1 Einleitung

In den vergangenen Jahren wurde in unterschiedlichen Forschungsprojekten der TU Graz das transiente Spannungsverhalten in verschiedenen Netzknoten des österreichischen Übertragungsnetzes erfasst. Dabei wurden hochauflösende transiente Spannungsverläufe mit zusätzlich installierten ohmsch-kapazitiven Spannungsteilern (RC-Teiler) aufgezeichnet [1].

Als transiente Spannungen werden laut Norm DIN EN 60071 [2] nicht-betriebsfrequente Spannung verstanden [3]. Sie treten in Hochspannungssystemen im Wesentlichen beim Übergang von einem stationären Zustand in einen anderen auf und werden z. B. durch geplante und ungeplante Schalthandlungen sowie externe Einflüsse durch Blitzentladungen ausgelöst [4]. Um diese Vorgänge repräsentativ erfassen zu können, ist der Einsatz entsprechend breitbandiger RC-Teiler notwendig. Die Erhöhung des erneuerbaren Energieanteils mit seiner schwankenden Verfügbarkeit führt zu einem vermehrten Einsatz an Konverter-Stationen, sowie allgemein zu einer erhöhten Anzahl an Schalthandlungen im Netz. Dies spiegelt sich einerseits in der Qualität der bereitgestellten elektrischen Energie sowie in zusätzlichen transienten Belastungen elektrischer Betriebsmittel in Hochspannungssystemen wieder [5]. Aus diesem Grund kommt der Analyse und Kenntnis des transienten Zustandes in Hochspannungssystemen eine wichtige Rolle hinsichtlich eines zuverlässigen und sicheren Netzbetriebs zu.

Im Zeitraum von 2017 bis 2019 aufgezeichnete Messdaten (gesamt ca. 13.800 transienten Spannungsverläufe) wurden im Rahmen dieser Untersuchung analysiert, kategorisiert und mit Schaltmeldeprotokollen der APG bzw. ALDIS-Blitzortungsdaten korreliert. Die gemessenen transienten Daten beinhalten dabei Spannungsmessungen aus vier Netzknoten im Übertragungsnetz.

2 Messmethodik

Eine Analyse der mit Schaltmelde- und Blitzortungsdaten korrelierten Spannungsverläufe ermöglicht erstmals einen detaillierten Einblick in die transiente Spannungssituation im Hochspannungsnetz. Transiente Vorgänge, welche durch Schalthandlungen im System (Einschaltungen, Ausschaltungen, Fehler) sowie von direkten und indirekten atmosphärischen Entladungen hervorgerufen werden, werden hier systematisch dargestellt und die Reichweite der Ereignisse untersucht.

Zur qualitativen Erfassung transienter Spannungen in Hochspannungssystemen hat sich die Messung mit sogenannten breitbandigen RC-Teilern bewährt. Diese Spannungsteiler weisen, im Gegensatz zu den bereits im Netz installierten induktiven Spannungswandlern, ein stabiles Übertragungsverhalten bis in den MHz-Bereich auf [5]. Neben den in der Freiluftanlage installierten RC-Teilern besteht das verwendete transiente Messsystem weiter aus einem speziellen, transienten-tauglichen Messaufbau im Gebäude des jeweiligen Umspannwerks. Der gesamte Messkreis, bestehend aus doppelt geschirmten und niederinduktiv verlegten Messleitungen, einem Tastkopfsystem, einem Transientenrecorder sowie einem über Fernzugriff erreichbaren Messrechner, wird über die Dauer der Messung vor Ort unabhängig und parallel zu den bereits verbauten Schutz- und Messeinrichtungen betrieben (siehe Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

a 400-kV-RC-Teiler direkt an Freileitungsabgang, b Messtechnik mit (A) Messrechner, (B) digitales Speicheroszilloskop, (C) doppelt geschirmte Messleitungen und (D) Netzwerktechnik für Fernzugriff im Sekundärtechnikraum des Umspannwerks

3 Datensatz

3.1 Transiente Messung

Der Gesamtdatensatz besteht aus den aufgezeichneten transienten Messdaten, den unterschiedlichen Messperioden und Systemdaten des Übertragungsnetzbetreibers sowie aus externen Daten des ALDIS-Blitzortungsnetzwerks (Lightning Location System, kurz LLS). Dieser Studie liegen ca. 13.800 hochauflösend aufgezeichnete transiente Spannungsmessungen zugrunde, welche im Zuge von Projekten der TU Graz gemeinsam mit der APG in den Jahren 2017 bis 2019 durchgeführt wurden. Aufgezeichnet wurden Leiter-Erde-Spannungen in vier Umspannwerken der 220-kV- und 380-kV-Ebene des österreichischen Übertragungsnetzbetreibers.

Abb. 2 zeigt zeitlich überlagert die einzelnen Messperioden in den Netzknoten mit Information zur Spannungsebene. Durch die teilweise parallellaufenden Messperioden kann im vorliegenden Projekt auch auf transiente Ereignisse eingegangen werden, welche zeitgleich an mehreren Punkten im Netz erfasst wurden (siehe Abb. 2). In Abb. 3 sind die vier Messstandorte schematisch dargestellt und die Verbindungsleitungen sowie die ALDIS-Blitzortungsdaten nach Messperioden für einen Korridor um die Leitungszüge aufgetragen.

Abb. 2
figure 2

Auflistung der Messperioden für die 220- und 380-kV-Spannugnsebene in den Jahren 2017 bis 2019 und der Überschneidungsbereiche 1 bis 4

Tab. 1 Kategoriegenzwerte der 220-kV- und 380-kV-Ebene

3.2 Schaltmeldeprotokolldaten

Diese Aufzeichnungen enthalten zeitlich und örtlich dokumentierte Informationen über getätigte Schalthandlungen innerhalb des österreichischen Übertragungsnetzes und den zugehörigen unterlagerten Netzebenen. Um für die Korrelation relevante Schaltmeldedaten aus den Schaltmeldeprotokollen (SMP) zu erhalten, bedarf es einer entsprechenden Einschränkung dieses Datensatzes.

Für die durchgeführte Korrelation beschränken sich die herangezogenen Einträge in den Schaltmeldeprotokollen auf Schalthandlungen von Leistungs- und Trennschaltern sowie auf Einträge von Schutzauslösungen. Hier wird der Status EIN bzw. AUS unterschieden. Für den SMP-Korrelationsschritt (K1) werden die Schaltmeldungen der Spannungsebenen 220 kV und 380 kV in die Korrelation miteinbezogen.

Für den SMP-Datensatz wird die mitteleuropäische Zeitzone (MEZ) mit Sommer- und Winterzeit als Zeitbasis herangezogen.

3.3 Blitzortungsdaten

Um eine Korrelation mit Blitzortungsdaten durchzuführen, wurden die Daten für alle abgehenden Leitungszüge der einzelnen Messstandorte im jeweiligen Messzeitraum in der ALDIS-Datenbank abgefragt [6].

Abb. 3 zeigt die verwendeten Blitzortungsdaten entlang der entsprechenden Leitungskorridore zeitlich überlagert dargestellt. Es wurden dabei Wolke-Erde-Blitze mit negativer (blaue Kreise) und positiver (rote Vierecke) Polarität sowie Wolke-Wolke-Blitze (gelbe Dreiecke) in einem Korridor von ±3 km um die jeweiligen Leitungszüge einbezogen. Alle Blitzortungssensoren ziehen die GPS-Zeit zur Synchronisation heran und die einzelnen Blitzentladungen werden nach Verarbeitung vom Blitzortungssystem im UTC-Zeitformat (Coordinated Universal Time) abgelegt. Die Qualität der georteten Blitze wird laufend anhand von Blitzortungsmessungen mit einem mobilen Messsystems (z. B. Forschungsprojekt LiOn der TU Graz) evaluiert [7].

Abb. 3
figure 3

Datenbankabfrage für negative (blaue Kreise) und positive (rote Vierecke) Wolke-Erde-Blitze sowie Wolke-Wolke-Blitze (gelbe Dreiecke) der ALDIS-Blitzortungen für die abgehenden Leitungszüge der vier Messstandorte für die 220-kV- und 380-kV-Spannungsebene und den jeweiligen Zeitraum

4 Erkenntnisse

4.1 Datenbehandlung

Um eine qualitative Analyse der transienten Spannungsmessungen durchführen zu können, ist vorab eine entsprechende Datenbehandlung notwendig. Im Zuge dieser Datenbehandlung wird einerseits die Qualität der Daten analysiert, andererseits werden vorhandene nicht-transiente Störanteile aus dem Spannungssignal entfernt, sowie die überlagerten transienten Anteile vom betriebsfrequenten 50-Hz-Spannungssignal gelöst. Dieses Herauslösen der transienten Signalanteile ermöglicht eine Kategorisierung nach Maximalwert der transienten Spannungen.

Hinsichtlich des Erreichens des in der jeweiligen Spannungsebene normativ vorgegebenen Bemessungsisolationspegels, werden drei Kategorien definiert (BIL220 kV = 1050 kV und SIL380 kV = 1050 kV, siehe EN 60071-1). Dabei werden die Kategoriegrenzwerte durch eine jeweilige Sicherheitsmarge von 85 % und 15 %, angelehnt an die EN 60071, herangezogen (siehe Tab. 1).

4.2 Zeitliche Korrelation

Für die Zuordnung der transienten Datensätze zu Schaltmelde- und Blitzortungsdaten, wurde eine Methode zur zeitlichen Korrelation im Intervall von ±1 s entwickelt. Hierbei werden schrittweise die transienten Messdaten mit SMP-Daten bzw. LLS-Daten anhand ihrer Zeitstempel korreliert. Dadurch lässt sich der transiente Ausgangsdatensatz hinsichtlich der Entstehungsursachen der transienten Spannungen kategorisieren.

Gesamt konnten etwa 38 % der untersuchten Spannungsmessungen erfolgreich Schalthandlungen bzw. Blitzentladungen zugeordnet werden (siehe Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Gesamtkorrelationsergebnis des transienten Messdatensatzes für Zuordnungen der SMP- und LLS-Daten

Die Korrelation der transienten Daten sowohl mit SMP- als auch LLS-Daten liefert eine sogenannte Kreuzkorrelation zwischen diesen Datensätzen. Die Kategoriegrenzwerte der jeweiligen Spannungsebene sind in Tab. 1 angeführt.

4.3 Kategorieverteilung

Aufgrund der Kategorisierung der analysierten transienten Spannungen nach aufgetretenem Maximalwert, kann eine Auswertung nach Verteilung der drei festgelegten Intensitätskategorien erfolgen.

Laut zuvor definierter Kategoriegrenzwerte treten bei einem Großteil (89 %) der gemessenen transienten Spannungen geringe transiente Belastungen (Kategorie 1) an den gemessenen Betriebsmitteln auf. Für etwa 10 % der SMP-korrelierten Messdaten liegen die erfassten Überspannungen in Kategorie 2. In fünf Fällen (0,2 %) konnten erhebliche transiente Überspannungen (Kategorie 3) gemessen werden.

Für den Korrelationsschritt mit Blitzortungsdaten entfiel der Großteil (97 %) der LLS-korrelierten Messdaten auf Kategorie 1. Etwa 3 % zeigten starke transiente Überspannungen in Kategorie 2. Die mit Blitzortungsdaten korrelierten Daten enthielten keine Messung mit einer transienten Überspannung der Kategorie 3.

Die einzelnen Kategorien der SMP-Zuordnungen wurden zusätzlich nach Art des Schaltbetriebsmittels analysiert. Dabei wurden für die Kategorien 1 bis 3 jeweils eine Auffächerung nach Leistungsschalter (LS), Trennschalter (TR) und Schutzauslösungen erstellt (siehe Abb. 5). Fälle aus Kategorie 1 setzen sich etwa zu gleichen Teilen aus LS- und TR-Schaltungen zusammen (46 % im Vergleich zu 47 %). Ein geringer Anteil der LS-Schaltungen (ca. 7 %) entfällt in Kategorie 1 auf Schutzauslösungen. In der Verteilung von Kategorie 2 ist zu erkennen, dass über 50 % auf LS-Schaltungen zurückzuführen sind. Die restlichen 35 % wurden TR-Schaltungen zugewiesen. 10 % der Kategorie-2-Fälle können ungeplanten LS-Schaltungen im Zuge von Schutzauslösungen zugeordnet werden. Der Großteil (80 %) der Kategorie 3 Fälle ist durch TR-Schaltungen hervorgerufen worden. Die restlichen 20 % der fünf korrelierten Fälle entfallen auf LS-Schaltungen. Für Kategorie 3 konnte kein Fall mit Schutzauslösungen in Verbindung gebracht werden (Anzahl Messdaten zu beachten).

Abb. 5
figure 5

Kategorieverteilung nach Schaltbetriebsmittel (Leistungsschalter, Trennschalter, Schutzauslösungen)

4.4 Sichtbarkeit transienter Ereignisse an entfernten Messstandorten

Um an mehreren Standorten gemessene transiente Ereignisse zu analysieren, wurden zwei Analysemethoden ausgearbeitet. Einerseits wurden die Daten ausgehend von den sich zeitlich überschneidenden Messbereichen in Abb. 2 analysiert, bei welchen untersucht wird, ob eine korrelierte Schalthandlung ebenfalls in anderen Messstandorten zugeordnet werden kann. Andererseits wurde die Daten mit zugewiesenen Schalthandlungen aus entfernten Netzknoten korreliert. Im Zuge dieser softwareunterstützten Analysen konnten 145 transiente Ereignisse in Entfernungen von bis zu 430 km zwischen Umspannwerk und Messstandort nachgewiesen werden.

Abb. 6 zeigt ein beispielhaftes Netzschema für beide Zuordnungsmethoden. Darin sind mögliche Ausbreitungswege einer transienten Spannung, welche aufgrund der Einschaltung einer Kompensationsanlage (Kondensatorbank C1) in einem entfernten Netzknoten hervorgerufen wurde, dargestellt. Die Erfassung dieser transienten Spannungen erfolgte an zwei Messstandorten (UW C und UW D).

Abb. 6
figure 6

Netzschema zur Ausbreitung transienter Spannungen aufgrund der Einschaltung einer 220-kV-Kompensationsanlage

Abb. 7 zeigt die Zuschaltung der Kondensatorbank (C1) im UW X in einem 250 km entfernten Netzknoten des Übertragungsnetzbetreibers, gemessen in UW C. Die auftretenden transienten Überspannungen beim Einschalten der entfernten Kompensationsanlage werden durch das umliegende Hochspannungssystem und die Ausbreitung entlang der 250 km langen Freileitungsverbindung zwischen Auftrittsort in UW X und Messstandort stark gedämpft und sind in UW C als transientes Spannungssignal der Kategorie 1 auf allen drei Phasen erkennbar.

Abb. 7
figure 7

SMP-Zuordnung: Einschaltung einer 250 km entfernten Kompensationsanlage, gemessen in UW C, gemessene Phasenspannung (oben) und transienter Anteil (unten)

Im vorliegenden Fall wurde zeitgleich in UW D gemessen (Überschneidungsbereich 2; siehe Abb. 2). Auch dort wurde dieselbe Schalthandlung erfasst und konnte erfolgreich zugeordnet werden. Die Auswirkungen dieser Schalthandlung sind weniger stark ausgeprägt als in UW C. Dies ist auf die größere Entfernung zum Schaltort (ca. 300 km) zurückzuführen.

5 Zusammenfassung

Diese Arbeit gibt einen Einblick in aktuelle Forschungsaktivitäten am Institut für Hochspannungstechnik und Systemmanagement der TU Graz auf dem Gebiet transienter Spannungen. Der in den Jahren 2017 bis 2019 in Zusammenarbeit mit der Austrian Power Grid AG aufgezeichnete Datensatz an transienten Spannungsmessungen wurde erstmals als Gesamtdatensatz herangezogen, um Auswirkungen von transienten Spannungen innerhalb des österreichischen Hochspannungsnetzes zu analysieren, eine Kategorisierung vorzunehmen sowie die Reichweite und Zuordnung nach Spannungsebene zu untersuchen. Die Arbeit zeigt Methoden zur Datenbehandlung und Korrelation von umfangreichen transienten Messdatensätzen. Ebenso wird gezeigt, welche Informationen und Erkenntnisse aus solchen Analysen für den sicheren und zuverlässigen Netzbetrieb gewonnen werden können.

Es konnten rund 38 % der ausgewerteten transienten Spannungsmessungen mit Schaltmelde- bzw. Blitzortungsdaten korreliert werden. Dabei entfallen etwa 15 % auf Schalthandlungen und etwa 13 % auf Blitzentladungen. Die Erweiterung des Korrelationsintervalls und der Spannungsebene lieferten nochmals ca. 10 % an Schalthandlungszuordnungen.

Die Kategorisierung nach Maximalwert zeigt, dass der Großteil der zugeordneten transienten Spannungen in Kategorie 1 liegt. Etwa 6 % der Fälle zeigen starke transiente Auswirkungen und liegen in Kategorie 2. Transiente Auswirkungen in Kategorie 3 treten nur vereinzelt auf.

In Bezug auf die Sichtbarkeit transienter Spannungen innerhalb des Hochspannungssystems konnte im gezeigten Fall eine Zuschaltung einer Kondensatorbank eines ca. 330 km entfernten Umspannwerks zugeordnet und mit transienten Spannungsmessungen in zwei Umspannwerken korreliert werden. Maximal wurde eine Ausbreitung über eine Strecke von 430 km Freileitung nachgewiesen (LS-Schaltung aufgrund einer Schutzauslösung).

In aktuellen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass durch Erweiterung der gefilterten Schaltmeldeprotokolldaten auch Ereignisse aus Untergeordneten Spannungsebenen der APG (110 kV und 30 kV) zugeordnet werden können. Weiter sollen zukünftig Analysen hinsichtlich unterschiedlicher Wirkung identer Schalthandlungen bei gewisser Netzkonfiguration durchgeführt werden. Hierbei werden transienten Spannungen aus dem vorliegenden Datenpool für ein und dieselbe Schalthandlung gegenübergestellt, Unterschiede im Signalverlauf analysiert und mögliche Ursachen untersucht.

Die vorliegende Publikation veranschaulicht die Bedeutung einer hochqualitativen Erfassung transienter Spannungen im Netz. Durch die Korrelation mit unabhängigen Datensätzen realer Ereignisse im Netz tragen diese Daten zum nötigen Verständnis der transienten Spannungssituation mit Blick auf den zukünftigen Netzbetrieb bei.