1 Eine Vision wird zu Papier gebracht

Der 1838 in Kolín in der heutigen Tschechischen Republik geborene Josef Popper, welcher später überwiegend durch seine sozialphilosophischen Abhandlungen unter dem Namen Popper-Lynkeus breitere Bekanntheit erlangte, beschäftigte sich am Anfang seiner Karriere mit allgemeinen, naturwissenschaftlichen Fragen und Ideen. Bereits am 6. November 1862 deponierte der in Prag als Ingenieur ausgebildete 24jährige Popper bei der „Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften“ in Wien ein versiegeltes Schreiben mit dem Titel „Über die Benützung der NaturkräfteFootnote 1(vgl. [1]: 244ff). Erst zwanzig Jahre später – also im Jahr 1882 – suchte er um Veröffentlichung des hinterlegten Schreibens an. Dem Ansuchen um Publikation des Schreibens wurde seitens der Akademie stattgegeben – das Schreiben wurde im „Anzeiger Nr. I‑XXVIII.–XIX. Jahrgang 1882 – der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften – Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Classe“ veröffentlicht. Der Grund für diese späte Veröffentlichung ist nicht überliefert. Auch eine dem Ansuchen beigelegte Bemerkung gibt keinen Aufschluss oder Hinweis auf die diesbezüglichen Beweggründe (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Josef Popper (1838–1921) – Büste im Wiener Rathauspark. (Günter Nikles (https://www.austriasites.com/))

Umso visionärer ist der Inhalt des ca. zweiseitigen Essays, in welchem Popper erstmals das großräumige Zusammenwirken einer „Arbeitsmaschine“ und eines „Motors“ mithilfe des „Vermittlers“ der „strömenden Elektricität“ skizziert. Popper schreibt unter anderem: „Dies Alles ist aber zu bewerkstelligen, wenn der Motor, z.B. der Wasserfall, eine passend aufgestellte magnet-elektrische Maschine bewegt, der hierdurch entstehende galvanische Strom in einer Art Telegraphenleitung über Berg und Thal geleitet und am gewünschten Orte mittelst einer elektro-magnetischen Maschine zu mechanischer … Arbeit …verwendet wird.“ Als Beispiel vergleicht Popper seine Idee einer Verteilung der „strömenden Elektricität“ mit dem damals schon existierenden Gasrohrleitungsnetz für die Verteilung von Leuchtgas, welches zum Beispiel in Wien seit 1834/35 verlegt und stetig erweitert wurde (vgl. [2]). Popper spricht davon, dass „in kleinen wie grösseren Städten die Kraft centralisirt und durch Leitungen an die Einzelnen – Industrielle und Gewerbsleute – … übergeben werden kann“.

Dies ist die erste bekannte schriftliche Abhandlung, wo alle Elemente eines elektrischen Energieversorgungssystems – also

  • ErzeugerFootnote 2 (≡ Motor, welcher eine magnet-elektrische Maschine bewegt),

  • Übertragung bzw. Verteilung (≡ Telegraphenleitung bzw. Leitung) und

  • VerbraucherFootnote 3 (≡ elektro-magnetische Arbeitsmaschine, chemische Arbeit (Elektrolyse))

als ein ganzes, zusammenhängendes und räumlich ausgedehntes (≡ „… aus fernen Orten in die Gebiete der Civilisation, … geleitet werden, …“) Gebilde beschrieben werden. Besonders bemerkenswert ist die Entkopplung, dass EINEM Erzeuger auch EIN Verbraucher gegenübersteht. Er beschreibt, dass EINE zentralisierte Station die elektrische Energie an MEHRERE, einzelne und voneinander unabhängige Verbraucher übergeben kann – also keine zwingende „Punkt-zu-Punkt“ Übertragung sein muss.

20 Jahre später fanden dann gleich drei maßgebende Ereignisse aus Sicht der internationalen Elektrifizierung statt, wobei schlussendlich alle Aspekte von Poppers Visionen innerhalb eines Monats Wirklichkeit wurden.

2 1882 – Die Geburtsstunde der öffentlichen Stromversorgung

So nahm am 4. September 1882 das weltweit erste öffentliche, kommerzielle Elektrizitätswerk in New York City – die sogenannte „Pearl Street Station“, mit 59 Kunden den Betrieb auf (vgl. [6]: 61). Thomas Alva Edison (1847–1931) verwirklichte somit die Ideen Poppers mit den Ausnahmen der räumlich weit auseinanderliegenden Erzeugerstation (≡ Kraftwerk) von den Verbrauchern (≡ Kunden) und der Ausnutzung der Naturkräfte, da die Generatoren mit kohlebefeuerten Dampfmaschinen angetrieben wurden. Evident ist, dass Edison das Schreiben Poppers und somit mit großer Wahrscheinlichkeit dessen Ideen nicht kannte und die Entwicklung daher unabhängig erfolgte. Ferner gründete Edison als Mann der Praxis bereits lange vor der Veröffentlichung von Poppers Essay am 17. Dezember 1880 die „Edison Electric Illuminating Company of New York“ (vgl. [6]: 45ff) mit dem Ziel, eine Erzeugerstation, ein Verteilsystem und Kundenanlagen für elektrische Beleuchtungen zu betreiben (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

„Jumbo“ Dynamo in der Pearl Street Station (1882). (wikimedia (https://upload.wikimedia.org/))

3 1882 – die Geburtsstunde der „Kraft-Fern-Übertragung“ elektrischer Energie

1882 war auch das Jahr der „Internationalen Elektricitäts-Austellung“ in München – die zweite ihrer Art nach der ersten 1881 in Paris – welche federführend durch Oskar von Miller (1855–1934) organisiert wurde. Eines der nachhaltigsten Highlights der Münchner Ausstellung war die sogenannte „Gleichstromfernübertragung“ von Miesbach in das 57 km entfernte Ausstellungsgelände – den ehemaligen Glaspalast – in München. Die Stromübertragung des maßgeblich vom französischen Elektroingenieur Marcel Depréz (1843–1918) konstruierten Übertragungssystems erfolgte über eine mit Eisendraht beseilte Telegrafenleitung mit einer Spannung zwischen 1,5 und 2 kV und wurde am 25.09.1882 in Betrieb genommen (vgl. [4]: 93). Als Antriebsmaschine in Miesbach diente eine Dampfmaschine, welche eine 2 PS (≡ 1,1 kW) starke Gramme-DynamomaschineFootnote 4 (≡ Generator) antrieb. Am Messegelände wurde die übertragene elektrische Energie hauptsächlich durch den Antrieb eines 4 PS (≡ 2,9 kW) starken Gramme-Elektromotors3, welcher eine Pumpe antrieb und welche wiederum einen ca. 2 m hohen, künstlichen Wasserfall speiste, beindruckend zur Schau gestellt. Trotz des heute als gering erscheinenden Wirkungsgrades von lediglich 23 % und der Tatsache, dass das System aufgrund eines Generatorschadens nur 8 Tage in Betrieb war, wurde die Übertragbarkeit elektrischer Energie über weite Strecken eindrucksvoll demonstriert (vgl. [3]: 23ff). Auch wenn hier ebenfalls nicht überliefert ist, ob sich die Herren Popper, Miller und Depréz kannten, so erfüllte sich ein weiterer Teil von Poppers Vision nämlich, dass elektrische Energie „… aus fernen Orten in die Gebiete der Civilisation, … geleitet werden, …“ können, im selben Jahr der Veröffentlichung seines 20 Jahre zuvor verfassten Schreibens (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Generatorstation Miesbach (1882). (Deutsches Museum, München, Archiv, BN14867)

4 1882 – die Geburtsstunde der Stromgewinnung aus Wasserkraft

Die Geburtsstunde der Stromgewinnung aus Wasserkraft – also der Umwandlung der potenziellen- und kinetischen Energie des Wassers in elektrische Energie – zur Versorgung mehrerer Verbraucher schlug ebenfalls der 1882 und zwar am 30. September mit der Inbetriebnahme der „Vulcan Street Plant“ in Appletion (Wiscosin – U.S.A.). Der durch ein Wasserrad angetriebene, 12,5 kW starke Edison-Generator lieferte 110 V Gleichspannung und versorgte anfangs die Beleuchtungen von zwei Papierfabriken und einem Wohnhaus (vgl. [7]). Somit erfüllte sich auch der letzte und für seinen Aufsatz namensgebende Aspekt von Poppers Zukunftsbild, nämlich die „Benützung der Naturkräfte“ und somit die „grossen, für uns brach liegenden Kräfte natürlicher Phänomene in unsere Dienste zu ziehen, …“. Als Beispiel solcher Erscheinungen listet Popper dann weiter hinten als „Naturmotoren“ bezeichnete Phänomene wie Wasserfälle, Gezeiten und Winde auf (vgl. [1]: 244ff). Nur zwei Jahre später erfolgte übrigens in Österreich die Geburtsstunde der Elektrizitätsgenerierung aus Wasserkraft. Nach Pariser (1881), Münchner (1882) und Wiener Vorbild (1883) organisierte der Pionier Josef Werndl (1831–1889) 1884 die „Electrische-Landes-Industrie-Forst und culturhistoriesche Ausstellung“ in Steyr, bei welcher erstmals ein eigens ausschließlich zur Stromgewinnung errichtetes Wasserkraftwerk die notwendige Energie für die Beleuchtung zentraler Plätze und Straßen lieferte (vgl. [5]: 159, 203; [8]).

5 Resümee

Popper lieferte bereits 1862 im weiteren Sinne die erste Beschreibung eines elektrischen Netzes als räumlich verteiltes Verbindungssystem und erkannte die räumliche Entkopplung von Erzeugungs- und Verbrauchsanlagen. Die Anerkennung für diesen revolutionären Gedanken blieb ihm jedoch zeitlebens verwehrt (vgl. [1]: 191). Weshalb der Visionär Popper die Publizierung seines Aufsatzes ausgerechnet im Jahr 1882 veranlasste, konnte nicht festgestellt werden. Es konnten keine Belege oder Hinweise gefunden werden, dass sich die Herren Edison, Oskar von Miller und Marzel Deprez je mit Popper getroffen haben bzw. in irgendeiner Form mit ihm austauschten.