Einführung

Demenzen gehören zu den häufigsten Erkrankungen, die mit dem Alter assoziiert sind. Schon im Jahr 2014 betrug die Prävalenz der Demenzerkrankungen, also der Anteil der Krankheitsfälle an der gesamtdeutschen Bevölkerung, in der Altersgruppe von 65 und älter 10,3 %. Die Prävalenz steigt mit zunehmendem Alter stark an. Bei den 90–94-Jährigen waren 2014 36,5 % der Frauen und 28,9 % der Männer betroffen. Prognosen zeigen unter Berücksichtigung verschiedener Szenarien hinsichtlich eines Anstiegs der Lebenserwartung eine Zunahme der Prävalenz durch die Alterung der geburtenstarken Jahrgänge (Baby-Boomer). So wird die Anzahl der Menschen mit Demenz (MmD) im Alter von 65 Jahren und älter von 1,8 Mio. im Jahr 2025 auf 2,6–2,8 Mio. im Jahr 2055 geschätzt (Georges et al. 2023).

Demenzen stellen außerdem einen der Hauptgründe für Pflegebedürftigkeit dar (Georges et al. 2023). Dabei stellt die Langzeitbetreuung und Pflege von MmD hohe Anforderungen an die Kompetenz des Pflege- und Betreuungspersonals. Verhaltenssymptome und psychologische Symptome der Demenz (z. B. Agitation, Ruhelosigkeit, Erkennungsstörungen) (Edberg et al. 2012) stellen dabei eine besondere Herausforderung dar, auf die Pflegende kommunikativ antworten müssen. Eine Vielzahl psychosozialer Ansätze stehen für die soziale Interaktion und Beziehungsgestaltung zwischen Pflegenden und Betroffenen und der Unterstützung personaler Identität von MmD zur Verfügung (Fossey 2014). Mag Realitätsorientierung zur Verbesserung der kognitiven Funktion (Chiu et al. 2018) zu Beginn einer Demenz noch sinnvoll sein, führt sie in späteren Stadien nicht selten zu Konflikten, bzw. zu starken emotionalen Reaktionen, etwa, wenn eine Person ihre verstorbene Mutter sucht und durch eine Pflegende über deren Tod aufgeklärt wird.

Lügen

In einer solchen Situation werden zuweilen so genannte „good or white lie[s]“ (Casey et al. 2020) erzählt, was im Kontext der Demenz auch als therapeutisches Lügen bezeichnet wird (vgl. Tab. 1). Gute Lügen werden als Lügen definiert, die erzählt werden, um höflich zu sein oder jemanden vor einer für ihn belastenden Wahrheit zu schützen (Casey et al. 2020). James et al. (2006) zeigten in einer britischen Studie, dass nur zwei von 112 befragten MitarbeiternFootnote 1 in verschiedenen Pflegesettings für ältere Menschen sagten, dass weder sie noch ihre Kollegen jemals gelogen haben. Auch in einer kanadischen Studie berichteten 13 von 16 Teilnehmer eines Workshops, dass sie in ihrer Rolle als professionell Pflegende oder persönliche Assistenz von MmD von der Lüge Gebrauch gemacht haben (Hartung et al. 2021). Wie die Studie von Turner et al. offenlegt, kommen Lügen auch in der Versorgung von MmD in Krankenhäusern vor (Turner et al. 2017). Unter der Bezeichnung therapeutisches Lügen wird die Lüge als nicht-pharmakologische Intervention zur Reduzierung psychologischer oder Verhaltenssymptome eingesetzt, und als Benefit der verminderte Einsatz pharmazeutischer oder physikalischer Mittel zur Freiheitseinschränkung hervorgehoben (Carcavilla-González et al. 2023).

Tab. 1 „Therapeutische Lüge“ in der Versorgung von MmD

Täuschung

Pflegende nutzen in stationären Pflegeeinrichtungen aber auch noch andere Interventionen, die das Potenzial haben, Mmd zu täuschenFootnote 2, und deren Einsatz ethisch zu begründen ist (vgl. Tab. 2). Eine Täuschung kann definiert werden als eine kommunikative Handlung, die Menschen irreleitet, ohne ihnen tatsächlich falsche Informationen zu geben (Elvish et al. 2010). „Schein-Elemente“ (Graf-Wäspe 2016, S. 7), wie zum Beispiel Bushaltestellen, an denen kein Bus fährt (Lorey 2019), falsche Zugabteile, in denen ein Film die vorbeiziehende Landschaft simuliert (Graf-Wäspe 2016), das Verstecken von Medikamenten in Nahrungsmitteln (Young und Unger 2016; Haw und Stubbs 2010) werden in der Literatur diskutiert. Dabei wird die Täuschung von MmD, z. B. im Falle der versteckten Arzneimittel, bewusst intendiert oder, im Falle einer falschen Bushaltestelle, zumindest in Kauf genommen. Und obwohl „Virtual Reality (VR) technologies“ (Appel et al. 2021, S. 1), und als solche lassen sich falsche Zugabteile, in denen ein Film die vorbeiziehende Landschaft simuliert, verstehen, positive Effekte bei MmD auslösen können (Appel et al. 2021), handelt es sich auch hier um eine Täuschung, wenn Menschen nicht verstehen, dass die dargestellte Realität nicht wirklich existiert.

Tab. 2 Beispiele für Interventionen, die das Potenzial haben, Menschen zu täuschen, und zu ethischen Konflikten führen könnena

Um zu zeigen, dass die Lüge und die Täuschung durchaus unterschiedlich bewertet werden können, werfe ich im Folgenden einige Schlaglichter auf bedeutende ethische Theorien der Antike, des Mittelalters, des Zeitalters der Aufklärung sowie des 20. und 21. Jahrhunderts.

Einige Schlaglichter auf den philosophischen Diskurs um Lügen und Täuschung

In der Literatur der griechischen Antike werden Fragen von Unwahrhaftigkeit als menschliche Schwäche oder Unfähigkeit und daher im Rahmen der Tugendethik behandelt. Aus diesen Schwächen resultierende Täuschungen lassen sich nicht mit den gegensätzlichen Polen von Wahrheit und Falschheit beschreiben und werden daher auch nicht grundsätzlich als ethisch verwerflich verurteilt. In Platons Werk Der Staat werden Täuschungen als nützlich geschätzt, etwa um Gefahren durch Feinde oder psychiatrisch Erkrankte abzuwenden oder wenn Ärzte von ihr in der Kommunikation zu Patienten Gebrauch machen. Es werden aber auch Voraussetzungen für die „edle (..) politische (..) Lüge“ (Lotter 2017a, S. 57) genannt: 1. Der Belogene ist nicht in der Lage die wahre Aussage zu akzeptieren und zu verstehen. 2. Der durch die Lüge verursachte Schaden ist geringer als ihr Nutzen für den Belogenen. 3. Der Lügner nimmt eine glaubwürdige Position gegenüber dem Belogenen ein und verfügt über ein dem Belogenen nicht zugängliches Wissen (Lotter 2017a).

In der römischen Antike unterscheidet man zwischen der „Lüge im Sinne der vorsätzlichen Falschrede in Täuschungsabsicht (…) und dem Irrtum“. Sowohl die vorsätzliche Falschrede als auch „andere Formen der listigen Täuschung“ werden von Cicero als „zwischenmenschliche Treulosigkeit“ aufgefasst, die die Verbindung zwischen den Menschen verletzt. Daher sind sowohl die vorsätzliche Falschrede als auch die listige Täuschung für Cicero moralisch nicht zu vertreten (Lotter 2017b, S. 94).

Die moralische Verwerflichkeit von Lüge und Täuschung ist im neuen und alten Testament abhängig von der jeweiligen Situation. Entgegen der Annahme, eine Lüge sei durch das biblische 8. Gebot „Du sollst nicht als falscher Zeuge aussagen gegen deinen Nächsten“ (zit. nach Rösel 2017, S. 107) grundsätzlich verboten, handelt es sich bei diesem Verbot lediglich um ein Verbot der Falschaussage vor Gericht (Rösel 2017). Moraltheologische Schriften kennen außerdem den Begriff der List, einerseits „verstanden als arglistige Täuschung“, andererseits aber auch als „Witz und Findigkeit, Mut zu außergewöhnlichen Vorgehensweisen, Bewunderung von Einfallsreichtum, Überraschung und Erstaunen“ (Schockenhoff 2017, S. 113). Dieses positiv konnotierte listige Verhalten ist im Verlauf der Kirchengeschichte zur Schadensabwehr oder zur Selbstverteidigung moralisch akzeptabel geblieben. So räumt Thomas von Aquin ein, der die Wahrhaftigkeit in Wort und Tat als moralische Pflicht ansieht, dass das Geheimhalten der Wahrheit gegenüber eindringlich Fragenden oder das „Verbergen militärischer Absichten im Krieg“ erlaubt sei (Schockenhoff 2017, S. 117).

Der Aufklärer Immanuel Kant ist ein konsequenter Gegner der Lüge und versteht darunter eine Aussage, die der Lügner selbst für unwahr hält. Etwas zu verschweigen ist hingegen moralisch erlaubt, wenn nicht andere Pflichten den Lügner zur Wahrhaftigkeit verpflichten (Timmermann 2017). Kant lehnt die Lüge vor allem aus folgendem Grund ab: Durch die Lüge macht sich der Lügner selbst „zum Gegenstand der Verachtung, und verletzt die Würde der Menschheit in seiner eigenen Person“ (Kant 1990, S. 312). Auch für eine gutmütige Lüge und deren möglicherweise negativen Folgen muss sich der Lügner vor Gericht verantworten und dafür büßen, weil die Pflicht zur Wahrhaftigkeit die Basis für andere, durch einen Vertrag begründete Pflichten ist (Kant 2017).

Der englische Philosoph Bernhard Williams stellt 2003 in seinem Buch Wahrheit und Wahrhaftigkeit fest, dass es Fälle gibt, „in denen es keine bessere Handlung gibt als das Täuschen“ (Williams 2003, S. 186). Es komme aber darauf an, nicht streng einer Regel zu folgen, sondern ein Gespür dafür zu haben, für welche Fälle man eine Ausnahme machen könne. Dieses Gespür erlangt man Williams zufolge durch „Neigung zur Aufrichtigkeit“ (Williams 2003, S. 186). Damit ist gemeint, dass wir dazu neigen aufrichtig zu sein, um Beziehungen zu anderen Menschen zu pflegen, die von Vertrauen geprägt sind. Diese Aufrichtigkeit helfe uns zu sehen, in welchen Fällen durch eine Täuschung etwas verloren gehen könne (Williams 2003).

Die Überzeugung, dass die Täuschung eine eher seltene und ungewöhnliche Ausnahme sein sollte, teilt auch Sissela Bok, wenn sie auch grundlegend die Auffassung vertritt, dass Ärzte und Pflegende zur Wahrheit gegenüber Patienten verpflichtet sind. Die Entscheidung für diese ungewöhnliche Ausnahme solle aber mit allen an der Betreuung des Patienten beteiligten Personen besprochen und Gründe sowie Alternativen sorgfältig abgewogen werden. Außerdem müsse die korrekte Information einer dem Patienten nahestehenden Person mitgeteilt werden (Bok 1999).

Anliegen und Methodik des vorliegenden Beitrags

Wenn empirische Studien zeigen, dass Mitarbeiter im Gesundheits- und Pflegesektor das therapeutische Lügen meist positiv beurteilen und ethisch akzeptabel finden (Lopes et al. 2022; Cantone et al. 2019), kann daraus nicht automatisch abgeleitet werden, dass die Wahl dieser Intervention auch ethisch angemessen ist.Footnote 3 Hierzu bedarf es einer ethischen Analyse, in der verschiedene normative Theorien die Argumentation leiten können. Wie Bok empfiehlt, müssen Gründe und Alternativen im Kollegenkreis abgewogen werden (Bok 1999) und dafür ist die Ethikberatung das richtige Setting. Der vorliegende Beitrag untersucht anhand einer fiktiven, auf der Basis von Literatur konstruierten Fallschilderung, in der eine Pflegheimbewohnerin mit Hilfe eines vorgetäuschten Telefonanrufs daran gehindert wird, das Pflegeheim zu verlassen, unter Anwendung der praxisnahen, prinzipienorientierten Falldiskussion die ethische Problematik der „therapeutischen“ Lüge und Täuschung in der Versorgung von MmD. Für die Wahl dieser Methode gibt es einen pragmatischen Grund: Die prinzipienorientierte Falldiskussion ist ein in Deutschland anerkanntes Verfahren der Ethikberatung, welches viele Pflegende kennen und damit ist die Argumentation für viele Pflegende leicht nachvollziehbar. Die Grenzen dieses Ansatzes zeige ich in der Diskussion auf, in der auch andere ethische Perspektiven diskutiert werden.

Der Fall

Die 86-jährige Frau Meier ist an Demenz erkrankt und wohnt in einem Pflegeheim. Seit ihrem Heimeinzug beobachten die Pflegenden eine Weg-, bzw. Hinlauftendenz. Mehrmals täglich versucht die Bewohnerin, das Pflegeheim zu verlassen und „weder Engelszungen noch technische Hilfsmittel wie Lichtschranken oder versteckte Türöffner“ (Sachweh 2005, S. 293) hindern sie daran. Immer wieder muss die alte Dame von den PflegekräftenFootnote 4 abgefangen werden und unter Zwang in den Wohnbereich zurückgeführt werden, worunter auch die Pflegenden leiden. In einer Fallbesprechung entsteht die Idee, an die ehemalige berufliche Tätigkeit der Bewohnerin als Chefsekretärin und den damit verbundenen Antrieb zu appellieren, um sie auf diese Weise am Weglaufen zu hindern. Indem sie ihr zurufen „Frau Meier, Telefon!“ appellieren sie an ihr Pflichtbewusstsein, ihren Ehrgeiz und Stolz und prompt kehrt Frau Meier um und läuft ins Dienstzimmer zum Telefon. Man reicht ihr den Hörer und lässt sie mit einer Pflegekraft telefonieren, die vorgibt einen Termin beim Chef von Frau Meier zu vereinbaren. Nach diesem Telefonat betonen die Pflegenden, wie wichtig die Tätigkeit von Frau Meier ist und wie vorbildlich sie diese ausführt. Man bietet ihr eine Tasse Kaffee an. Frau Meier ist dann erstmal eine Weile zufrieden. Bei den Pflegenden stellen sich allerdings auch Zweifel ein, ob diese Art von Täuschung ethisch vertretbar ist. Während einige Kollegen der Meinung sind, es gehe doch darum, die Dame möglichst zufrieden zu stellen und da sei jedes Mittel recht, äußern andere Kollegen Unbehagen darüber, dass sie Frau Meier anlügen und täuschen müssen, was einige mit ihrem christlichen Ethos nicht vereinbaren können (modifiziert nach einem Beispiel von Sachweh 2005)Footnote 5.

Prinzipienorientierte Falldiskussion

Die Strukturierung der prinzipienorientierte Falldiskussion basiert auf den von Georg Marckmann entwickelten, unveröffentlichten Schulungsunterlagen zum K1-Kurs aus dem Jahr 2021.

Die Prinzipienorientierte Falldiskussion ist ein in Deutschland übliches, praxisorientiertes Verfahren der ethischen Fallbesprechung. Die Fallbesprechung beruht auf der Anwendung der vier bioethischen Prinzipien nach Beauchamp und Childress (2001): Benefizienz (Gutes tun), Non-Malefizienz (nicht schaden), Autonomie und Gerechtigkeit. Diese wiederum wurden von früheren ethischen Theorien abgleitet (Beauchamp and Childress 2001). Die Falldiskussion verläuft in fünf Schritten: Im ersten Schritt (Analyse) wird der Fall zunächst unter medizinischen, pflegerischen und sozialen Gesichtspunkten analysiert. Die Diagnose, mögliche Behandlungsstrategien (hier: Pflegeinterventionen) mit ihren Chancen und Risiken werden aufgezeigt. In einem zweiten Schritt (Bewertung 1) wird die ethische Verpflichtung gegenüber dem Patienten unter Berücksichtigung der Prinzipien Autonomie und Benefizienz/Non-Malefizienz diskutiert. Es wird herausgearbeitet, welche Behandlungsstrategie diesen Prinzipien am ehesten gerecht wird. In Schritt drei (Bewertung 2) erfolgt eine weitere Bewertung; hier wird zusätzlich das Prinzip der Gerechtigkeit herangezogen und diskutiert, welche ethischen Verpflichtungen gegenüber Dritten (z. B. Familie, andere Patienten, Gesellschaft) bestehen und mit welcher Behandlungsstrategie diesen Verpflichtungen nachgekommen werden kann. Im vierten Schritt (Synthese) erfolgt eine Abwägung aller eingebrachten Prinzipien. Hier zeigt sich in der Regel der ethische Konflikt und häufig muss einem oder mehreren Prinzipien mehr Gewicht zuungunsten eines anderen Prinzips verliehen werden. Bevor es zu einer endgültigen Entscheidung kommt, sollte im fünften Schritt eine kritische Reflexion erfolgen und der stärkste Einwand gegen die angedachte Lösung des Konflikts benannt werden. Es sollte diskutiert werden, ob und wenn ja wie negative Effekte der angedachten Lösung hätten vermieden werden können.

Fallanalyse

Analyse: Medizinische Aufarbeitung des Falls

Information über die Bewohnerin (medizinisch, psychosozial)

Frau Meier ist an einer Alzheimer-Demenz erkrankt. Diese Erkrankung führt gemäß ICD 10 zu Beeinträchtigungen im „Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache und Urteilsvermögen. Das Bewusstsein ist nicht getrübt. Die kognitiven Beeinträchtigungen werden gewöhnlich von Veränderungen der emotionalen Kontrolle, des Sozialverhaltens oder der Motivation begleitet, gelegentlich treten diese auch eher auf“ (BfArM 2024). Eine der Pflegediagnosen, die die Pflegenden in Frau Meiers Pflegeplan dokumentiert haben, ist „Ruheloses Umhergehen“, definiert als „zielloses oder sich wiederholendes Hin- und Her-Gehen und Sich-Fortbewegen, das die betreffende Person einem Verletzungsrisiko aussetzt; häufig unvereinbar mit Barrieren, Grenzen oder Hindernissen“ (NANDA International 2016, S. 256). Bei Frau Meier zeigt sich außerdem eine „chronische Verwirrtheit“ (NANDA International 2016, S. 289), was sich in Gedächtnis- und Orientierungsstörungen sowie einer eingeschränkten Urteilsfähigkeit bemerkbar macht. Sie möchte mehrmals täglich das Pflegeheim verlassen und begibt sich damit in Gefahr. Frau Meier war früher Chefsekretärin. Sie ist ledig und kinderlos und hat keine Patientenverfügung. Eine ehemalige Kollegin und Freundin kommt sie regelmäßig besuchen.

Als (Be‑)Handlungsstrategien stehen in der aktuellen Situation die folgenden zur Verfügung:

  1. a)

    Frau Meier orientieren und darauf hinweisen, dass sie das Heim nicht verlassen soll. Falls erforderlich unter Zwang zurückführen.

  2. b)

    Frau Meier mit einem vorgetäuschten Telefonanruf, bei dem an ihre Antriebe appelliert wird, zurückrufen.

  3. c)

    Frau Meier nach draußen begleiten, mit ihr spazieren gehen, sich mit ihr unterhalten, herausfinden, wohin sie gehen möchte und was das für sie bedeutet, damit verbundene Antriebe und Gefühle validieren (Erdmann and Schnepp 2016) (z. B. ihre Arbeit wertschätzen), gemeinsam zurückgehen.Footnote 7

Wie wird wahrscheinlich der weitere Verlauf für Frau Meier bei jeder der verfügbaren Handlungsoptionen sein?

  1. a)

    Frau Meier wird nicht zurückgehen wollen und nicht einsehen, dass sie zurückgehen muss. Das Vertrauensverhältnis zwischen der Bewohnerin und den Pflegenden kann bei der Ausübung von Zwang beeinträchtigt werden. Die Bewohnerin wird wieder versuchen, das Heim zu verlassen.

  2. b)

    Frau Meier wird in ihren Antrieben (Pflichtbewusstsein als Chefsekretärin zu arbeiten) bestätigt. Sie wird für kurze Zeit zufrieden gestellt, da sie „arbeiten“ kann. Die Bewohnerin wird allerdings wieder versuchen, das Heim zu verlassen.

  3. c)

    Frau Meier wird nach draußen begleitet, kann also ihrem Antrieb, das Heim zu verlassen folgen. Durch das Gespräch wird sie vergessen, was sie eigentlich tun wollte, und mit der Begleitperson zurückkehren. Möglicherweise wird sie später erneut versuchen, das Heim zu verlassen.

Fallbewertung 1: Ethische Verpflichtungen gegenüber der Bewohnerin

Welche der verfügbaren Handlungsoptionen sind aus der Fürsorgeperspektive für Frau Meier am besten (Wohltun und Nichtschaden)?

Die Handlung a) unter Zwang zurückführen verhindert zwar, dass die Bewohnerin in Gefahr gerät (sich draußen verirrt, unterkühlt etc.), doch kann sie durch die erfahrene Gewalt psychisch beeinträchtigt werden. Diese Lösung dient nicht einer Verbesserung des Vertrauensverhältnisses zwischen Pflegenden und der Bewohnerin, im Gegenteil, es besteht die Gefahr, dass die Bewohnerin noch häufiger weglaufen möchte. Die Handlung b) Telefonanruf führt sehr wahrscheinlich zunächst für die Bewohnerin zur Zufriedenheit. Sie wird betreut, es findet Kommunikation statt, ihre Antriebe werden validiert, sie bekommt Kaffee, es findet also Fürsorge statt. Der realitätsbedingte Stress wird reduziert. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass die Bewohnerin den vorgetäuschten Anruf in einem lichten Moment, wie sie auch bei einer Demenz durchaus vorkommen (Dresser 2021), bemerkt. Auch dann könnte das Vertrauensverhältnis beeinträchtigt werden (Day et al. 2011). Die Handlung c) Spaziergang führt wahrscheinlich ebenso erst einmal zur Zufriedenheit, da Frau Meier in ihrem Antrieb, irgendwo hin gehen zu wollen, ernst genommen wird. Eine Pflegende begleitet sie und kommuniziert mit ihr, ihre Antriebe werden validiert, die Bewohnerin kann sich bewegen, es findet Fürsorge statt. Frau Meier wird vergessen, wohin sie wollte, und kehrt wahrscheinlich ermüdet zurück. Sie wird sich erstmal ausruhen wollen. Ein Schaden ist nicht zu erwarten.

Welche der verfügbaren Handlungsoptionen würde Frau Meier, nach entsprechender Aufklärung, bevorzugen (Autonomie)?

Es liegen keine Informationen darüber vor, was Frau Meier tatsächlich bevorzugen würde. Es ist aber anzunehmen, dass sie die Handlung a) unter Zwang zurückführen nicht präferieren würde. Diese Handlung widerspricht dem Prinzip der Autonomie, denn die Bewohnerin möchte hinaus gehen und kann damit ihrem selbstbestimmten Willen nicht folgen. Die Handlung b) Telefonanruf kann die Autonomie der Bewohnerin beeinträchtigen (Elvish et al. 2010), da sie keine Wahl hat zwischen der Realität und der Täuschung, sich also nicht dafür oder dagegen entscheiden kann. Allerdings weisen empirische Ergebnisse darauf hin, dass einige MmD Täuschungen durchaus akzeptabel finden, wenn sie in ihrem Interesse sind, andere wiederum lehnen Lügen und Täuschungen strikt ab (Day et al. 2011). Die Handlung c) Spaziergang schränkt die Person nicht in ihrer Autonomie ein. Denkbar ist, dass die Bewohnerin auch nach einer Weile nicht zurück gehen möchte, und die Pflegenden dann wieder Zwang ausüben müssten. Erfahrungsgemäß ist das aber unwahrscheinlich, wenn man sie mit der Aussicht auf eine Tasse Kaffee oder sonstigen Dingen, die sie gern mag, zum Zurückgehen motivieren kann.

Fallbewertung 2: Ethische Verpflichtungen gegenüber Dritten

Welche der verfügbaren Handlungsoptionen sind für andere beteiligte Personen am besten (Wohltun, Nicht-Schaden, Gerechtigkeit)?

Die Handlung a) unter Zwang zurückführen schadet den Pflegenden, die unter dieser Handlung leiden (Jansen et al. 2020). Die Handlung b) Telefonanruf ist für die Pflegenden erstmal eine gute und zeitsparende Lösung. Einige Pflegende scheinen aber auch mit dieser Lösung nicht zufrieden zu sein, da ihnen eine Lüge oder Täuschung mit ihrem christlichen Ethos unvereinbar erscheint (Flierl 2022). Daher kann diese Lösung zu Konflikten im Pflegeteam führen. Andere Bewohner, die vielleicht noch besser orientiert sind, und diese Szene beobachten, könnten außerdem befürchten, auch sie würden getäuscht, was bei ihnen Gefühle des Ausgeliefertseins, des Vertrauensverlusts oder gar Angst auslösen könnte. Die Handlung c) Spaziergang kostet die Pflegenden wahrscheinlich am meisten Zeit. Möglicherweise muss diese Zeit bei anderen Bewohnerinnen eingespart werden, was diesen Bewohnern schaden könnte, z. B. wenn dadurch notwendige Prophylaxen vernachlässigt. werden.

Synthese

Konvergieren oder divergieren die ethischen Verpflichtungen, die aus den einzelnen medizinethischen Prinzipien resultieren?

Die Prinzipien des Wohltuns und des Nichtschadens sind mit den Handlungen a) und b) unvereinbar, da bei beiden Handlungen das Vertrauensverhältnis zwischen der Bewohnerin und den Pflegenden Schaden nehmen kann. Auch das Prinzip der Autonomie spricht gegen eine Wahl der Handlungen a) und b), da die Bewohnerin in ihren Selbstbestimmungsmöglichkeiten eingeschränkt wird. Da bei Handlung c) gegenüber Frau Meier zumindest die Prinzipien des Wohltuns/Nicht-Schadens und der Autonomie Beachtung finden, diese Lösung eher mit dem christlichen Ethos einiger Pflegender vereinbar erscheint und andere Bewohner nicht fürchten müssen, sie würden ebenfalls getäuscht, sollte diese Lösung präferiert und evaluiert werden. Insbesondere die Folgen für die Versorgung andere Bewohner sollten geprüft werden.

Kritische Reflexion des Falls

Welches ist der stärkste Einwand gegen die gewählte Option und wie hätte der ethische Entscheidungskonflikt ggf. vermieden werden können?

Der stärkste Einwand gegen Lösung c) ist der erforderliche Zeitaufwand und die Notwendigkeit, eine erfahrene, in Validation geschulte Pflegeperson für die Begleitung der Bewohnerin abzustellen. Die Lösung c) kann daher an Umsetzungsschwierigkeiten in der Praxis scheitern, aus prinzipienethischer Sicht ist sie aber den anderen Lösungen vorzuziehen. Um einen derartigen Entscheidungskonflikt zu vermeiden, empfehlen Day et al. (2011), dass Patienten mit einer Demenz ihre Präferenzen bezüglich Lügen und Täuschung in einer Patientenverfügung für einen späteren Zeitpunkt festlegen (Day et al. 2011). Wenn MmD im Voraus Interventionen zugestimmt haben, die das Potenzial haben zu täuschen, können diese Interventionen im Interesse der Person angewendet werden, ohne die Autonomie der Person zu beeinträchtigen. Gleichwohl muss bei einer solchen Entscheidung aber auch das Prinzip des Nicht-Schadens berücksichtigt werden.

Diskussion

Die Analyse zeigt, dass die Täuschung durch einen fingierten Telefonanaruf, als eine von drei möglichen Handlungsoptionen, aus der Fürsorgeperspektive positiv bewertet werden kann, da die Bewohnerin ohne Zwang am Verlassen des Heimes gehindert wird. Das Prinzip der Autonomie aber wird verletzt, da die Bewohnerin nicht frei zwischen der Täuschung und der Realität wählen kann. Hinsichtlich der Verpflichtung gegenüber Dritten ist die Täuschung problematisch, da orientierte Bewohner die Szene beobachten und befürchten könnten, sie würden ebenfalls getäuscht. Die Synthese der verschiedenen Argumente zeigt, dass ein Spaziergang in Verbindung mit einem validierenden Gespräch als weitere Handlungsoption die Prinzipien der Fürsorge und Autonomie in Einklang bringt, aber aufgrund des Zeitaufwands das Risiko einer ungerechten Verteilung der Pflegeressourcen birgt. Unter der Vorrausetzung äußerst begrenzter Pflegeressourcen, wie sie in der Pflegepraxis vorherrschen, zeigt das Ergebnis, dass es keine ideale Lösung gibt, dass alle drei geprüften Handlungsoptionen das Potenzial haben, Dritten zu schaden. Das Risiko zu schaden dürfte aber bei der alternativen Handlungsoption Spaziergang geringer sein, als bei allen anderen Optionen. Täuschungen ließen sich aus prinzipienethischer Perspektive nur dann legitimieren, wenn MmD ihre Präferenzen bezüglich Lügen und Täuschung in einer Patientenverfügung festlegen, wodurch dem Prinzip der Autonomie Genüge getan würde (Day et al. 2011). Allerdings erfordert dies zu antizipieren, wie man sich als MmD fühlen wird, was vielen Menschen schwerfallen dürfte. Viele Menschen schließen außerdem keine Patientenverfügung ab und wenn, werden Details zur Versorgung und Pflege bei Demenz häufig nicht in das Dokument aufgenommen (Dresser 2021). Hier besteht weiterer Entwicklungsbedarf: Wenn wir grundsätzlich akzeptieren, dass Lüge oder Täuschung legitime Interventionen in der Versorgung von MmD sein können, dann sollte auch das Thema Lüge und Täuschung bei Demenz in die Vorausplanung aufgenommen werden.

Der vorliegende Beitrag analysiert den Fall unter Anwendung der Prinzipienethik und blendet damit andere ethische Perspektiven aus, die zu einer anderen Lösung kommen würden. Eine deontologische Ethik, die sich Kant verpflichtet fühlt, würde in jedem Fall die Lüge ausschließen. Kant proklamierte die bedingungslose Verpflichtung zur Wahrheit und zwar unter allen Umständen (Kant 2017). Eine Lüge würde der Menschheit im allgemeinen schaden und auch die Würde des Lügners selbst zerstören (Kant 1990). Einer solchen strengen Ethik zu folgen, fällt aber in der Versorgung von MmD schwer, da eine Lüge in vielen Situationen für die Pflegeperson einfacher und zeitsparender ist und vordergründig meist schneller zu einem positiveren Outcome führt als die Wahrheit. Kann eine Lüge dann nicht unter bestimmten Umständen erlaubt sein? Wenn wir Platon, Williams, Bok und Thomas von Aquin folgen, kann es durchaus Situationen geben, in denen es keine bessere Lösung als eine Lüge oder Täuschung zu geben scheint (Williams 2003; Bok 1999; Schockenhoff 2017; Lotter 2017a). Diese Fälle müssen aber seltene, ungewöhnliche Ausnahmen bleiben und es muss abgewogen werden, inwieweit mit der Täuschung ein Vertrauensverlust verbunden sein kann (Williams 2003).

Auch MacKenzie (2021) zeigt in ihrem Beitrag, dass pflegende Angehörige in manchen Situationen durchaus von der Lüge Gebrauch machen können, da sie durch die enge und langjährige Beziehung zum Pflegebedürftigen eher von einer hypothetischen Einwilligung des Pflegebedürftigen ausgehen können, dass dieser die Lüge in der aktuellen Situation akzeptieren würde. Pflegende Angehörige können außerdem davon ausgehen, dass der Pflegebedürftige sich auch gegenüber der pflegenden Person verpflichtet fühlt, diesem zum Beispiel nicht zur Last fallen möchte. Weiterhin zeichnen sich innerfamiliäre Pflegebeziehungen durch eine gewisse Akzeptanz von Lügen aus, zum Beispiel wenn Eltern ihren Kindern von der Existenz des Weihnachtsmanns erzählen. Diese Merkmale einer Beziehung treffen aber auf professionelle Pflegebeziehungen nicht zu. Professionell Pflegende können nicht von einer hypothetischen Einwilligung ausgehen, da sie die Interessen und Werte einer Person nicht so gut kennen wie Angehörige. Die Verpflichtungen in einer professionellen Pflegebeziehung sind außerdem einseitig; der Pflegebedürftige ist nicht zur Sorge gegenüber dem professionell Pflegenden verpflichtet. Professionell Pflegende sollten also nicht unreflektiert von Lüge und Täuschung Gebrauch machen. MacKenzie zieht allerdings die Möglichkeit in Betracht, dass Angehörige stellvertretend für den Pflegebedürftigen eine Einwilligung in die Lüge und Täuschung geben können (MacKenzie 2021), wenn sie dazu berechtigt sind.

Der hier gewählte Ansatz der Prinzipienethik beruht auf Werten, die in der westlichen Welt anerkannt werden, aber in anderen Kulturen nicht unbedingt die gleiche Bedeutung haben. Während in Europa und Nordamerika der Respekt vor der Autonomie einer Person einen hohen Wert hat, werden in stärker kollektivistisch orientierten Kulturen Entscheidungen im klinischen Kontext eher durch die Familie getroffen. Da Pflegebedürftige und Pflegende schon heute und in Zukunft noch häufiger einen diversen ethnischen, religiösen und kulturellen Hintergrund haben, ist fraglich, ob der Ansatz der Prinzipienethik in jedem Fall angemessen ist. In multikulturellen Gesellschaften wird es immer Mitglieder geben, denen durch ihren kulturellen Hintergrund Autonomie abgesprochen wird (Fagan 2004). Wenn man die Werte der Kultur eines Pflegebedürftigen angemessen berücksichtigen will, kann man zu der Überzeugung gelangen, dass eine Lüge in bestimmten Situationen durchaus gerechtfertigt ist. Zum Beispiel haben in der chinesischen Kultur Lügen durchaus ihre Legitimation (Carcavilla-González et al. 2023). Für ethische Entscheidungen, die die kulturellen Werte der Betroffenen berücksichtigen, brauchen professionell Pflegende aber Kulturwissen, das sie im besten Fall durch die Rezeption von Studien, die Lüge und Täuschung in verschiedenen kulturellen Kontexten untersuchen, erlangen. Damit dieses Kulturwissen verfügbar wird, ist weitere Forschung erforderlich (Carcavilla-González et al. 2023). Dennoch können auch bei Kenntnis verschiedener kultureller Praktiken der Lüge und Täuschung ethische Konflikte auftreten, etwa wenn Pflegende sich anderen Werten verpflichtet fühlen als denen des Pflegebedürftigen.

In der Versorgung von MmD gilt die Theorie der person-zentrierten Pflege nach Kitwood (2013) derzeit als Goldstandard einer zeitgemäßen und guten Pflege. Zentrales Anliegen von Kitwood ist die Unterstützung des Personseins, definiert als einen Status, der in sozialen Beziehungen Anerkennung, Respekt und Vertrauen impliziert. Kitwood betrachtet die Täuschung als Teil einer „maligne[n], bösartige[n] Sozialpsychologie“ (Kitwood 2013, S. 75), die mit einer person-zentrierten Pflege unvereinbar ist (Kitwood 2013). Im Rahmen der person-zentrierten Pflege ist das Person-Sein zu respektieren und alles zu verhindern, was das Selbstwertgefühl der Person beeinträchtigen können (Long et al. 2023). Die Erfahrung, belogen oder getäuscht zu werden, gehört zu den Erfahrungen, die das Selbstwertgefühl schwächen können und das Person-Sein untergraben. Wenn man davon ausgeht, dass MmD in lichten Momenten eine Lüge oder Täuschung entlarven können, sind Lüge und Täuschung im Rahmen einer person-zentrierten Pflege abzulehnen, da sie eine vertrauensvolle Pflegebeziehung beschädigen können. Ich vertrete daher genau wie Long et al. (2023) die Auffassung, dass Pflegende verschiedene mögliche Interventionen in Betracht ziehen sollten, bevor sie zum scheinbar letzten Mittel einer Lüge greifen. Eine alternative Intervention ist die Integrative Validation (IVA), die die person-zentrierte Pflege unterstützt, da durch sie MmD Erfahrungen machen, die zu ihrer Bedürfnisbefriedigung beitragen (Erdmann 2015) und die auf das Mittel der Lüge verzichtet (Erdmann und Schnepp 2016). Auch die Validation nach Feil ist eine gangbare Alternative (Feil und de Klerk-Rubin 2010). Professionell Pflegende sollten derartige Kommunikationstechniken anwenden können. Allerdings sollten die Outcomes derart komplexer Pflegeinterventionen wie die IVA durch Forschung besser verstanden werden (Erdmann 2015), um sie gezielt einsetzen zu können.

Anhand dieses fiktionalen Falls, der verschiedene mögliche Perspektiven der beteiligten Pflegepersonen hinsichtlich Täuschung und Lüge von MmD beleuchtet sowie die Perspektive der Prinzipienethik aufzeigt, wurde gezeigt, wie man in einem ethischen Konflikt zu einer Lösung gelangen kann. Der Fall steht zwar exemplarisch für das Thema Lüge und Täuschung von MmD, die in diesem Fall dargestellte Lösung kann aber nicht pauschal für alle Formen von Lüge und Täuschungen und für alle Pflegesettings gelten. Wie wir gesehen haben, kann man in einer Pflegebeziehung mit pflegenden Angehörigen oder mit Menschen, die einen diversen kulturellen Hintergrund haben, zu einer anderen Auffassung über die Zulässigkeit von Täuschung und Lüge gelangen. In professionellen Pflegebeziehungen und in unserer westlichen Kultur, in der wir die Prinzipien der Benefizienz, Non-Malefizienz, Autonomie und Gerechtigkeit anerkennen, fällt es aber schwer, Lüge und Täuschung zu akzeptieren, da sie immer die Autonomie einer Person beeinträchtigen und das Potenzial haben zu schaden, indem sie das Vertrauen in Pflegebeziehungen zerstören und mit dem Ideal einer person-zentrierten Pflege unvereinbar sind. Die eingangs dargestellten Interventionen, die ein unterschiedliches Potenzial haben, Menschen zu täuschen, müssen daher einer ethischen Bewertung unter der Berücksichtigung von Alternativen unterzogen werden, bevor sie zum Einsatz kommen.

Ziele, Chancen und Grenzen einer Falldiskussion

Sowohl fiktionale Fälle, wie der hier dargestellte Fall, als auch reale Falldarstellungen sind Geschichten, die in Verbindung mit ethischen Theorien gutes menschliches Handeln leiten (Frank 2016). Diese Geschichten verbinden Werte mit menschlichem Handeln (Brody und Clark 2014). Die Verbindung von Geschichten und ethischer Theorie wird als „narrative Ethik“ bezeichnet. Gute Geschichten zeichnen sich dadurch aus, dass sie Unsicherheiten und Widersprüchlichkeiten in den Pflichten der beteiligten Personen aufzeigen und dass das darin vorgeschlagene gute Handeln auf andere Situationen verallgemeinerbar ist (Frank 2016). Der vorliegende Fall zeigt die Unsicherheit der Pflegenden hinsichtlich des Einsatzes von Täuschung mittels eines fingierten Telefonanrufs und verweist aber zugleich auf das allgemeine Problem der Lüge und Täuschung in der Versorgung von MmD. Der fiktionale Fall und die Falldiskussion sind insofern als Ausgangspunkt geeignet, ethische Perspektiven zum Einsatz von Lüge und Täuschung in der Versorgung von Mmd in der Bildung von Pflegefachfrauen und -männer aufzuzeigen und zu diskutieren. Gleichwohl kann die in diesem Fall dargestellte Entscheidung nicht auf andere Fälle, in denen eine Lüge oder eine Täuschung zum Einsatz kommen soll, übertragen werden. Die Schwere der Täuschung, die Praktikabilität von Alternativen, der mutmaßliche Patientenwille, die Fähigkeiten der getäuschten Person, die Einstellungen des Personals und andere Kontextfaktoren müssen bei der ethischen Entscheidung Berücksichtigung finden.