Einleitung: Zur Regulierung datenintensiver Forschung in der Medizin

Mit der wachsenden Nutzung großer Datenmengen in der Medizin verändert sich zusehends die Art und Weise, wie Teile der biomedizinischen Forschung konzipiert und durchgeführt werden. Solche Forschungsvorhaben gründen auf großen Datenmengen aus möglichst vielen und unterschiedlichen Datenquellen sowie auf immensen Speicherkapazitäten und leistungsfähigen Berechnungswerkzeugen zur Datenanalyse. Die datenintensive Forschung in der Medizin ist ein noch junger Bereich, doch sie wächst stetig. Es ist nur realistisch anzunehmen, dass dieser Prozess angesichts der Potenziale für die gesundheitliche Versorgung sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene weiter voranschreiten wird.

Wie eine jede medizinische Forschung muss die datenintensive Forschung in der Medizin reguliert werden, allein schon, um Schaden für die Beteiligten zu vermeiden (World Medical Association 2016). Versucht man die Frage zu beantworten, wie die datenintensive medizinische Forschung reguliert werden soll, stößt man auf eine bereits vorhandene, historisch gewachsene und damit kontingente Konstellation von Institutionen, die für die Regulierung der medizinischen Forschung zuständig sind, sowie deren bereits vorhandene Regulierungen. Bekanntermaßen starten Regulierungsversuche unter Realbedingungen niemals beim institutionellen oder normativen Nullpunkt (Wieland 1989, S. 34). Wie diese Kontingenzen für den Fall datenintensiver medizinischer Forschung aussehen und welche Bedeutung sie für die Regulierung der Forschung mit und an neuen Technologien in der Medizin haben, soll in diesem Beitrag erläutert werden. Hierzu wird zunächst auf die bestehende Diskrepanz zwischen der Forschungs- und der Regulierungsebene hingewiesen, bevor über den konkreten Regulierungsmodus reflektiert wird, der sowohl die Etablierung von Normen als auch deren korrekte Anwendung erfordert. Vertieft werden diese Gedanken anschließend sowohl an der Frage nach der Notwendigkeit neuer Normen für die datenintensive medizinische Forschung als auch der Notwendigkeit neuer Anforderungen an Ethik-Kommissionen als prozedurale Instanzen zur Prüfung der Anwendung von Normen. Die hier dargestellten Rahmenbedingungen, bestehenden Institutionen und deren Regulierungen mögen als reflektierte Voraussetzungen für konkrete ethische Normen der datenintensiven medizinischen Forschung dienen.

Ethische Rahmenbedingungen der datenintensiven Forschung: Diskrepanz zwischen Forschungs- und Regulierungsebene

Eine besondere technische Rahmenbedingung sei eingangs erwähnt, die zu berücksichtigen unerlässlich zur Beantwortung der Fragen dieses Aufsatzes ist: Die datenintensive Forschung in der Medizin ist durch das Internet in besonderer Weise unabhängig von geografischer Lokalisation. Die notwendigen Geräte, auf denen die Daten gespeichert und verarbeitet werden, die Personen, von denen Daten erhoben werden sollen, und das Personal dazu können im Prinzip an jeder Stelle der Erde arbeiten oder behandelt werden, sofern dort angemessene technischen Bedingungen und Expertise vorhanden sind.

Die Tatsache dieser geografischen Unabhängigkeit führt bei Regulierungen beziehungsweise Regulierungsversuchen zu einer Spannung hinsichtlich der Umsetzung: Die Forschung in der datenintensiven Medizin findet weltweit statt. Es fehlt jedoch eine Institution, die diesen Vorgang auf ebendergleichen Ebene, also global, verbindlich und – im Falle der Nicht-Einhaltung – mit hinreichender Sanktionskraft regulieren könnte. Die Forschungs- und die Regulierungsebene klaffen auseinander. Hierbei handelt es sich freilich nicht um eine Ausnahmesituation. Sie gilt nicht nur für die datenintensive Forschung in der Medizin, sondern für alle global entwickelten Technologien und deren Regulierung.

Was heißt das konkret? Die WHO reguliert die medizinische Forschung (bis jetzt) nicht in einem grundsätzlichen ethischen Dokument, und sie hätte auch keine effektive Sanktionskraft, sollte sie sich zu einer solchen Regelung entschließen.

Die UNESCO hat mit ihrer Universal Declaration on Bioethics and Human Rights (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization 2005) ein Dokument verabschiedet, das sich einerseits nicht explizit zur datenintensiven medizinischen Forschung äußert, andererseits ebenfalls ohne Sanktionskraft bleibt. Es ist ein Dokument, das sich an Staaten wendet (Art. 2 [a]), also als Richtlinie für staatliche Regulierungen dient, und sich auf allgemeine ethische Prinzipien (Art. 3–17) konzentriert.

Die Oviedo Convention des Europarates (Council of Europe 1997) enthält gleichermaßen nur allgemeine Vorgaben, auch in der Ergänzung zur Forschung, und ist zudem auf Europa begrenzt, also ohne globalen Anspruch. Sie wurde überdies in mehreren europäischen Ländern nicht ratifiziert. Sie besitzt deshalb nicht in allen europäischen Ländern den Status eines Gesetzes mit Sanktionskraft, aber immerhin in derzeit 29 Ländern (Council of Europe 2024).

Der Weltärztebund hat sich mit der Deklaration von Helsinki zur Forschung am Menschen ethische Grundsätze gegeben (World Medical Association 2013) und diese mit der Deklaration von Taipeh für Daten- und Biobanken präzisiert (World Medical Association 2016). Beide Dokumente sind bindend für die nationalen Ärztegesellschaften, die Mitglied im Weltärztebund sind. Damit ist zumindest für sie und deren Mitglieder Verbindlichkeit gegeben. Freilich führt das zu neuen Problemen in der Regulierung und der Sanktionierung: Der Status von Ärztegesellschaften oder Ärztekammern ist international heterogen. Einige haben öffentlich-rechtlichen Charakter mitsamt einer Zwangsmitgliedschaft, sind also Ärztekammern wie etwa in Deutschland. Die meisten Mitglieder im Weltärztebund sind jedoch Ärztegesellschaften, also Vereine wie z. B. die American Medical Association (AMA). Damit fehlt den meisten Mitgliedsorganisationen des Weltärztebundes die Sanktionsmacht, und selbst im Falle öffentlich-rechtlicher Ärztekammern ist deren Sanktionsmacht lediglich begrenzt und wird de facto selten ausgeübt. Überdies sind in vielen Ländern nicht alle Ärztinnen und Ärzte Mitglied in den Ärztegesellschaften; in diesen Ländern wären die Regelungen für sie ohnehin nicht bindend. Zudem ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass ein Gutteil der Beteiligten an der datenintensiven Forschung in der Medizin keine Ärztinnen und Ärzte sind. Daher sind Regelungen des Weltärztebundes und der nationalen Ärztegesellschaften beziehungsweise Ärztekammern für sie ohne Bedeutung. Die jeweiligen nicht-ärztlichen Professionen stehen dann vor den gleichen Regulierungsproblemen wie die ärztliche Profession. Die derzeit regelnden Institutionen sind also nicht kongruent mit den an der Forschung und Entwicklung beteiligten Professionen.

Die CIOMS Guidelines (Council for International Organizations of Medical Sciences 2016), die sich in ethischer Hinsicht weitgehend an der Deklaration von Helsinki orientieren, haben ebenfalls Probleme: Sie sind nicht sehr bekannt, äußern sich zudem nicht explizit zur datenintensiven Forschung in der Medizin und auch CIOMS besitzt keinerlei Sanktionsmacht.

Überdies ist der Bereich datenintensiver Forschung neben (professions-)ethischen Regulierungen auch von bestehenden Gesetzen geregelt, z. B. Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), Krankenhausgesetze, Registergesetze. Auch wenn diese Gesetze in anderen Zusammenhängen erlassen wurden und sich nicht exklusiv mit datenintensiver Forschung beschäftigen, so wirken sie sich regulatorisch auf diese Forschung aus. Man denke in diesem Zusammenhang etwa auch an das auf Ebene der EU laufende Verfahren zu einem „Proposal for a regulation – The European Health Data Space“ (European Union 2022). Sobald verabschiedet wäre hier eine weitere, wenn auch nur EU-weite Regelung der datenintensiven Forschung gegeben. Diese Gesetze verfügen jedoch nur über nationale bzw. europäische Reichweite. Sie ändern nichts an der globalen Diskrepanz zwischen Entwicklungs- und Regulierungsebene. Gleichwohl, bei jeder Form weiterer spezifischer Regulierung der datenintensiven Forschung ist zu beachten, was bereits aus anderen Zusammenhängen als geregelt gelten darf.

Insofern lässt sich fürs Erste Folgendes zusammenfassen: Zwischen der datenintensiven Forschung in der Medizin einerseits und den Möglichkeiten der Regulierung andererseits besteht eine große Diskrepanz. Man trifft auf vorhandene Institutionen und deren Regulierungsversuche, die aber allesamt keine globale und sanktionsfähige Regulierung vornehmen können. Man wird die vorhandenen Institutionen überdies nicht einfach um neue ergänzen können. Dass sich etwas an dieser Situation absehbar ändert, ist unwahrscheinlich. Also wird man mit dieser Diskrepanz vorerst leben müssen. Aus ihr ergibt sich, dass die technologische Entwicklung im globalen Zusammenhang mitunter unzureichend reguliert ist und schlechthin Fakten geschaffen werden könnten, die man aus überzeugenden Gründen nicht will.

Eine weitere Konsequenz aus dieser Situation ist die regional ungleiche Regelung. Sowohl die Dichte als auch die Restriktivität von Regelungen unterscheiden sich weltweit. Das verkompliziert multinationale Studien, macht sie aufwändiger oder unterbindet gar deren Durchführung in solchen Ländern mit im internationalen Vergleich restriktiveren Regulierungen insbesondere auf Gesetzesebene. Diese Tatsache hindert global agierende Institutionen jedoch nicht daran, durch die Verlegung ihrer Forschungsaktivitäten in bestimmte Regionen der Welt strikte Regulierungen zu umgehen.

Welche Konsequenzen soll man aus dieser Gemengelage kontingenter Institutionen und ihrer Regulierungsversuche ziehen? Man kann nur auf diesen Konflikt aufmerksam machen und sich dessen bewusst sein; man wird ihn realistischerweise nicht zum Verschwinden bringen. Auch wenn die Verhältnisse so sind, wie sie sind, und man absehbar mit heterogenen Regulierungen konfrontiert sein wird, sollte das nicht davon abhalten, gute Regulierungen auf der Ebene von NGOs, Ärztekammern oder weiteren Institutionen zu treffen. Wenn man schon auf globaler Ebene kein law besitzt, dann wenigstens soft law, wobei dieses hinsichtlich seiner softness durchaus variieren kann. Unverbindliche oder nur bedingt verbindliche normative Vorgaben können zumindest der Orientierung dienen. Überdies gilt: Aus der Tatsache, dass es keine global einheitlichen Regelungen gibt, folgt keineswegs, dass jegliche Regulierung unbedeutend wäre. Vielmehr unterstreicht sie die Notwendigkeit wenigstens regional einheitlicher Regelungen, wie z. B. in Europa. Große Regionen sind auch für global agierende Institutionen nicht so einfach zu umgehen, insbesondere wenn diese Regionen über entwickelte technologische Fähigkeiten verfügen.

Regulierungsmodus

Nun zum zweiten grundsätzlichen Problem: Jenseits der Institutionen und Regulierungsebenen bleibt die Frage, in welcher Weise in derartigem soft law reguliert werden sollte? Soll man die Forschung zur datenintensiven Medizin mit detaillierten Handlungsanweisungen im Sinne einer ethisch-technischen Gebrauchsanweisung regulieren, oder mit allgemeinen ethischen Prinzipien? Gegen das Erste spricht die Erfahrung, dass sich bei dynamischen Entwicklungen – ganz gleich, ob im Bereich der datenintensiven Medizin oder im Falle anderer technischen Entwicklungen – detaillierte Anweisungen sehr schnell als unrealistisch, überholt oder einfach unangemessen erweisen können. Je detaillierter, umso höher ist diese Gefahr. Allgemeine ethische Prinzipien unterliegen dieser Gefahr nicht in dem Ausmaß, was sie in der Regel besonders geeignet zur Regulierung dynamischer Entwicklungen macht. Ihr Nachteil besteht jedoch darin, dass sie der jeweiligen Interpretation in Bezug auf die Frage bedürfen, was denn in einer konkreten Situation angesichts dieser allgemeinen ethischen Prinzipien zu tun ist.

Ein Umsetzungsbedarf von der Norm zur konkreten Situation ist freilich immer gegeben. Eine Norm, auch wenn sie noch so konkret ist, sagt von sich aus nie, wie sie anzuwenden ist (Wieland 1989; siehe auch Kant 1977). Die Antwort auf die Frage nach der Sinnhaftigkeit allgemeiner Normen entscheidet sich also auch daran, ob der Aufwand zur Anwendung einer Norm, also der Aufwand für ein normatives Urteil, geringer oder größer ist. Bei einem konkreten Forschungsprojekt dürfte der Aufwand zur Anwendung mit dem Grad an Abstraktheit der Normen steigen.

Man wird auf die Frage nach dem angemessenen Grad von Detail oder allgemeinem Prinzip keine allgemeinverbindliche Antwort finden, sondern müsste differenzierter fragen: Welcher Kompromiss zwischen Detailliertheit und allgemeinen ethischen Prinzipien ist für welche Organisationen mit welchen Adressaten in welcher Situation der technischen Erforschung der angemessene Kompromiss?

Weil die Anwendung einer Norm nicht allein durch die Norm geschehen kann und es dazu stets eines Urteils bedarf, das durchaus unterschiedlich ausfallen kann, hat es sich insbesondere im Bereich der Medizin bewährt, trotz aller Veränderungen in der Forschungslandschaft mindestens eine formale Bedingung für die Forschung am Menschen vorzuschreiben (vgl. z. B. Cook und Hoas 2011): Alle Vorhaben müssen einer Ethik-Kommission vorgelegt werden. Ethik-Kommissionen selbst setzen also keine Normen, sondern prüfen Einzelstudien anhand bestehender Normen, die allesamt andere Institutionen verfasst haben. Sie tragen durch diese Prüfung dazu bei, unethische Forschungspraktiken einzudämmen (vgl. Prosperi und Bian 2019). Weil sich die Notwendigkeit eines Urteils zur Anwendung von Normen bei datenintensiven Forschungsprojekten am Menschen nicht ändern dürfte, könnte die Kontrolle durch Ethik-Kommissionen weiterhin ein geeignetes Instrument sein, Forschungsvorhaben zu beurteilen. Diese formale Hürde behält ihre Berechtigung zudem angesichts der unübersichtlichen Konstellation der Regelungen zur datenintensiven Forschung. Gerade weil mit unterschiedlichen Regulierungen von verschiedenen Institutionen auf unterschiedlichen Regulierungsebenen zu rechnen ist, kommt einer Institution, die ein unabhängiges Urteil zu einem konkreten Forschungsvorhaben fällt, hohe Bedeutung zu.

Angesichts der derzeitigen Kontingenzen bestehender Institutionen und ihrer Regulierungen sowie der dynamischen Entwicklungen im Bereich der datenintensiven medizinischen Forschung sind also sowohl geeignete Normen als auch geeignete Instanzen zur Prüfung ihrer Anwendung vonnöten. Beide Notwendigkeiten verdienen daher noch einer näheren Betrachtung.

Zur Notwendigkeit allgemeiner ethischer Prinzipien: Neue Forschung = neue Ethik?

Wie bereits erwähnt: Eine jede Regulierung beginnt nicht nur institutionell, sondern auch hinsichtlich ihrer Normen nicht beim Nullpunkt. Die Medizin befindet sich sogar in der komfortablen Situation, trotz aller Pluralität und schnellem wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel auf einen Kanon von medizinethischen Prinzipien zurückgreifen zu können, der weithin bekannt und unumstritten ist (Beauchamp und Childress 2019). Diesen Konsens haben Emanuel et al. für die medizinische Forschung in sieben Prinzipien konkretisiert: sozialer oder wissenschaftlicher Wert, wissenschaftliche Validität, faire Auswahl der Probanden, vorteilhaftes Nutzen-Risiko-Verhältnis, unabhängige Überprüfung, Einwilligung nach Aufklärung, Respekt gegenüber potenziellen und beteiligten Probanden (Emanuel et al. 2000). Man kann diesen Konsens der Forschungsethik anders formuliert auch in der Deklaration von Helsinki finden (World Medical Association 2013).

Damit sei nicht gesagt, dass dieser Konsens vollständig oder unveränderlich wäre. Für den Fall datenintensiver Forschung in der Medizin wurde etwa angefragt, ob Prinzipien der informierten Zustimmung, des minimalen Risikos und der fairen Probandenauswahl für deren Bewertung weiterhin hilfreich oder nicht vielmehr ungeeignet seien (vgl. hierzu etwa Riley 2018). Aus der ethischen Perspektive wäre jedoch zu fragen, ob sich der Konsens an ethischen Prinzipien angesichts der datenintensiven Forschung in der Medizin überhaupt ändern soll. Lassen sich Argumente für neue ethische Prinzipien, neue Interpretationen von vorhandenen ethischen Prinzipien oder neue Gewichtungen von konkurrierenden Prinzipien anführen? Oder ist das Gegenteil der Fall? Diese Fragen sind nicht einfach zu beantworten.

Wie bei allen solchen Fragen benötigt man für eine Antwort mit Überzeugungskraft vor allem eines: treffende Argumente. Anhand welcher Argumente lässt sich diese Frage beantworten, ob neue Normen etc. angesichts der datenintensiven Forschung geboten sind? Zur Änderung einer Norm braucht man, soll die Änderung überzeugend sein, ein ethisches Argument. Ein deskriptives Argument etwa in dem Sinne, dass sich Normen im Zusammenhang mit der Verbreitung bestimmter Technologien gewandelt hätten, ist allein nicht überzeugend. Denn ein solches Argument sagt nichts darüber aus, ob sich etwas ändern soll. Zur Änderung einer Norm braucht man ein normatives Argument. Aus diesem Grund ist eine Technologie an sich aus normativer Sicht niemals hinreichend, Moral zu ändern. Wenn man es trotzdem täte, würde man einem technologischen Exzeptionalismus frönen. Dessen argumentative Unzulänglichkeiten sind bekannt. Stattdessen ist zu fragen: Welche Gründe jenseits der technischen Methode und faktischer Veränderungen geben berechtigten Anlass, auf ihrer Grundlage bisherige Normen zu verändern?

Dies könnten etwa technisch ermöglichte Optionen sein, die als ein Nutzen eingeschätzt werden. Nun haben bisherige medizinische Maßnahmen bereits einen Nutzen, es kann also genauer betrachtet um die Möglichkeit von vermehrtem Nutzen gehen. Dann aber hätte man einen vermehrten, technisch ermöglichten Nutzen zum Anlass genommen, bestimmte ethische Prinzipien zu verändern oder anders zu gewichten. Man würde bei einer solchen Änderung im Rahmen der bekannten forschungsethischen Prinzipien bleiben, nur den vermehrten Nutzen der neuen technischen Option gegen andere ethische Prinzipien abwägen.

Wenn man den Nutzen als Argument anführt, dann muss man sich zudem darüber im Klaren sein, dass bestimmte Rechte üblicherweise unabhängig von einem bestimmten Nutzen gelten. Man denke an die Würde des Menschen, die ja gerade einem Nutzenkalkül entzogen ist, wenn sie – wie die deutsche Verfassung vorschreibt – unantastbar ist. Insofern muss ein jeder Vorschlag, Normen angesichts vermehrten Nutzens zu ändern, mit dem Einwand rechnen, dass bestimmte Normen nicht zur Disposition stehen.

Beispiel: Informed consent – broad consent

Ein Beispiel möge den bereits stattgefundenen Wandel erläutern: So kann man historisch durchaus sehen, wie es angesichts technologischer Möglichkeiten beim informed consent zu einem Wandel gekommen ist. Der informed consent über ein klar definiertes Forschungsprojekt galt als unverzichtbare Voraussetzung für die Teilnahme spätestens nach dem Nürnberger Kodex von 1947 und nach der Deklaration von Helsinki von 1964 bis zu deren letzter, derzeit gültigen Version von 2013. Genau dies änderte sich im Rahmen der Entwicklung von Bio- und Datenbanken. Für solche Fälle haben sich neuartige Einwilligungsmodelle wie dasjenige des broad consent oder dynamic consent durchgesetzt (vgl. etwa Vayena und Blasimme 2018; Christen et al. 2016), bei denen anstelle von konkreten Informationen über ein jeweiliges Forschungsprojekt Informationen über grundsätzliche Ziele der Forschung und die Regulierung der Bio- und Datenbanken treten und/oder Einwilligungen fortlaufend den eigenen Präferenzen angepasst werden können. Beim Weltärztebund lässt sich das an der Deklaration von Taipeh von 2016 sehen (World Medical Association 2016). Der Grund für den Wandel ist bekannt: Zum Zeitpunkt der Abgabe von Daten oder Biomaterialien lassen sich die zukünftigen Forschungsprojekte und möglichen Hypothesen, die getestet werden sollen, nicht vollständig vorhersehen, mitunter noch nicht einmal die technischen Methoden. Bei jedem Projekt mit den Daten oder Biomaterialien aus einer Bank erneut ein informiertes Einverständnis einzuholen, wäre in vielen Fällen zu aufwendig. Es würde die Forschung erheblich erschweren und damit möglichen medizinischen Nutzen verhindern. Womöglich würde die wiederkehrende Notwendigkeit, immer neue Einwilligungsdokumente zu unterzeichnen, nicht nur dem Interesse der einwilligenden Person zuwiderlaufen, sondern sogar die Wahrscheinlichkeit einer reflektierten Einwilligung reduzieren (vgl. Ploug und Holm 2013). Dieses Beispiel untermauert, wie das Prinzip des Respekts vor der Selbstbestimmung aus Anlass eines größeren, technisch ermöglichten oder zumindest erleichterten Nutzens zumindest in seiner konkreten Ausgestaltung geändert wurde.

Der Wandel lässt sich an einer Diskrepanz zwischen unterschiedlichen Regulierungen beobachten: Die Anforderungen des informed consent in der Deklaration von Helsinki von 2013 stehen in einem Spannungsverhältnis zu den Regelungen der Deklaration von Taipeh von 2016 im Sinne eines broad consent, obwohl Letztere sich als Anwendung der Deklaration von Helsinki auf die Bio- und Datenbanken versteht. Trotz der Änderungen hinsichtlich der konkreten Anforderungen wurde an den bestehenden Normen und ihrer Geltung festgehalten, deren Gewichtung aber für den Fall von Bio- und Datenbanken geändert.

Das Beispiel zeigt überdies, dass es innerhalb von regulativen Vorgaben durchaus gewisse Widersprüche geben kann, ohne dass dadurch das ganze normative System unbrauchbar würde. Auch bei der Regelung von datenintensiver Forschung in der Medizin dürfte es sich als unrealistisch erweisen, dass sich nur vollständig kohärente und widerspruchsfreie Regelungen herausbilden werden.

Spezifische Technologien und datenintensive Forschungsprojekte können ihre je eigenen Auswirkungen haben, gleichwohl werden sie oft durch bereits etablierte ethische Prinzipien ausreichend abgedeckt. In ähnlicher Weise argumentieren etwa Sætra und Danaher (2022), dass zwar viele Technologien ethisch relevante Implikationen haben mögen, dies aber nicht eine immer neue „Ethik von X“ notwendig mache (z. B. Computerethik, KI-Ethik, Datenethik, Informationsethik, Roboterethik und Maschinenethik). Spezifische Technologien mögen spezifische Auswirkungen haben, diese seien jedoch oft durch bereits etablierte übergeordnete Normen ausreichend abgedeckt und verstanden (Sætra und Danaher 2022). Auch für den Bereich der datenintensiven medizinischen Forschung ist nicht davon auszugehen, dass neue Prinzipien oder allgemeine ethischen Normen vonnöten wären, ihre Gewichtung jedoch anders ausfallen kann. Es wundert daher kaum, dass Mittelstadt und Floridi (2016) in ihrer Übersichtsarbeit bestehende Normen der biomedizinischen Forschung im Kontext der datenintensiven Medizin zwar anwendungsorientiert spezifizieren und dadurch den Fokus der Aufmerksamkeit mitunter neu justieren, jedoch keine „neue Ethik“ mit anderen ethischen Normen als notwendig erachten.

Zur Notwendigkeit der Anwendung allgemeiner ethischer Prinzipien: Neue Anforderungen an Ethik-Kommissionen

Wenngleich die datenintensive Forschung in der Medizin nicht notwendigerweise mit neuen ethischen Normen einhergeht, können mit ihr andere relevante Differenzen zu bisherigen Forschungspraktiken verbunden sein. Diese Differenzen haben praktische Konsequenzen für die ethische Beurteilung von Forschungsvorhaben, ob bestehende Normen angemessen und nachvollziehbar angewandt wurden. Kritisch zu prüfen ist daher, inwiefern datenintensive Forschungsprojekte angesichts solcher Differenzen mit den gegenwärtigen Methoden der Regulierung ausreichend beurteilt werden können. Dort wo dies nicht oder nur partiell gelingt, kann dieser Missstand der Regulierung und das damit einhergehende Schadensrisiko für Individuen und Kollektive einen Handlungsbedarf markieren, der auch Reformen des bestehenden Regulierungsmodus rechtfertigen könnte.

Wie oben bereits dargestellt, gibt es gute Gründe dafür, Ethik-Kommissionen in ihrer regulatorischen Funktion, einzelne Forschungsvorhaben hinsichtlich der Anwendung von Normen zu beurteilen, weiterhin als geeignete Instanzen anzusehen. Diese Annahme ist keineswegs unumstritten. So wurde beispielsweise auch diskutiert, die Beurteilung vorrangig in Kategorien der Privatsphäre bzw. des Datenschutzes und damit von Datenschutzbeauftragten vornehmen zu lassen (International Association of Privacy Professionals 2018). Und angesichts der neuen Methoden datenintensiver Forschung stellt sich tatsächlich die Frage, ob Ethik-Kommissionen gegenwärtig für die Prüfung datenintensiver Forschung kompetent genug sind und ihr üblicher Arbeitsmodus hierfür geeignet ist. Einige bestehende Schwächen konnten dahingehend bereits identifiziert werden (vgl. Ferretti et al. 2020, 2021; Prosperi und Bian 2019; Ienca et al. 2018). Einige Beispiele seien hier kurz vorgestellt:

Datenintensive Forschung in der Medizin gründet auf der Sammlung großer Datenmengen von möglichst vielen und unterschiedlichen Datenquellen (z. B. aus Krankenkassendatensätzen, Social-Media-Profilen, Selftracking-Technologien), die anschließend kombiniert und als potenzieller Erkenntnisort medizinrelevanten Wissens analysiert werden. Anders als in den meisten Forschungsprojekten in der Medizin bisher (z. B. randomisiert-kontrollierte Studien), denen zumeist eine Hypothese zugrunde lag, die anschließend mit einer passenden Datensammlung und -analyse verifiziert oder falsifiziert werden sollte, verfolgen datenintensive Forschungsprojekte zumeist eine umgekehrte Forschungsarchitektur: Ausgehend von bereits gesammelten oder noch zu sammelnden Daten sollen Muster und Eigenschaften identifiziert werden, die zum Erkenntnisgewinn beitragen. Die Relevanz einzelner Datenarten und -quellen kann dabei ex ante häufig nicht beurteilt werden (vgl. auch Ferretti et al. 2020). Überdies stellt die Verarbeitung bereits vorliegender Datensätze die Sinnhaftigkeit einer Trennung zwischen medizinisch-klinischer Praxis und Forschung zunehmend infrage (vgl. dazu schon Beauchamp 2011). Doch wie soll angesichts dieser umgekehrten Forschungsarchitektur ein datenintensives Forschungsvorhaben überhaupt noch durch eine Ethik-Kommission bewertet werden?

Um ihrer Aufgabe gerecht werden zu können, datenintensive Forschungsprojekte hinsichtlich ihrer Angemessenheit zu beurteilen, bedürfen Ethik-Kommissionen zunächst ausreichender Kompetenzen hierfür. Einerseits sollten hierfür Mitglieder von Ethik-Kommissionen weitergebildet sowie andererseits die Zusammenstellung ihrer Mitglieder überdacht und gegebenenfalls um Mitglieder erweitert werden (Ferretti et al. 2020, 2021; Favaretto et al. 2020; Ienca et al. 2018). Dabei ist neben ausreichender Fachexpertise zu Fragen der Datenwissenschaften, Informationstechnologien und gegebenenfalls konkreter Technologien, wie dem Maschinellem Lernen, auch auf eine hinreichende ethische Expertise zurückzugreifen, die zur kontextorientierten Anwendung bestehender Normen befähigt. Die Beurteilung von datenintensiven Forschungsprojekten in der Medizin erfordert, dass Ethik-Kommissionen feststellen können, ob beispielsweise ein bestimmtes Vorhaben Schutzmaßnahmen zur Vermeidung algorithmischer Diskriminierung einsetzt (vgl. bei den Prinzipien von Emanuel et al. 2000: „faire Auswahl von Probanden“), ob die für die Entscheidungsfindung verwendeten maschinellen Lernmodelle einer Ex-ante- und Post-hoc-Prüfung zugänglich sind (vgl. „wissenschaftliche Validität“ und „unabhängige Überprüfung“) oder ob durch die Kombination unterschiedlich strukturierter Datenquellen besondere Risiken auf überindividueller Ebene entstehen können (vgl. „vorteilhaftes Nutzen-Risiko-Verhältnis“) (Ferretti et al. 2020). Zwar ist die Einholung von externen Gutachten, um die womöglich fehlende Kompetenz in Ethik-Kommissionen auszugleichen, aktuell noch durchaus eine alternative Option zur Sicherstellung dieser Aufgabe, doch lässt die wachsende Anzahl an datenintensiver Forschungsprojekten diese Option zunehmend in den Hintergrund treten.

Des Weiteren könnte der übliche Prozess der Prüfung durch Ethik-Kommissionen für den Fall datenintensiver Forschungsvorhaben überdacht werden. Angesichts der umgekehrten Forschungsarchitektur und der Schwierigkeit, Erkenntnisse und deren Nutzen sowie potenzielle Schäden vollständig schon im Rahmen der Forschungskonzeption zu antizipieren, könnten ergänzende iterative Prozesse der Bewertung eine zentrale Bedeutung erhalten. Ebenso wie im Bereich der genetischen Forschung können digitale Daten im Laufe der Zeit für unterschiedliche Fragestellungen nützlich sein und daher anderweitig als ursprünglich angenommen wiederverwendet werden. (Vgl. hierzu auch die Parallelen zum Rahmenkonzept für die verantwortungsvolle Datenweitergabe genomischer und gesundheitsbezogener Daten; vgl. Knoppers 2014.) Neuer Gegenstand der ethischen Bewertung von Ethik-Kommissionen wäre demnach – nach der anfänglichen Erhebung von persönlichen Gesundheitsdaten und der Erstellung einer Datenbank – die Freigabe der Daten für bestimmte sekundäre Verwendungszwecke unter Prüfung der eingangs gegebenen Einwilligung und der mit dem neuen Verwendungszweck einhergehenden Nutzen und Risiken. Ferretti et al. (2020) schlugen dementsprechend vor, dass Ethik-Kommissionen unterschiedliche Phasen der datenintensiven Forschung, einschließlich der Forschungsplanung, der Datenerfassung, der Analyse und der Verbreitung von Ergebnissen, beurteilen können sollten. Auf diese Weise würden sowohl Forschende als auch Ethik-Kommissionen von allzu umfassenden Bewertungsentscheidungen ex ante entlastet werden, dafür aber die ethische Bewertung durch Ethik-Kommissionen auch auf andere Zeitpunkte im Lebenszyklus von Daten ausgeweitet (vgl. etwa Master et al. 2018; zit. bei Ferretti et al. 2021).

Freilich sind auf diese Weise längst nicht alle Probleme der ethischen Beurteilbarkeit adressiert: Einige Formen der Datenanalyse und -auswertung (z. B. auf Basis von Data-Mining und Methoden maschinellen Lernens) erkennen Muster und Korrelationen in großen Datenmengen, die kaum vorhergesehen werden können. Daraus folgt, dass mit der Nutzung dieser Rechentechnologien auch unvorhersehbare Risiken und/oder potenzielle Folgen für bestimmte Personengruppen oder gar das Gemeinwohl entstehen können, die zum Zeitpunkt der Bewertung nicht absehbar sind.

Sicherlich müssen Individuen bei der Abgabe von Daten über die Schwierigkeiten der Abschätzung von Risiken aufgeklärt werden. Zudem sollte im Rahmen der Beurteilung durch Ethik-Kommissionen kritisch geprüft werden, ob Forschungsprojekte angemessen mit dieser Herausforderung umgehen, selbst unwahrscheinliche – aber mögliche – Risiken in ihrer Forschungskonzeption berücksichtigt haben und ausreichend Maßnahmen zum Schutz vor potenziellen Risiken vorschlagen.

Zentraler Baustein für die Bewertung wird eine transparente Kommunikation der Bewertungskriterien darstellen, damit Forschende die relevanten normativen Vorgaben frühzeitig berücksichtigen und datenintensive Forschungsprojekte entsprechend konzipieren sowie Mitglieder von Ethik-Kommissionen kohärente Beurteilungen dieser Projekte vornehmen können. Wie bereits dargestellt, existieren für den Bereich der biomedizinischen Forschung wohlbegründete und weithin konsentierte ethische Prinzipien, die als Kriterien zur Beurteilung herangezogen werden können (vgl. Emanuel et al. 2000). Dass die Anwendung dieser Prinzipien im Falle datenintensiver Forschung in der Medizin sowohl Forschende als auch Ethik-Kommissionen – aufgrund mangelnder Expertise, Erfahrung und/oder handlungsleitender Unterstützung – mit besonderen Unsicherheiten und Herausforderungen konfrontiert, ist unbestritten. Doch die praktische Herausforderung, die mit der Anwendung der normativen Anforderungen verbunden ist, hat für sich allein nicht das Potenzial, deren normative Geltung in Frage zu stellen. Zwar mag es für die datenintensive Forschung in der Medizin und beurteilende Ethik-Kommissionen zukünftig eine anspruchsvolle Aufgabe darstellen, etwa den erwartbaren „sozialen oder wissenschaftlichen Wert“ eines Forschungsvorhabens darzustellen, geeignete Methoden und notwendige Mindeststandards einer „fairen Auswahl“ von Daten(-sätzen) und durch sie repräsentierte Personen sicherzustellen oder aber „günstige Risiko-Nutzen-Verhältnisse“ abzuschätzen. Sie erfordern zudem ein intensives Nachdenken über geeignete Methoden ihrer Sicherstellung und Umsetzung angesichts datenintensiver Forschungsziele und -methoden. Die mit ihnen einhergehenden Schwierigkeiten der Umsetzung entbinden jedoch nicht von der Geltung dieser normativen Grundsätze.

Eine Auseinandersetzung und Suche nach konkreteren Bewertungskriterien und Mindeststandards für die datenintensive Forschung in der Medizin, die sich nicht allein in den aktuell noch zumeist thematisierten Kategorien der Privatsphäre bzw. des Datenschutzes (vgl. Ferretti et al. 2020) ergehen, könnte angesichts der oftmals noch geringen Erfahrung von Ethik-Kommissionen mit datenintensiven Forschungsprojekten hilfreich sein. Es handelt sich dabei jedoch nicht um neue Normen, sondern in den meisten Fällen um eine kontextorientierte Spezifizierung und Anwendung bestehender Normen.

Ethik-Kommissionen sollten die ethische und regulatorische Kompetenz bereitstellen, um das begründete Gleichgewicht zwischen dem erwartbaren Nutzen eines bestimmten Forschungsprojekts und dem potenziellen Risiko für die Teilnehmenden und weitere Betroffene umfassend abzuwägen. Ob diese Funktion letzten Endes von Ethik-Kommissionen oder von anderen neu eingesetzten regulatorischen Instanzen übernommen wird, ist normativ von geringem Interesse. Es gibt aber gute Gründe, warum in der historisch gewachsenen, kontingenten Regulierungslandschaft der Forschung Ethik-Kommissionen hierfür ein geeignetes Instrument sein können. Die Prüfung durch Ethik-Kommissionen ist gewiss nicht die einzige mögliche Form der Regelung, aber sie kann dennoch ein wichtiger Baustein sein, potenziellen Schäden datenintensiver Forschung für Individuen und Gemeinwohl vorzubeugen.