Chronische Schmerzerkrankungen stellen die Betroffenen vor einen ungeheuren Leidensdruck und erschweren oft die Alltagsbewältigung. Um Schmerzpatienten und ihre Erlebensqualität voll erfassen zu können, ist es daher notwendig, auch auf die mentalen Prozesse einzugehen, die sowohl das Schmerzempfinden beeinflussen als auch von der Schmerzerkrankung verändert werden. Forschung zum Copingverhalten bietet vielversprechende empirische Anknüpfungspunkte, um Fragen zu beantworten wie etwa, welche Strategien entwickelt werden, um den Umgang mit einer belastenden Situation zu meistern und die Belastung in einen sinnhaften Zusammenhang zum eigenen Leben zu stellen.

Einen Ansatz dazu bieten von jeher Religion und Spiritualität, die sowohl inhaltlich als auch in ihrer Eigenschaft als kognitive Bezugssysteme des Menschen eng mit Leiden und Schmerz verknüpft sind. Die erste der 4 edlen Wahrheiten, auf die sich alle buddhistischen Schulen beziehen, ist die des „dukkha“ – Leben ist Leiden und Schmerz. Der Weg des Buddha zielt darauf, Schmerz und Leiden zu überwinden. Erleuchtung, Erlösung und Transzendenz orientieren das Menschliche in allen Religionen auf einen Weg hin, der aus dem Schmerz, der mit der diesseitigen Welt verbunden ist, hinausführt. So sind es die physischen Leiden und die Schmerzen am Kreuz – bildhaft im Neuen Testament der Bibel beschrieben –, durch die der Sohn Gottes allen Menschen Erlösung gewährt. Gerade im christlichen Kontext wird Schmerz als zutiefst sinnstiftendes Element des Menschseins konzeptualisiert. Aufgabe des Individuums ist es, durch die Zuweisung von Bedeutung dem Schmerz Sinn zu geben und somit das eigene Leben hin zur Transzendenz auszurichten [1]. In diesem Tun können beispielsweise Christen dem Vorbild Jesu nachfolgen (z. B. „Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist mein nicht wert.“ Mt 10,38). Im spirituellen Sinne sind also der Umgang mit und die Überwindung von Leiden und Schmerz das, was einem Leben Bedeutung und Qualität gibt [2].

Es fällt auf, dass bedingungsloser Glaube beispielsweise Märtyrer dazu befähigt, sich sogar objektiv unerträglichen physischen Qualen zu stellen. Man denke an die Steinigung des Stephanus. Auch ist physisches Aushalten von Schmerz fester Bestandteil religiöser Praktiken in verschiedensten Kulturen – beispielhaft seien Selbstgeißelungen im Zusammenhang mit christlichen Passionsfeiern ebenso wie mit shiitischen Aschura-Gedenkprozessionen genannt.

Religionen deuten auf den Weg, der aus der schmerzerfüllten Welt hinausführt

Ebenso sind oft körperliche Beherrschung und Überwindung von Schmerz als Vehikel vom weltlichen Menschsein zur Transzendenz zu verstehen. Schamanen, Fakire, indische Asketen, Meditierende in Naturreligionen bis hin zu japanischen Zen-Mönchen machen es sich zur Aufgabe, durch bisweilen extrem schmerzhafte Praktiken ihren Körper zu überwinden und somit Zugang zum Geistigen zu erlangen. Das Erleben von Schmerzen ebenso wie das Leben mit Schmerz ist philosophisch-spirituell also eng mit den existenziellen Fragen des Menschseins verknüpft. Schmerz wird zur indirekten Voraussetzung für Sinnhaftigkeit. Selig sind, die da Leid tragen – denn eben gerade sie sollen getröstet werden (nach Mt 5,4).

Doch inwieweit lässt sich diese existenzphilosophische Betrachtung mit dem tatsächlichen Schmerzerleben von Patienten in Verbindung bringen?

Glaube kann ein Bezugs- bzw. Attributionssystem sein, das es dem Individuum erlaubt, die von Vielschichtigkeit geprägten Lebensereignisse als sinnhaftes Ganzes zu erfassen, Komplexität durch Strukturierung zu reduzieren und die eigene Position im Anforderungsgefüge zu bestimmen. Auch für Schmerzpatienten ist es in der Auseinandersetzung mit ihrer Krankheit zentral, wie sie ihre Belastungssituation einordnen und bewerten. Aktuelle Entwicklungen in der psychologischen Forschung weisen immer mehr auf die einschlägige Bedeutung von Coping hin. Sowohl inhaltliche als auch strukturale Aspekte dieses kognitiven Prozesses bestimmen maßgeblich die Bewertung von und den Umgang mit Belastung.

Die vergleichende Arbeit von Appel et al. [3] zu „subjektiver Belastung und Religiosität bei chronischen Schmerzen und Brustkrebs“ stellt insofern einen Meilenstein für die empirische Forschung dar, als hier erstmals direkt Patienten mit chronischen Schmerzerkrankungen solchen, die sich einer akuten Belastungssituation (operationalisiert durch die Diagnose „Brustkrebs“) ausgesetzt sehen, gegenübergestellt werden. Die Belastung wird von Ersteren durchgängig als höher empfunden, und dies weist eindeutig auf die enormen Auswirkungen von Schmerzerkrankungen auf das Befinden des Einzelnen – selbst im Vergleich zu Patienten mit Krebsdiagnose – hin. Schmerz ist ein ernstes Phänomen, das – wenn auch meist nicht lebensgefährlich – in seiner subjektiven Beschwerdequalität nicht unterschätzt werden darf. Die empirischen Analysen deuten zudem darauf hin, welch hohe Anforderungen Schmerz an mentale Bezugs- und Integrationssysteme stellt. Spezifische Charakteristika chronischer Schmerzen – beispielsweise ihre Langwierigkeit und die durch sie verursachte starke Beeinträchtigung des Alltagslebens – scheinen resignatives Verhalten zu begünstigen und schwächen somit Copingmechanismen. Glaube kann dann nicht die Hilfestellung leisten, die er beispielsweise den Brustkrebspatientinnen bietet.

Zielen klinische Maßnahmen darauf ab, die Lebensqualität von Schmerzpatienten nachhaltig zu verbessern, so muss unter allen Umständen die schmerzregulierende Bedeutung mentaler Prozesse mitberücksichtigt werden.

Aus Wissen um selbige ergeben sich nicht zuletzt Implikationen für die Praxis. Klarheit über die Zusammenhänge chronischer Schmerzerkrankungen und gesundheitsbezogener Lebensqualität im Hinblick auf Attributions- und Copingstrategien ermöglichen gezielte therapeutische Interventionen. Hier sind weitere umfassende empirische Arbeiten unverzichtbar. Angesichts der enormen Anforderungen und der starken Alltagsbeeinträchtigungen, denen Schmerzpatienten ausgesetzt sind, greifen viele Bewältigungsstrategien nicht mehr, sodass die Entwicklung und Unterstützung schmerzspezifischer Copingstrategien und Therapieansätze entscheidend ist.

Hier setzt auch die Arbeit von Huge et al. [4] an. Die Autoren betonen die Bedeutung von interdisziplinärer Kooperation und multimodalem Assessment im Zusammenhang mit Schmerzerkrankungen und leisten einen wertvollen Beitrag zur Diskussion um die Effektivität der Versorgung von Patienten mit chronischen Schmerzen. Sie untersuchen in ihrer Arbeit erstmals die Einflüsse einer ambulanten individuellen Therapie auf Schmerzen und gesundheitsbezogene Lebensqualität bei Patienten mit chronischen Schmerzen und vergleichen sie mit denen gruppentherapeutischer Konzepte. Überraschenderweise führt die vorgestellte multidisziplinäre Einzeltherapie zu keiner umfassenden Verbesserung der Schmerzsymptomatik und Lebensqualität der Patienten. Insbesondere im Vergleich zu multimodalen Gruppentherapien liefert sie keine zufriedenstellenden Ergebnisse. Auffällig ist die oft multiple psychologische Komorbidität, die ein Großteil der untersuchten Patienten aufweist, und der Hinweis darauf, dass insbesondere die depressive Symptomatik von Schmerzpatienten durch die individualisierte Therapie nicht positiv beeinflusst wird. Interessant wäre, in einem zweiten Schritt die Kausalzusammenhänge zu beleuchten, die solchen Ergebnissen zugrunde liegen.

Es kann nur spekuliert werden, dass Schmerzpatienten – worauf auch die Studie zu Schmerzempfinden und Religiosität hinweist – einer so hohen subjektiven Belastung und Resignation ausgesetzt sind, dass es für das kognitive System extrem schwer ist, auf adäquate Bewältigungsstrategien zurückzugreifen.

Akzeptanz und Umgang mit der Erkrankung scheinen in einem gruppentherapeutischen Setting deutlich leichter zu fallen.

Der gegenseitige Austausch unter den Gruppenteilnehmern fördert vermutlich die Akzeptanz und die sinnstiftende Umdeutung der eigenen Krankheit, und in der Gruppe gilt der Satz: „Geteilter Schmerz ist halber Schmerz.“

Die Arbeiten in diesem Heft verdeutlichen einmal mehr die Notwendigkeit, das Phänomen „Schmerz“, insbesondere in seiner chronischen Form, multidisziplinär zu verstehen. Die Einbeziehung psychologischer und mentaler Prozesse ist dabei unerlässlich. Sie sind sowohl für die Schmerzwahrnehmung, Schmerzregulation als auch für den alltäglichen Umgang mit Schmerzsymptomatik entscheidend. Sie zu erforschen, zu verstehen und in Therapiekonzepte einzubeziehen macht es erst möglich, die Lebensqualität von Schmerzpatienten nachhaltig zu verbessern.

S. Murken