämaturie

Hämaturie sollte mit Bettruhe und forcierter Hydrierung über 48 h behandelt werden. Während der intensiven Hydrierung sollte die Gabe von Desmopressin aufgrund des Risikos einer Wasserintoxikation vermieden werden [2]. Antifibrinolytika sollen wegen der Gefahr einer Obstruktion mit Harnrückstau nicht oder nur in Ausnahmefällen unter strenger sonographischer Kontrolle verwendet werden. Eine Substitution mit Faktorkonzentraten soll erfolgen, Dosierungsangaben sind Tab. 3 zu entnehmen. Wenn Schmerzen bzw. Makrohämaturie über 12 bis 24 h persistieren, sollte nach Thromben, Obstruktion und anderen Ursachen in den ableitenden Harnwegen gefahndet werden [61], ebenso bei rezidivierenden Episoden einer Hämaturie. Bei Harnverhaltung bei vorangegangener Makrohämaturie ist eine unverzügliche Abklärung notwendig.

8.2.2 Blutungen der Mundschleimhaut

Die häufigsten Ursachen für Blutungen sind Zahnwechsel und -extraktion, Zahnfleischbluten aufgrund schlechter Mundhygiene und Trauma, beim Kind auch manchmal Verletzungen wie Zungenbiss oder Lippenbändchenverletzungen [2].

Die Therapie von Blutungen der Mundschleimhaut erfolgt einerseits durch Lokalmaßnahmen wie direkten Druck auf die Blutungsstelle mit einem feuchten Tupfer über ca. 15 min, lokale Applikation von Tranexamsäure oder Hämostyptika, andererseits durch die parenterale oder enterale Gabe von Tranexamsäure. Bei schlechter Mundhygiene sind Mundhygienemaßnahmen durchzuführen, Antibiotika können ev. hilfreich sein.

Eine Faktorsubstitution kann bei persistierender Blutung und bei notwendigem operativen Eingriff oder professionell durchgeführter Mundhygiene erforderlich sein. Erwachsene PwH sollten angewiesen werden, das Verschlucken von Blut zu vermeiden.

Die möglichst frühe Beiziehung eines Zahnarztes oder Kieferchirurgen ist wichtig, um die Blutungsquelle zu identifizieren und ggf. chirurgisch zu stillen.

8.2.3 Epistaxis

Epistaxis kann nicht selten durch Befeuchtung der Raumluft und/oder Verwendung von kochsalzhaltigen Nasensprays verhindert werden [2].

Bei Epistaxis hat sich eine frühzeitige Tamponade mit Tranexamsäure-getränkter Gaze zuhause bewährt. Auf Abrinnspuren im Pharynx ist immer zu achten.

Der Kopf des Patienten sollte nach vorne gebeugt sein, um das Verschlucken von Blut zu vermeiden und das vorsichtige Ausschneuzen von Koageln zu ermöglichen [62]. Mit einem in Eiswasser getränkten Gazetupfer sollte zehn bis 20 min lang fester Druck auf den vorderen, knorpeligen Teil der Nase ausgeübt werden. Eine Faktorsubstitution ist oft nicht notwendig, außer bei schweren oder rezidivierenden Blutungen.

Antihistaminika und Schleimhaut-abschwellende Mittel können bei Blutungen im Zusammenhang mit Allergien, Infektionen des oberen Respirationstrakts und saisonalen Veränderungen hilfreich sein.

Bei lang anhaltenden oder häufig rezidivierenden Blutungen sollte auf eine mögliche Anämie geachtet und diese ggf. adäquat behandelt werden. Weiters ist in diesem Fall ein HNO-Arzt zu konsultieren. Die lokale (getränkter Tupfer) oder systemische Anwendung von Antifibrinolytika ist hilfreich. Wenn bei Kleinkindern nicht lokal applizierbar, wird eine systemische Anwendung von Antifibrinolytika empfohlen.

Empfehlungen Spezielle Blutungen

  • Bei Hämophilie-bedingter Hämaturie sollten Bettruhe, forcierte Hydrierung über 48 h und eine Substitution mit Faktorkonzentraten erfolgen. Während der intensiven Hydrierung soll die Gabe von Desmopressin und Tranexamsäure vermieden werden.

  • Blutungen der Mundschleimhaut werden durch direkten Druck auf die Blutungsstelle mit einem feuchten Tupfer, lokale Applikation von Tranexamsäure oder Hämostyptika sowie durch die systemische Gabe von Tranexamsäure behandelt.

  • Bei Epistaxis sollte eine frühzeitige Tamponade mit Tranexamsäure-getränkter Gaze erfolgen. Um das Verschlucken von Blut zu vermeiden, sollte der Kopf des Patienten nach vorne gebeugt sein.

9. Vorgehen bei Operationen und Zahnextraktionen

9.1 Operationen

Bei Operationen, anderen invasiven Eingriffen und Zahnextraktionen sind Faktorkonzentrate zur Vermeidung verstärkter Blutungsneigung hoch wirksam. Jedoch sind weder Dosierung noch Dosisintervalle der Faktorgaben rund um chirurgische Eingriffe wissenschaftlich untermauert. Die derzeitigen Behandlungsprinzipien beruhen daher in erster Linie auf klinischer Erfahrung. Zu den erforderlichen Faktor-Plasmaspiegeln vor Eingriffen siehe Tab. 3. Zur Dosisberechnung siehe Tab. 12.

Tab. 12 Dosisberechnung von Faktorkonzentrat vor Operationen (bei PwH ohne Inhibitoren)

Eine stringente und allgemein akzeptierte Definition eines „großen“ bzw. „kleinen“ Eingriffs bei Hämophilen existiert nicht. Versuche, eine solche Definition nach der Dauer der fortgesetzten notwendigen Faktorverabreichung [63] oder nach Blutungsrisiko bzw. Blutverlust festzulegen, erscheinen als nicht ausreichend. Vielmehr beruhen die Entscheidung über das Blutungsrisiko bei einem Eingriff und die sich daraus ableitenden Vorsichtsmaßnahmen (Substitution) bei PwH weitgehend auf klinischer Erfahrung. Die Abschätzung des Blutungsrisikos für eine bestimmte Operation sollte in Absprache zwischen dem Hämophilie-Behandler und dem Chirurgen erfolgen.

Die Verabreichung von Desmopressin bei leichter Hämophilie A vor Operationen ist etabliert. Das Ansprechen auf Desmopressin sollte vorher ausgetestet werden (siehe auch Abschn. 2.1.4). Die Kombination von Desmopressin mit Tranexamsäure sollte auf die Anwendung bei Schleimhautblutungen beschränkt bleiben [24]. Tranexamsäure soll bei Eingriffen im Schleimhautbereich immer zusätzlich verabreicht werden (siehe Abschn. 2.1.5). Eine kontinuierliche Infusion von Faktorkonzentraten ist in Österreich nicht Standard und wird daher hier nicht näher behandelt.

PwH sollen vor jedem geplanten operativen Eingriff ihren Hämophilie-Behandler kontaktieren. Generell ist zu empfehlen, dass Operationen in erfahrenen Hämophilie-Zentren durchgeführt werden sollen. Der Behandler sollte 10 bis 14 Tage präoperativ einen Therapieplan erstellen. Präoperativ sollte elektiv eine Inhibitortestung erfolgen.

Bei PwH mit vorbestehendem niedrigtitrigen Inhibitor kann elektiv auch eine Testdosis mit Faktorkonzentrat zur Messung der Recovery und ev. auch der Halbwertszeit erfolgen. Dies kann aber verzögert zu einer „anamnestischen Reaktion“ des Inhibitors führen, womit ev. das Ansprechen vermindert sein kann.

Am OP-Tag wird zeitnah vor Beginn der Operation (nicht länger als 2–3 h) eine präoperative „loading dose“ von Faktorkonzentrat verabreicht. Etwa 15–30 min danach soll in jedem Fall eine Laborkontrolle des FVIII- bzw. FIX-Spiegels erfolgen. Bei ausgeschlossenem Inhibitor und bei kleinen Eingriffen muss im Regelfall dieser präoperative Faktorspiegel nicht abgewartet werden, bevor vom Hämophilie-Arzt/Gerinnungsdienst die Freigabe zum OP-Beginn gegeben wird. In diesen Fällen kann die präoperative ‚loading dose‘ unmittelbar vor OP erfolgen. Falls sich der Faktorspiegel als zu niedrig erweist, ist intra- oder postoperativ eine entsprechende weitere Dosis zu substituieren. Bei Zweifeln am Vorhandensein eines Inhibitors sollte das Ergebnis des präoperativen Faktorspiegels abgewartet werden.

Am Ende der Operation soll ein weiterer Faktorspiegel bestimmt werden. Am OP-Tag sollte in Abständen von acht bis zwölf Stunden Faktorkonzentrat substituiert werden, abhängig von der klinischen Blutungsneigung und dem Faktorspiegelverlauf. An den postoperativen Tagen soll mindestens einmal täglich ein Talspiegel (z. B. vor der morgendlichen Faktorgabe) erhoben werden. Entscheidend ist in jedem Fall die Einhaltung fixer, vorgegebener Substitutionsintervalle. Die Adaptierung der Dosis soll anhand der Talspiegel erfolgen, es ist jedoch darauf zu achten, dass die regelmäßige Substitution keinesfalls durch Warten auf das Laborergebnis verzögert wird.

Personen mit milder Hämophilie sowie jene, die zum ersten Mal große Mengen an Gerinnungsfaktoren erhalten, sollten vier bis zwölf Wochen postoperativ auf Vorliegen eines Inhibitors kontrolliert werden [2].

Bei PwH sieht die Leitliniengruppe generell keine Indikation für eine postoperative medikamentöse Thromboseprophylaxe. Allerdings kann bei PwH mit individuell erhöhtem Risiko oder Eingriffen mit hohem Thromboserisiko eine postoperative Thromboseprophylaxe erwogen werden.

9.2 Zahnextraktionen

Vor Zahnextraktionen sollen PwH grundsätzlich eine Faktorsubstitution wie bei kleinen chirurgischen Eingriffe erhalten (Tab. 3), wobei das Vorgehen an die Eingriffsgröße (Anzahl zu extrahierender Zähne, andere kieferchirurgische Maßnahmen) angepasst werden soll. In einfachen Fällen ist nur die einmalige präoperative Gabe (der Prophylaxedosis) von Faktorkonzentrat notwendig, ggf. mit Wiederholung am nächsten Tag.

Bei Kindern bzw. schlechter Venensituation empfiehlt sich hier die Anlage einer Venenkanüle für die ersten 24 h nach dem Eingriff.

Für größere Zahneingriffe muss ein Faktorspiegel von zumindest 30 % über mehrere Tage aufrechterhalten werden. Jedenfalls ist eine antifibrinolytische Therapie, lokal und ev. auch systemisch, für bis zu 7 Tage sinnvoll [64]. Eine zusätzliche Blutstillung mit Fibrinkleber soll in Erwägung gezogen werden.

Bei PwH unter Prophylaxe mit NFT sind spezielle perioperative Maßnahmen zu beachten. Für kleine Eingriffe benötigen PwH unter Emicizumab keine zusätzliche Faktorsubstitution oder Bypassing-Produkte, bei größeren Operationen können diese ggf. in niedriger Dosierung erfolgen [65].

9.3 Weibliche Verwandte

Bei weiblichen Verwandten ersten Grades (Mutter, Schwester, Tochter) von PwH sollte vor einer Entbindung bzw. vor einem ersten operativen Eingriff eine Gerinnungsfaktorkontrolle erfolgen, da Konduktorinnen in Abhängigkeit von der Höhe ihres Faktorspiegels bei Operationen eine erhöhte Blutungsneigung haben können [2]. Therapievorschläge für Konduktorinnen werden gesondert in Kap. 11 abgehandelt.

Empfehlungen Operationen und Zahnextraktionen

  • Geplante Operationen sollten nur in Zentren mit Erfahrung in der Behandlung von Hämophilie durchgeführt werden (HCCC oder HTC).

  • Eine präoperative Inhibitortestung soll erfolgen und ein perioperativer Behandlungsplan vom Hämophilie-Behandler erstellt werden.

  • Die anzustrebenden perioperativen Faktorspiegel sollen dem Blutungsrisiko des Eingriffes entsprechen (Tab. 3) und regelmäßig überwacht werden (z. B. Talspiegel 1 × täglich).

  • Für größere Zahnextraktionen wird eine Faktorsubstitution bis zu einem Talspiegel von 30 % über 2–7 Tage empfohlen. Eine antifibrinolytische Therapie wird empfohlen. Eine zusätzliche Blutstillung mit Fibrinkleber soll in Erwägung gezogen werden. Nach Möglichkeit sollte bei Bedarf resorbierbares Nahtmaterial verwendet werden, das im Gewebe verbleiben kann.

  • Bei Eingriffen im Schleimhautbereich soll Tranexamsäure zusätzlich verabreicht werden.

  • Bei leichter Hämophilie A ist die Verabreichung von Desmopressin vor Operationen – unter Beachtung der Kontraindikationen – möglich, wenn ein Ansprechen auf Desmopressin bekannt und ausgetestet ist.

  • Perioperativ wird für PwH generell keine medikamentöse Thromboseprophylaxe empfohlen. Bei PwH mit individuell erhöhtem Risiko oder Eingriffen mit hohem Thromboserisiko kann eine postoperative Thromboseprophylaxe erwogen werden.

10. Therapie von PwH mit Inhibitoren (Hemmkörpern)

Hemmkörper gehören zu den schwersten Komplikationen in der Behandlung der Hämophilie. Bei Hemmkörpern handelt es sich um IgG-Alloantikörper gegen therapeutisch zugeführten FVIII oder FIX. Sie entwickeln sich bei 20–40 % der Personen mit schwerer Hämophilie A [66] und 5–10 % von Personen mit schwerer Hämophilie B [67], etwa 80 % davon innerhalb der ersten 20 Expositionen mit Faktorkonzentrat, die restlichen 20 % innerhalb der ersten 75 Expositionen.

Bei milder und moderater Hämophilie A treten Inhibitoren bei 5–10 % der PwH und typischerweise im höheren Lebensalter auf, häufig nach intensiver FVIII-Exposition, z. B. nach Operationen oder schweren Blutungen [68].

Das Risiko, Hemmkörper gegen substituierte Faktorkonzentrate zu entwickeln, ist vor allem durch die zugrundeliegende Mutation im FVIII- oder FIX-Gen bedingt, zusätzlich können exogene Risikofaktoren eine Rolle spielen. Ein Präparatewechsel erhöht üblicherweise nicht das Risiko für die Entwicklung von Inhibitoren.

Besonders im Kindesalter können klinisch nicht relevante, transiente Hemmkörper auftreten, die innerhalb von 6 Monaten ohne Therapieänderung spontan wieder verschwinden.

Bei einem Teil der PwH mit Inhibitoren liegen nur niedrigtitrige Hemmkörper vor, die eine Therapie mit erhöhten Faktordosierungen oder Verkürzung der Intervalle erlauben. Hochtitrige Hemmkörper neutralisieren hingegen die substituierten Faktorkonzentrate komplett und machen die Behandlung damit unwirksam.

Ein Verdacht auf einen Inhibitor ergibt sich bei häufigen Blutungen trotz adäquater Prophylaxe oder inadäquatem Ansprechen auf Blutungsbehandlung sowie bei verminderter Faktor-Recovery und/oder verkürzter Halbwertszeit.

Die Bestimmung von Hemmkörpern sollte nach der Bethesda-Methode in der Nijmegen-Modifikation erfolgen [2, 69]. Nach dem Inhibitor-Titer unterscheidet man sogenannte „low responder“ (< 5 BU, Bethesda-Einheiten) und „high responder“ (> 5 BU). Werte > 0,6 BU bei FVIII und ≥ 0,3 BU bei FIX gelten per definitionem als Inhibitor positiv, sollten aber in einer erneuten Blutprobe bestätigt werden (Tab. 13).

Tab. 13 Indikationen für Inhibitor-Testung

10.1 Akute Blutungen und Operationen bei Inhibitoren

10.1.1 Hämophilie A

Low responder (mit oder ohne Emicizumab-Prophylaxe) sollen im Fall akuter Blutungen oder vor größeren Operationen eine intensivierte (höherdosierte und/oder höherfrequente) FVIII-Substitution erhalten [2]. Eine engmaschige Überwachung des FVIII-Plasmaspiegels und des Inhibitors ist notwendig.

High responder sollen im Fall akuter Blutungen oder vor Operationen Bypass-Präparate erhalten (siehe Tab. 14). In Österreich stehen ein aktiviertes Prothrombinkomplexkonzentrat (APCC) aus Plasma und zwei rFVIIa-Konzentrate zur Verfügung, alle mit ähnlich blutungsstillender bzw. -verhindernder Wirkung [70].

Tab. 14 Dosierungsempfehlungen für Bypassing Agents. (Nach [71,72,73,74,75])

Unter Prophylaxe mit Emicizumab ist rFVIIa wegen des geringeren Thromboserisikos APCC vorzuziehen. Bei gleichzeitigem Vorliegen von Thromboserisikofaktoren (wie z. B. frühere Venenthrombose, Übergewicht, Raucher etc.) ist auch bei der rFVIIa-Gabe wegen des Risikos für Herzinfarkt oder Lungenembolie Vorsicht geboten, d. h. vorsichtig zu dosieren.

In jedem Fall sollen Personen mit Hämophilie A mit Inhibitoren im Rahmen größerer Eingriffe ein enges Monitoring hinsichtlich Thrombosen, disseminierter intravasaler Gerinnung bzw. thrombotischer Mikroangiopathie erhalten.

10.1.2 Hämophilie B

Die Empfehlungen der WFH Guidelines zu FIX-Inhibitoren bei Hämophilie B entsprechen weitgehend jenen bei Hämophilie A. Im Fall akuter Blutungen oder vor größeren Operationen sollen low responder eine FIX-Substitution erhalten (nur wenn keine allergischen Reaktionen auf FIX bestehen), high responder hingegen rFVIIa [2].

Im Unterschied zur Hämophilie A kann es bei Personen mit Hämophilie B mit Inhibitoren bei Gabe von FIX-Konzentrat zu akuten allergischen Reaktionen und auch zu einem nephrotischen Syndrom durch Immunkomplexnephritis kommen. Bei anaphylaktischen Reaktionen auf FIX sollen Personen mit Hämophilie B mit Inhibitoren deshalb rFVIIa erhalten. APCC sollte vermieden werden, da es auch FIX enthält. Eine engmaschige klinische Beobachtung auf allergische Reaktionen ist erforderlich, bei Therapie mit FIX-Konzentrat auch ein Monitoring der Nierenfunktion, Proteinkontrolle im Harn und Blutdruckkontrollen.

10.2 Blutungsprophylaxe bei Inhibitoren

Bei PwH mit Inhibitoren wird laut WFH Guideline eine regelmäßige Prophylaxe explizit empfohlen [2]. Für Personen mit Hämophilie A und persistierendem FVIII-Hemmkörper wird eine Prophylaxe mittels Non-Faktor-Therapie (z. B. Emicizumab) empfohlen, die anderen Optionen zur Prävention von Blutungen überlegen ist.

Bei Hämophilie B ist Emicizumab wirkungslos. Nach Auftreten eines FIX-Inhibitors muss insbesondere bei allergischen Reaktionen die Gabe von FIX-Konzentrat gestoppt werden, eine Prophylaxe mit höheren FIX-Dosierungen ist nicht zu empfehlen. Eine Prophylaxe mit rFVIIa stellt eine mögliche Alternative dar, ist aber aufgrund der kurzen Halbwertszeit von rFVIIa nur bedingt wirksam.

10.3 Hemmkörperelimination

Als Immuntoleranztherapie (ITT, engl. ITI für immune tolerance induction) ist die regelmäßige Gabe von hohen Dosen des jeweiligen Faktors definiert, oft über Monate und bis zum Verschwinden des Hemmkörpers, gefolgt von einer schrittweisen Reduktion der Faktordosis. Die ITT ist bei etwa 60 bis 80 % aller Personen mit Hämophilie A erfolgreich. Bei Hämophilie B ist die Erfolgsrate deutlich geringer (ca. 30 %).

In der Ära vor Emicizumab wurde empfohlen, mit der ITT unmittelbar nach Inhibitordetektion zu beginnen und nicht auf ein Absinken des Hemmkörpertiters (auf < 10 BE) zu warten [76].

Bei Kindern mit niedrigtitrigem Hemmkörper und ohne verstärkte Blutungsneigung sollte wegen der Möglichkeit transienter Hemmkörper vor Beginn einer ITT einige Zeit zugewartet werden.

ITT-Regimes rangieren zwischen maximal 200 IE/kg/d (Hochdosis-ITT) und 50 IE/kg 3 × pro Woche (Niedrigdosis-ITT).

Die Hochdosistherapie erreicht in kürzerer Zeit einen negativen Titer und eine normale Recovery sowie niedrigere Blutungsraten. Hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Toleranz unterscheiden sich die Therapieregime nicht [77].

Die Behandlung erfolgt üblicherweise bis einige Monate über das Verschwinden des Hemmkörpers (per definitionem < 0,6 Bethesda-Einheiten) hinaus.

Eine ITT wird in der Regel mit jenem Produkt begonnen, mit dem ursprünglich behandelt worden ist. Wenn es allerdings unter diesem Produkt nicht zu einem Abfall der Hemmkörper kommt, sollte die Entscheidung über einen Produktwechsel innerhalb der ersten drei Monate getroffen werden. Eine vielfach angewandte Alternative ist der Wechsel von einem zuvor verwendeten rekombinanten FVIII-Konzentrat auf ein plasmatisches FVIII-Konzentrat mit Von-Willebrand-Faktor. Ein Vorteil dieses Vorgehens gegenüber dem Beibehalten des ursprünglichen Faktorkonzentrats ist bislang nicht ausreichend durch Studiendaten belegt.

Zum Einsatz von Immunsuppressiva und Immunmodulatoren bei fehlendem Ansprechen auf eine ITT gibt es keinen Konsensus. Immunsuppressiva sind für FVIII-Inhibitoren lediglich als zweite Wahl zu sehen.

Bei Hämophilie A ist aufgrund der nunmehrigen Verfügbarkeit von Emicizumab eine ITT nicht unmittelbar bzw. eventuell überhaupt nicht erforderlich. Die Eradikation des Hemmkörpers hat grundsätzlich den Vorteil, dass langfristig wieder FVIII für Blutungen oder Operationen wirksam ist. Demgegenüber steht der hohe Aufwand einer ITT, wobei aufgrund der effektiven Blutungsprophylaxe durch Emicizumab zumindest die parallele Gabe einer Niedrigdosis-ITT erwogen werden kann, z. B. 50–100 IE FVIII/kg 3 ×/Woche [78]. Die Datenlage ist jedoch noch zu gering, um Empfehlungen auszusprechen, welche PwH zu welchem Zeitpunkt und mit welchem Regime eine ITT erhalten sollten [79].

Für Hämophilie B gibt die WFH aufgrund zu geringer Erfahrungen keine Empfehlung für eine ITT. Im Falle eines ITT-Therapieversuchs muss zumeist, insbesondere bei PwH mit allergischen Reaktionen auf FIX, eine vorangehende oder begleitende Immunsuppression durchgeführt werden. Es sollte ein Hochdosisregime wie bei Hämophilie A angewandt werden, unter engmaschigem Monitoring betreffend allergischer Reaktionen oder eines nephrotischen Syndroms.

Empfehlungen PwH mit Inhibitoren

  • Bei niedrigtitrigem Hemmkörper können erhöhte Dosen von Faktorprodukten wirksam sein.

  • Für die Behandlung von Blutungen und zur Blutungsprophylaxe bei Operationen sind Bypassing Agents (APCC, rFVIIa) wirksam. Das individuelle Ansprechen kann unterschiedlich sein. APCC soll nicht gleichzeitig mit Tranexamsäure gegeben und bei Emicizumab-Prophylaxe vermieden werden, bzw. sind Maximaldosen zu beachten.

  • Zur Prophylaxe von Blutungen bei Personen mit Hämophilie A mit persistierenden Inhibitoren wird Emicizumab empfohlen. Bei Personen mit Hämophilie B ist eine Prophylaxe nur mit rFVIIa möglich.

  • Bei Kindern mit niedrigem Hemmkörpertiter und ohne verstärkte Blutungsneigung sollte wegen der Möglichkeit transienter Hemmkörper vor Beginn der ITT einige Wochen zugewartet werden. Bei Persistenz des Hemmkörpers ist eine ITT zu erwägen.

  • Für Personen mit Hämophilie A unter Emicizumab-Prophylaxe reichen die Daten noch nicht für Empfehlungen, wer, zu welchem Zeitpunkt und mit welchem Regime eine ITT erhalten soll.

  • Eine ITT kann mit jenem Produkt begonnen werden, mit dem ursprünglich behandelt worden ist. Insbesondere bei Nicht-Ansprechen kann ein plasmatisches FVIII-Konzentrat mit Von-Willebrand-Faktor in Erwägung gezogen werden. Für Hämophilie B ist üblicherweise eine vorangehende oder begleitende Immunsuppression erforderlich.

11. Perinatales Management der Hämophilie

11.1 Konduktorinnen

Mütterliche Überträgerinnen, Konduktorinnen genannt, weisen individuell sehr unterschiedliche Faktorspiegel zwischen 5 und über 200 % auf und haben eine 50 %ige Wahrscheinlichkeit, das erkrankte Gen an die nächste Generation weiterzugeben. Die Schwere der Erkrankung in betroffenen Familien ist sehr konstant. Bei mehr als 30 % der Fälle geht die Erkrankung auf eine spontane Mutation zurück, weshalb diesbezüglich keine Familienanamnese besteht [80].

Sowohl Konduktorinnen als auch betroffene Neugeborene haben ein erhöhtes Risiko für klinisch relevant vermehrtes Bluten und Blutverlust. Die Grundvoraussetzung für die Betreuung von Konduktorinnen und PwH ist die fachliche Erfahrung von Gynäkologen und Kinderärzten, die Verfügbarkeit eines 24 h-Labors zur Bestimmung des Blutbildes und Faktorspiegels und die Bereitstellung von ausreichend Faktorkonzentrat. Ein schriftlicher chronologischer und situativer Behandlungsplan ist dringend angeraten (siehe Tab. 15).

Tab. 15 Checkliste für die perinatale Betreuung von Konduktorinnen und Neugeborenen

11.2 Genetische Untersuchung und Geschlechtsbestimmung des Fetus

Betroffene Familien haben verschiedene Optionen: 1) eine pränatale Untersuchung zu unterlassen und ein betroffenes Kind zu akzeptieren, 2) die Durchführung einer pränatalen Diagnostik mit der Option eines Schwangerschaftsabbruchs und 3) die Durchführung einer Präimplantationsdiagnostik und Embryoselektion (§§ 96–98 StGB regeln den Schwangerschaftsabbruch in Österreich [81]).

Mögliche pränatale Untersuchungen:

  • zellfreie fetale DNA auf Y‑spezifische Sequenzen im mütterlichen Blut (zuverlässige Bestimmung des Geschlechts des Fetus ab dem späten ersten Trimester).

  • Routine-Ultraschalluntersuchung (sichere Geschlechtsbestimmung ab der 18. bis 20. SSW).

  • Chorionzottenbiopsie (in der 11. bis 14. SSW; am häufigsten angewandte pränatale Diagnostik).

  • Amniocentese (ab der 15. SSW).

Eine Präimplantationsdiagnostik (Fortpflanzungsmedizingesetz § 2a) ist zwar in Österreich grundsätzlich gestattet, ein positives Votum durch die dafür extra eingesetzte Ethikkommission ist aufgrund der guten Prognose und verschiedenen Behandlungsoptionen der Hämophilie jedoch nicht zu erwarten.

11.3 Geburt

11.3.1 Faktorspiegel und das Blutungsrisiko von Konduktorinnen

FVIII- und VWF-Spiegel steigen im Laufe der Schwangerschaft an und erreichen zwischen der 29. und 35. SSW ein Plateau. Dies schützt Konduktorinnen der Hämophilie A zumindest teilweise vor starken Blutungen und Blutverlust. Nach der Geburt kommt es zu einem raschen Abfall des FVIII-Spiegels. Im Gegensatz dazu bleibt der FIX-Spiegel während der Schwangerschaft unverändert.

Das Blutungsrisiko kann nur unter Berücksichtigung der Blutungsanamnese und des Faktorspiegels prognostiziert werden. Frauen, die zum Geburtszeitpunkt keine normalen Faktorspiegel aufweisen, benötigen Faktorkonzentrate. Regional-anästhetische Verfahren sollten nur Schwangere mit normalem Faktorspiegel erhalten.

Desmopressin (DDAVP) zur Steigerung des FVIII-Spiegels sollte, wenn überhaupt, nur in den ersten zwei Trimestern der Schwangerschaft eingesetzt werden. Risiken sind die Entwicklung einer bedrohlichen Hyponatriämie bei Mutter und Fetus bei erhöhter Flüssigkeitszufuhr, plazentare Insuffizienz (durch arterielle Vasokonstriktion) sowie Abort (durch Oxytocin-Effekt).

Für Tranexamsäure kann aufgrund fehlender Evidenz für die Prävention und Behandlung postpartaler Blutungen keine Empfehlung ausgesprochen werden.

11.3.2 Geburtsmodus und Blutungsrisiko für das Neugeborene

Das Blutungsrisiko für das Neugeborene ist zwischen vaginaler Entbindung und elektivem Kaiserschnitt vergleichbar. Eine instrumentierte vaginale Entbindung ist aber mit einem erhöhten Blutungsrisiko für das Neugeborene verbunden, daher muss bei drohender protrahierter Geburt frühzeitig ein Kaiserschnitt eingeleitet werden.

Das Blutungsmuster des hämophilen Neugeborenen unterscheidet sich grundsätzlich von dem des älteren Kindes mit Hämophilie (Gelenk- und Muskelblutungen):

  • Blutungen und Blutverlust werden häufig durch ärztliche Manipulationen verursacht (z. B. Blutabnahmen).

  • Prominente, große Kephalhämatome bei Spontangeburt sind typisch.

  • Mit einer Inzidenz von ca. 2 % haben hämophile Neugeborene ein signifikant höheres Risiko für eine intrakranielle Blutung als Gesunde (0,11 %). Frühgeburtlichkeit und Geburtstrauma führen zu einer weiteren und erheblichen Steigerung des Blutungsrisikos. Intrakranielle Blutungen sind zumeist subdural lokalisiert und manifestieren sich klinisch zumeist 4–5 Tage nach der Geburt. Mindestens ein Drittel der betroffenen Neugeborenen leidet an schweren neurologischen Folgen.

  • Die Ultraschalluntersuchung eignet sich ausgezeichnet als Screening-Methode für intrakranielle Blutungen. MRT-Untersuchungen sind zur Bestimmung von Ausmaß und Verteilung bei allen manifesten intrakraniellen Blutungen notwendig.

  • Muskel- oder Gelenkblutungen und innere Blutungen treten bei neugeborenen Hämophilen praktisch nur posttraumatisch auf.

  • Nabelstumpfblutungen sind selten und sprechen eher für Vitamin K-Mangel, FX-Mangel, FXIII-Mangel oder Afibrinogenämie.

11.4. Das Neugeborene mit Hämophilie

11.4.1 Diagnose beim Neugeborenen

Die Bestimmung des Faktorspiegels ist Voraussetzung für eine Diagnose. Faktoraktivität und genetische Untersuchungen können anhand von Nabelschnurblut vorgenommen werden. Für die postnatale endgültige Diagnose oder den Ausschluss einer Hämophilie ist eine periphere Blutabnahme zuverlässiger.

Während der FVIII-Spiegel beim reifen Neugeborenen dem des Erwachsenen entspricht, ist der FIX-Spiegel im Mittel deutlich niedriger (um 50 %). Neugeborene Mädchen mit Konduktorinnenstatus haben üblicherweise keine Blutungsprobleme, auch wenn sie teilweise niedrige Faktorspiegel aufweisen.

11.4.2 Behandlung des Neugeborenen mit Hämophilie

Neugeborene mit Hämophilie sollen grundsätzlich wie gesunde Neugeborene behandelt werden. Kapilläre Blutabnahmen, intramuskuläre Injektionen sowie Manipulationen, die zu Blutungen und Blutverlust führen können, sollen vermieden werden. Nach einer venösen Blutabnahme ist auf ausreichende Kompression an der Einstichstelle zu achten. FVIII- und FIX-Mangel führen zu einer Verlängerung der APTT.

  • Argumente gegen eine frühe Behandlung mit Faktorkonzentrat: Etwa 97 % der Neugeborenen mit Hämophilie weisen keine klinisch relevante Blutung auf. Ein Venenzugang ist oft schwierig. Bei schwerer Hämophilie besteht ein etwa 30 %-iges Risiko für die Entwicklung von Hemmkörpern. Eine „Single-Shot“ Strategie oder Kurzzeitprophylaxe postpartal ist aller Wahrscheinlichkeit nach nicht sinnvoll. Wenn Konzentrate verabreicht werden müssen, dann hoch dosiert, lange genug und unter Monitoring der Ziel-Faktorspiegel.

  • Von der Verwendung von FFP (fresh frozen plasma) wird aufgrund der notwendigen großen Mengen und Verdünnungseffekten abgeraten.

  • DDAVP ist bei leichter und mittelschwerer Hämophilie A bis zum Alter von 2 Jahren kontraindiziert und bei schwerer Hämophilie A sowie bei Hämophilie B wirkungslos.

  • Für den blutstillenden Effekt von Tranexamsäure bei Neugeborenen mit Hämophilie fehlt die Evidenz.

  • Für die Verwendung von Emicizumab bei Neugeborenen mit Hämophilie A gibt es kaum Daten. Zur Behandlung akuter Blutungen ist Emicizumab ungeeignet.

Empfehlungen Perinatales Management und Konduktorinnen

  • Alle Frauen, die zum Geburtszeitpunkt keine normalen Faktorspiegel aufweisen, benötigen die Substitution von Faktorkonzentrat.

  • Desmopressin (DDAVP) sollte, wenn überhaupt, nur in den ersten zwei Trimestern der Schwangerschaft von Konduktorinnen eingesetzt werden. In diesem Fall ist eine hohe Flüssigkeitsaufnahme zu vermeiden.

  • Beim Neugeborenen ist die Bestimmung des Faktorspiegels Voraussetzung für eine Diagnose oder den endgültigen Ausschluss einer Hämophilie (Nabelschnurblut oder periphere Blutabnahme).

  • Als Screening-Methode für intrakranielle Blutungen eignet sich die Sonographie. Zur Bestimmung des Ausmaßes ist eine MRT-Untersuchung notwendig.

  • Intramuskuläre Injektionen und Manipulationen, die zu Blutungen führen können, sollen vermieden werden.

  • Bezüglich der Behandlung mit Faktorkonzentrat sind der schwierige Venenzugang und das Hemmkörperrisiko zu bedenken. Wenn Konzentrate verabreicht werden müssen, dann hochdosiert, lange genug und unter Monitoring der Ziel-Faktorspiegel.

12. Psychosoziale Aspekte

Psychosoziale Unterstützung sollte als Teil der umfassenden medizinischen Betreuung von PwH und ihren Familien stets berücksichtigt und angeboten werden, insbesondere

  • im zeitlichen Umfeld der Diagnosestellung und -überbringung,

  • im Zusammenhang mit einem Kinderwunsch und der genetisch-analytischen Diagnostik,

  • beim Übergang in eine neue Lebensphase (z. B. Eintritt in den Kindergarten, Einschulung, Berufsantritt etc.) sowie bei wichtigen Etappen der Lebensplanung (Berufswahl, Beziehungs- und Familienleben)

  • bei PwH mit häufigen Blutungsereignissen aufgrund therapeutisch schwierig zu kontrollierender Gerinnungsstörung (etwa bei hochtitrigen und persistierenden Inhibitoren).

12.1 Behandlung der Hämophilie

Erste Verabreichungen der Prophylaxe mit Blutgerinnungspräparaten erfolgen am Hämophilie-Behandlungszentrum, danach sind die Faktorgaben in auswärtigen Spitalsambulanzen, Arztpraxen oder durch mobile Krankenpflege möglich.

Die Kooperation der Eltern und Kinder ist von größter Bedeutung. Sobald die Eltern sich zutrauen, die Faktorgaben selbst bei ihren Kindern zu versuchen, sollte das Anlernen erfolgen: Auflösen des Präparates, Erklärung der i.v. Injektion und der Demonstration am Hand/Armmodell. Die Eltern müssen motiviert werden, im häuslichen Umfeld die Venenpunktion zu üben (gegenseitig oder an freiwilligen Personen). Wenn entsprechende Sicherheit gegeben ist, sollen gemeinsame Termine im Hämophilie-Zentrum erfolgen, wo ein Elternteil unter medizinischer Aufsicht die Prophylaxe durchführt. Dies soll so lange am Zentrum stattfinden, bis das Vertrauen gegeben ist, die Faktorgaben zuhause durchzuführen.

Auch die vergleichsweise einfache Zubereitung und s.c. Verabreichung von Emicizumab muss geschult werden. Auch in diesem Fall müssen Eltern auf die Notwendigkeit einer Faktorgabe bei Blutungen hingewiesen werden.

Die jungen PwH können ab dem Volksschulalter motiviert werden, die Selbstinjektion zu erlernen. Spätestens in der Pubertät ist eine diesbezügliche Selbstständigkeit wünschenswert, die einen wichtigen Schritt zur Loslösung von den Eltern darstellt und von den Familien immer als sehr erleichternd beschrieben wird.

Psychoedukation zum Selbstmanagement umfasst auch folgende Aspekte:

  • Erkennen und Behandlung von Blutungen,

  • die Sicherheit, das Medikament jederzeit zu verabreichen, sowie Kenntnisse über dessen Lagerung und Anwendung,

  • Wissen um zusätzliche Behandlungsmöglichkeiten von Blutungen (z. B. blutstillende Maßnahmen bei oberflächlichen Blutungen, Kühlung, Kompression, Schonung etc.),

  • das Führen eines Behandlungstagebuchs (in Papierform oder digital) zur Dokumentation von Prophylaxe, Therapie und Blutungsereignissen.

PwH ab ca. 9 Jahren sollte ein Aufenthalt am Feriencamp der Österreichischen Hämophilie Gesellschaft (ÖHG) angeboten werden (siehe Tab. 16). Hier sind die besten Voraussetzungen gegeben, in Gemeinschaft mit anderen betroffenen Kindern viel über die eigene Erkrankung zu lernen und auch die Selbstinjektion zu üben. Darüber hinaus bietet das Hämophilie-Camp die Gelegenheit für gezielte Physiotherapie und vielfache Sportmöglichkeiten. Bei weiterem Informationsbedarf stehen die ÖHG und das Behandlungszentrum zur Verfügung. Siehe hierzu auch Abschn. 5.3. Transition.

Tab. 16 Kontaktdaten Österreichische Hämophilie Gesellschaft (ÖHG)

Im Erwachsenenalter spielen Verständnis und Akzeptanz der eigenen Erkrankung eine grundlegende Rolle für die Integration der Therapie in den Alltag und damit für die Therapieadhärenz. Der Austausch mit anderen Betroffenen ist im Hinblick auf die Information über Behandlungsoptionen entscheidend sowie maßgeblich für das Coping und die Entwicklung eines intakten Selbstbilds.

12.2 Lebensqualität

Die Lebensqualität von PwH sollte im Rahmen der Kontrolluntersuchungen am Hämophilie-Zentrum regelmäßig mittels standardisierter Fragebögen und quantifizierbarer Scoringsysteme (z. B. Haem-A-QoL, PROBE) erhoben und dokumentiert werden (siehe auch Kap. 4).

Der Erhalt eines gesunden Bewegungsapparats durch Sport und Bewegung trägt maßgeblich zur Lebensqualität der PwH bei. Neben der Minimierung von Blutungsereignissen durch eine konsequente und effektive Prophylaxe/Behandlung mit Blutgerinnungspräparaten sollte daher auch bereits ab der Kindheit die Motivation zu sportlichen Aktivitäten besonders gefördert werden. Die ÖHG bietet zu diesem Zweck unterschiedliche Bewegungs- und Förderprogramme an.

Mit fortschreitendem Alter der PwH sind eine wirksame Schmerztherapie und Zugang zu orthopädischen und physikalisch-medizinischen Maßnahmen für den Erhalt der Lebensqualität entscheidend. Die Schaffung entsprechender Kompetenzen und Angebote ist an jedem Hämophilie-Behandlungszentrum zu empfehlen.

12.3 Komorbiditäten

Ebenso wichtig für die Lebensqualität von PwH mittleren und fortgeschrittenen Alters sind das therapeutische Management und die psychische Bewältigung von Komorbiditäten, wie kardiovaskuläre Erkrankungen oder chronische Infektionserkrankungen (v. a. HIV, Hepatitis B und C). Eine HIV-Infektion kann heutzutage mittels antiretroviraler Therapeutika in den meisten Fällen sehr gut kontrolliert werden, wofür aktuell noch die Therapieadhärenz ausschlaggebend ist. Für Hepatitis C stehen gegenwärtig Optionen einer kurativen Therapie zur Verfügung, weshalb Betroffene dringend einer Behandlung zugeführt werden sollten. Eine chronische Hepatitis B-Infektion kann mittels antiviraler Therapeutika heute ebenfalls sehr gut kontrolliert werden.

Empfehlungen

  • Die Eltern sollten so früh wie möglich in der Gabe der Blutgerinnungspräparate im Hämophilie-Zentrum angelernt werden.

  • Die Familien sollen langsam an den Umgang mit dem Blutgerinnungspräparat gewöhnt und nicht zu rasch mit zu viel Verantwortung überfordert werden.

  • Selbstmanagement durch die Eltern, später durch die PwH ist jedoch ein wichtiges Behandlungsziel.

  • Spätestens in der Pubertät ist die Selbstinjektion durch die PwH wünschenswert.

  • Die Familien sollen zum Austausch mit Mitgliedern der Patientenorganisation ÖHG motiviert werden, die regelmäßige Treffen veranstaltet.