1 Einleitung

Azikularferrit (AF) keimt im Stahl intragranular an nichtmetallischen Einschlüssen (NME) und bildet ein Gefüge aus feinen, ineinandergreifenden Körnen [13]. Diese charakteristische Mikrostruktur kann eine deutliche Verbesserung der Zähigkeit bewirken [46]. Zusätzlich zeigt azikularer Ferrit eine ausgezeichnete Beständigkeit gegen H2S-Angriff [7]. Aufgrund dieser Eigenschaften hat in den letzten Jahren die Verwendung von Azikularferrit in Röhrenstählen deutlich an Bedeutung gewonnen [59]. Es ist bekannt, dass die Bildung von azikularem Ferrit primär durch die Stahlzusammensetzung, Einschlusslandschaft, Kühlrate und Austenitkorngröße bestimmt wird, jedoch ist die Wechselwirkung dieser Faktoren noch nicht restlos geklärt.

Im Rahmen eines FWF-Projekts am Lehrstuhl für Eisen- und Stahlmetallurgie wurde eine systematische Methodik zur Untersuchung der Azikularferritbildung und deren Einflussfaktoren im Labormaßstab entwickelt. Die Methodik verwendet nur Einschlüsse resultierend aus Desoxidation und Entschwefelung als Keimstellen für Azikularferrit. Damit kann eine künstliche Verschlechterung des Stahlreinheitsgrads durch die Zugabe synthetischer Partikel vermieden werden. Mit Hilfe dieser Methodik wurde die Azikularferritbildung in nieder-, mittel- und hochkohligen Stahlgüten ausführlich untersucht. Besonderer Fokus wurde dabei auf die Untersuchung aktiver Einschlusstypen gelegt.

Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick über die entwickelte Methodik und demonstriert die Anwendung dieser beispielhaft für die Bestimmung des Einflusses von Kühlrate und Bor-Gehalt in einem niederkohligen HSLA-Stahl. Die Literatur zeigt, dass gelöstes Bor an Austenitkorngrenzen seigert, wodurch deren Eignung als Keimstelle für Ferrit reduziert und die intragranulare Keimung von azikularem Ferrit begünstigt wird [1014]. Bor seigert auch an den Grenzflächen zu nichtmetallischen Einschlüssen, jedoch können ausgewählte Einschlusstypen, z.B. TiOx, Bor aufnehmen und eine B‑verarmte Zone ausbilden, so dass das Keimungspotential dieser Einschlüsse nicht reduziert wird [11]. Der Einfluss von Bor auf die Bildung von Azikularferrit in Schweißnähten mit ungefähr 0,07 Gew.-% Kohlenstoff, 1,50 Gew.-% Mangan, 0,40 Gew.-% Silizium, 2 - 660 Gew.-ppm Titan und 1 - 195 Gew.-ppm Bor wurde bereits von Evans [10] und Ilman et al. [13] untersucht. Dabei stellten sie fest, dass geringe Mengen an Bor dienlich für die Steigerung des Azikularferritgehalts sind, größere Mengen jedoch einen negativen Effekt haben, da es zur Bildung von Fe23(BC)6-Layern auf aktiven Einschlüssen kommt. Der kritische Bor-Gehalt hängt stark vom Ti-Gehalt ab, für einen Ti-Gehalt von 0,02 Gew.-% liegt dieser bei ca. 50 Gew.-ppm Bor. Der positive Einfluss von B‑Gehalten unter 40 Gew.-ppm konnte kürzlich auch durch Zhang et al. [3] für mittelkohlige Stähle mit 0,15 Gew.-% Kohlenstoff, 1,50 Gew.-% Mangan, 0,20 Gew.-% Silizium, 100 Gew.-ppm Titan und 2 - 33 Gew.-ppm Bor mittels HT-LSCM-Untersuchungen bestätigt werden. Aufbauend auf den Erkenntnissen aus der Literatur untersucht die vorliegenden Arbeit, ob ein ähnliches Verhalten von Bor auch in niederkohligen HSLA-Stählen mit 0,04 Gew.-% Kohlenstoff und ohne erneutes Aufschmelzen des Materials auftritt. Hierzu wird die Azikularferritbildung während einer Wärmebehandlung ohne Umformschritt simuliert. Die erzielten Ergebnisse können daher nicht mit jenen einer thermomechanischen Behandlung verglichen werden.

2 Methodik

Tab. 1 zeigt die chemische Zusammensetzung des untersuchten niederkohligen HSLA-Stahls mit variierendem Bor-Gehalt. Die untersuchte Stahlzusammensetzung ist an Röhrenstähle für den Pipelinebau angelehnt, weist jedoch einen höheren Schwefelgehalt als typische Röhrenstähle auf. Die Untersuchung der Azikularferritbildung erfolgt mit einer vierstufigen Methodik (siehe Abb. 1).

TABELLE 1 Stahlzusammensetzung (Ergebnisse aus Funkenspektrometer- und LECO-Analysen von Tammannofenproben)
Abb. 1
figure 1

Systematische Methodik zur Untersuchung der Azikularferritbildung im Labormaßstab

Im ersten Schritt der Methodik erfolgt die Simulation der Einschlussbildung und -modifikation während der Tammannofenversuche mittels FactSage 6.4 unter Verwendung der Datenbanken FactPS, FToxid und FSstel. Einschlussdiagramme stellen die stabilen Einschlusstypen in Abhängigkeit zweier Legierungselemente dar und ermöglichen so durch Adaptierung der Stahlzusammensetzung die gezielte Einstellung spezifischer Einschlusstypen. Abb. 2 zeigt das Sauerstoff-Schwefel-Einschlussdiagramm für Stahl A. Um sowohl TiOx als auch ASlag, eine homogene Mischung oxidischer und sulphidischer Phasen, hinsichtlich ihrer Wirkung als Keimstellen für Azikularferrit untersuchen zu können, wird ein Ausgangssauerstoffgehalt von 125 Gew.-ppm (log O = -1,9 Gew.-%) eingestellt. Das verwendete Grundmaterial für die Schmelzversuche enthält bereits 80 Gew.-ppm Schwefel (log S = -2,1 Gew.-%). Auf eine weitere Zugabe von Schwefel wurde verzichtet. Laut Einschlussdiagramm für 1500 °C ist MnS bei diesem Schwefelgehalt noch nicht stabil. Jedoch ist zu beachten, dass sich die MnS-Stabilitätslinie mit sinkender Temperatur zu niedrigeren S‑Gehalten verschiebt, so dass sich mit fortschreitender Kühlung MnS auch bei 80 Gew.-ppm S ausscheidet. Die ermittelte Stahlzusammensetzung wird als Input für ein Prozessmodell verwendet, welches schrittweise den Schmelzversuch im Tammannofen simuliert. Abschließend wird die Veränderung der Einschlusslandschaft während der Erstarrung und Kühlung berechnet.

Abb. 2
figure 2

O-S-Einschlussdiagramm Stahl A

Im zweiten Schritt werden Proben in einem Tammannofen erschmolzen. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Erzeugung einer homogen verteilten Einschlusslandschaft durch regelmäßiges Rühren und eine beschleunigte Abkühlung gelegt. Schritt drei stellt die Wärmebehandlung der erzeugten Stähle im Hochtemperatur-Laserscanning-Konfokalmikroskop (HT-LSCM) dar. Der große Vorteil dieses Geräts ist die Möglichkeit, die Keimung und das Wachstum von azikularen Ferritnadeln an nichtmetallischen Einschlüssen in situ beobachten zu können, wie in (Abb. 3) beispielhaft zu sehen.

Abb. 3
figure 3

In situ Beobachtung der Azikularferritbildung in Stahl A-1 mittels HT-LSCM und aktiver (Ti,Mn,Al)OxSy Einschluss

Abschließend erfolgt die metallographische Analyse von Azikularferritgehalt, Austenitkorngröße und Einschlusslandschaft bestehend aus Anzahl, Größe, Typ und Morphologie nichtmetallischer Einschlüsse. Für die Bewertung von Azikularferritgehalt und Austenitkorngröße finden semi-automatisierte Auswerteroutinen Verwendung. Die Charakterisierung von nichtmetallischen Einschlüssen erfolgt mittels REM/EDX-Analysen. Beispielhaft ist in Abb. 3 ein aktiver (Ti,Mn,Al)OxSy Einschluss mit zwei angekeimten Azikularferritnadeln gezeigt.

Weitere Informationen zur entwickelten Methodik sind in Veröffentlichungen der Arbeitsgruppe zu finden [1518].

3 Einfluss von Kühlrate und Bor auf die Azikularferritbildung

Der Einfluss der Kühlrate ist in Abb. 4 dargestellt. Exemplarisch ist das Gefüge in Stahl A für eine mittlere Kühlrate von -200 °C/min und eine langsame Kühlrate von -20 °C/min zwischen 800 und 500 °C gezeigt. Beide Proben bestehen zum Großteil aus Bainit, mit geringeren Mengen an Azikularferrit. Es ist deutlich zu erkennen, dass trotz der starken Variation in der Kühlrate nur geringe Änderungen im Gefüge auftreten.

Abb. 4
figure 4

Einfluss der Kühlrate auf den Azikularferritgehalt in Stahl A

Wie in Abb. 5 zu sehen ist, erhöht die Zugabe von Bor den Anteil an azikularem Ferrit im Gefüge. Durch 12 Gew.-ppm B steigt der Azikularferritgehalt von 8 auf 14 %. Wird der B‑Gehalt weiter auf 33 Gew.-ppm angehoben, sinkt der Azikularferritanteil wieder auf 10 %. Es wird vermutet, dass dies mit der in der Literatur [10, 13] beschriebenen Inaktivierung von Einschlüssen durch Fe23(BC)6-Layer zusammenhängt.

Abb. 5
figure 5

Einfluss von Bor (B) und Kühlrate (CR) auf den Azikularferritgehalt

Auch in den B‑legierten Güten konnte kein signifikanter Einfluss der Kühlrate beobachtet werden. Wie in Abb. 5 für Stahl B gezeigt, verändert sich der Anteil an azikularem Ferrit bei Variation der Kühlrate nicht. Folglich ist die Kühlrate zwar eine essentielle Voraussetzung für die Azikularferritbildung, aber die Menge an Azikularferrit wird im vorliegenden System kaum von der Kühlrate beeinflusst. Es soll jedoch angemerkt werden, dass weitere Untersuchungen in diesem Projekt [16, 18, 19] zeigten, dass der Kühlrateneinfluss stark von der Stahlgüte und dem Herstellprozess abhängt.

4 Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit beschreibt eine systematische Methodik im Labormaßstab zur Untersuchung der Azikularferritbildung in Stählen und deren Einflussfaktoren. Die Methodik wird beispielhaft für die Analyse des Einflusses von Kühlrate und Bor auf den Azikularferritgehalt in niederkohligen HSLA-Stählen angewandt. Dabei konnten folgende Erkenntnisse gewonnen werden:

  1. 1.

    Obwohl die Kühlrate wesentliche Voraussetzung für die Bildung von Azikularferrit ist, ist eine Optimierung des Azikularferritgehalts im untersuchten HSLA-Stahl über die Kühlrate nur schwer möglich, da in dieser Güte der Anteil an azikularem Ferrit über weite Kühlratenbereiche nur geringe Änderungen zeigt.

  2. 2.

    Bor-Zugaben von <30 Gew.-ppm erhöhen den Azikularferritgehalt, bei größeren Zugaben tritt ein gegenteiliger Effekt auf.

  3. 3.

    Der Effekt von Bor auf die Azikularferritbildung hängt nicht von der Herstellroute (Austenitisierung oder Schweißen) ab.