Einleitung

Die Medizinethik ist mit stetig wachsenden Herausforderungen konfrontiert, die sich aus der Transformation der sozialen Handlungsbedingungen für die Medizin ergeben. Gesellschaftliche, ökonomische, politische und technologische Entwicklungen schaffen neue Herausforderungen für das Handeln der Akteure in der Medizin und somit auch für die Medizinethik als Disziplin. Die Covid 19-Pandemie hat Missstände in der medizinischen und pflegerischen Versorgung sowie den besonderen Stellenwert sozialer Determinanten hinsichtlich ungleicher Zugangschancen und Inanspruchnahme medizinischer Versorgung offengelegt (Kooli 2021). Die zunehmende Ökonomisierung der Gesundheitsversorgung führt dazu, dass medizinische Entscheidungen oftmals von finanziellen Überlegungen geprägt sind, was sich negativ auf das Wohl von Patient:innen auswirken kann und das Gesundheitspersonal stark belastet (Marckmann 2021). Das Aufkommen rechtspopulistischer, zum Teil offen faschistischer Bewegungen stellt zunehmend zentrale Werte und Errungenschaften liberaler Demokratien infrage. Dieses Phänomen wird als „Große Regression“ bezeichnet (Geiselberger 2017) und zeigt auch Auswirkungen in der Medizin, wie etwa Debatten um die medizinische Versorgung von Geflüchteten, Gewalt gegen Ärzt:innen, die Impfungen anbieten und die Beschneidung reproduktiver Autonomie (vgl. das Kippen von Roe vs. Wade in den USA) zeigen. Der Klimawandel betrifft die Medizin in besonderem Maß, v. a. hinsichtlich der Auswirkungen von Extremhitze auf bestimmte Gruppen und die Ausbreitung von Infektionskrankheiten (Rocque et al. 2021). Der zunehmende Fokus auf datenintensive Technologien überformt bereits jetzt Praktiken, Strukturen und Beziehungen in der Medizin und wird in den nächsten Jahren zu einer massiven Disruption im Gesundheitsbereich führen (El Khatib et al. 2022). Diese gesamtgesellschaftlichen Tendenzen formen und transformieren die Handlungsspielräume von Ärzt:innen. Den genannten Entwicklungen ist gemeinsam, dass sie aus gesellschaftlichen Machtasymmetrien und Ungleichheiten resultieren oder diese verstärken.

Zunehmend wächst dabei das Unbehagen an der Medizinethik, da deren bisherige Ausrichtung und Methodik als ungeeignet erscheint, diese Herausforderungen epistemologisch wie praktisch zu bewältigen. So kritisieren manche Autor:innen, dass die epistemischen Perspektiven und finanziellen Grundlagen der Medizinethik, hier insbesondere die Förderstrukturen, einen blinden Fleck bezüglich der Marginalisierung bestimmter Gruppen erzeugen (Fabi und Goldberg 2022). Andere merken an, dass es bislang an tragfähigen Konzepten für die Einordung des Klimawandels aus medizinethischer Sicht fehle (Jameton und Pierce 2021). Zudem bemängeln Autor:innen hinsichtlich der Digitalisierung eine zu starke Fixierung von Analysen auf Technologien, während die sozialen Praktiken und Ökosysteme, in welche diese eingebunden sind, vernachlässigt werden (Shaw und Donia 2021). Eine medizinethische Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt gegen Ärzt:innen, das als zentrales gesellschaftliches Problem wahrgenommen wird (Kuhlmann et al. 2023), findet nicht statt, ebenso wenig eine Einordnung dieses Phänomens im Kontext rechtsextremer Regression. Insgesamt ist festzustellen, dass der vorherrschende Fokus auf die Dyade Ärzt:in-Patient:in oftmals den Blick auf jene sozialen Praktiken, sozialen Determinanten und sozialen Rahmenbedingungen verstellt, welche diese Dyade formen. Dazu gehören auch die genannten gesellschaftlichen Herausforderungen, welche aus Machtasymmetrien entstehen oder diese verstärken. Medizinethik, die sich auf eine gelingende Beziehung von Ärzt:in und Patient:in fixiert, ohne deren gesellschaftliche Ermöglichungsbedingungen zu reflektieren, unterminiert ihre eigenen Anstrengungen.

Wenn Medizinethik dem Anspruch einer angewandten Ethik gerecht werden will, kann sie diesen Sachverhalt nicht ignorieren. Daher vertrete ich in diesem Beitrag eine Position, die etwas polemisch als „Mehr Theorie wagen“ zusammengefasst werden könnte. Die zugrundeliegende Hypothese ist hierbei, dass es sich beim Umgang mit den genannten Herausforderungen um ein Erkenntnisproblem handelt, dessen Lösung einer Erweiterung der epistemologischen Perspektive in der Medizinethik bedarf. Die stärker empirische Ausrichtung der Medizinethik, die sich in den letzten beiden Jahrzehnten durch die Einbeziehung von Methoden der empirischen Sozialforschung vollzogen hat, leistet hierbei zwar einen wichtigen Beitrag. Allerdings bedarf empirische Forschung einer konzeptuellen und epistemischen Grundlage, um empirische Erkenntnisse sinnvoll zu verknüpfen und einzuordnen zu können. Gerade hinsichtlich der theoretischen Fundierung der Medizinethik muss daher nachgeschärft werden, um die oben beschriebenen Phänomene auch konzeptuell einholen zu können und dadurch überhaupt erst einer empirisch fundierten Analyse zugänglich zu machen.

Die Ansicht, wonach eine adäquate Erfassung der tatsächlichen gesellschaftlichen Handlungsbedingungen in der Medizin nicht einer stärker empirischen Ausrichtung, sondern einer neuen theoretischen Grundlage bedarf, erscheint zunächst paradox. Gegen eine solche Forderung im Sinne von „Mehr Theorie wagen“ lässt sich freilich umgehend der Imperativ der Anwendungsorientierung anführen, der für die Medizinethik kennzeichnend ist. Schließlich verfolgt diese nicht allein ein Erkenntnisziel, sondern soll eine normative Orientierungsfunktion für die medizinische Praxis erfüllen. Daher liegt eine gewisse Aversion gegenüber „reiner“ Theorie und abstrakter Reflexion von Beginn an tief in der Medizinethik verwurzelt (Toulmin 1981). Es zeigt sich jedoch, dass eine Medizinethik, welche nicht über die theoretisch-konzeptuellen Kategorien und Instrumente verfügt, um die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ärztlichen Handelns einzuordnen, notwendig an einer sinnvollen Anwendungsorientierung scheitern muss. Somit stellt das Verhältnis von Theorie und Praxis angesichts der sich verschärfenden Herausforderungen ein fundamentales Problem innerhalb der Medizinethik dar, das es zu lösen gilt.

Im Folgenden wird eine Erweiterung und Neuorientierung im Sinne einer kritischen Medizinethik vorgeschlagen, um diesen Herausforderungen begegnen zu können. Der Begriff der Kritik bezeichnet, im Rückgriff auf die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, eine theoretische Analyse gesellschaftlicher Phänomene, welche die Machtasymmetrien und Ungleichheiten in Gesellschaften mitreflektiert. Anstelle einer positivistischen Position, die Phänomene als gegeben hinnimmt, fragt die Kritische Theorie danach, wie Machtasymmetrien entstehen, wie sie gesellschaftliche Praktiken und Strukturen formen und wie sie normativ einzuordnen sind. Diese Perspektive der Einbeziehung gesellschaftlicher Machtasymmetrien wurde in der Folge von feministischen, postkolonialen und queeren Ansätzen in den Sozialwissenschaften sowie Ansätzen aus der Gender-Forschung und den Science and Technology Studies (STS) aufgegriffen. Ich werde in diesem Beitrag beide Formen kritischer Theorie(n) als Elemente einer kritischen Medizinethik diskutieren.

Das in diesem Beitrag formulierte Ziel ist an sich nicht neu, reicht die Forderung nach einer Erweiterung des medizin- bzw. bioethischen Spektrums und eine thematische Öffnung zu den Sozialwissenschaften z. T. mehrere Jahrzehnte zurück (Borry et al. 2005; Hedgecoe 2004; Hoffmaster 1992; Musschenga 2005). Allerdings greifen diese Beiträge zu kurz, wenn sie den kritischen Gehalt auf sozialwissenschaftliche Methoden oder eine empirische Ausrichtung reduzieren. Es soll gezeigt werden, dass es neben der Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Methoden eines grundlegenden Perspektivwechsels bedarf, der sich auf Erkenntnisse der genannten kritischen Ansätze stützt.

Im Folgenden wird zunächst der Beitrag der empirischen Sozialwissenschaften für eine Neuausrichtung der Medizinethik diskutiert. Im Anschluss erfolgt eine Evaluation des Beitrags, den die Kritische Theorie und die kritischen Theorien leisten können. Zur Veranschaulichung wird das Prinzip der Selbstbestimmung genutzt, anhand dessen die Perspektivverschiebungen durch Einbeziehung kritischer Linsen gezeigt werden sollen. Zum Abschluss werden die Grundzüge einer kritischen Medizinethik zusammengefasst sowie Limitierungen des Ansatzes und dieses Beitrags diskutiert.

Dass die Auseinandersetzung mit den genannten kritischen Ansätzen notwendig nur überblickshaft sein kann, ist dem Charakter des Beitrags als Darstellung von Grundzügen einer kritischen Medizinethik geschuldet. Der Beitrag beansprucht keineswegs eine Entwicklung und Ausformulierung kritischer Medizinethik zu leisten. Vielmehr versteht er sich als ersten Schritt dazu.

Der Beitrag der Sozialwissenschaften und die empirische Medizinethik

Die Forderung, dass Medizinethik um eine sozialwissenschaftliche Perspektive erweitert werden müsse, wurde bereits vor mehr als drei Jahrzehnten erhoben (Hoffmaster 1992). Von Beginn an lag der Fokus hierbei auf empirischen Methoden, welche aus den Sozialwissenschaften zu übernehmen wären. Damit sollte eine Grundfrage der Medizinethik adressiert werden, nämlich wie sie ihr Selbstverständnis als angewandte Ethik innerhalb der Medizin realisieren kann (Schicktanz und Schildmann 2009). Demnach umfasst die Medizinethik erstens eine Reflexionstheorie, welche die soziale Praxis von Akteuren in der Medizin verstehen will, zweitens eine normative Reflexionstheorie, die im Sinne einer Handlungsorientierung auf die Praxis einwirkt, drittens eine Alltagsethik, die auf konkrete Entscheidungen in Einzelsituationen fokussiert und viertens einen Prozess der Urteilsbildung, für welchen die Verknüpfung normativer und empirischer Aspekte wesentlich ist (Schicktanz und Schildmann 2009). Dieses multidimensionale Verständnis von Medizinethik richtet sich gegen eine bloße Anwendung theoretischer Konzepte aus Philosophie und Theologie auf praktische Fragen, die sich aus der medizinischen Praxis ergeben. Eine solcherart theoriegetriebene Medizinethik verkenne die situationsgebundenen Kontextfaktoren praktischer Handlungs- und Entscheidungssituationen (Hoffmaster 1992).

Die Kritik an einer theoriegeleiteten Medizinethik richtete sich unter anderem gegen deren wahrgenommene Fixierung auf Probleme, die für die Praxis irrelevant seien, gegen eine spekulative Erfassung und Formulierung von Problemen, welche die tatsächlichen Gegebenheiten in der Medizin ignoriere sowie gegen abstrakte Lösungsansätze, die in der medizinischen Praxis keine Anwendung fänden (Mertz und Schildmann 2018). Ein weiterer Kritikpunkt war die Fixierung auf universale Prinzipien, vornehmlich im Sinne des Principlism und deren Anwendung in je konkreten Situationen (Callahan 1999). Sowohl die spekulative, prinzipienorientierte Ausrichtung der Medizinethik wie ihre Uninformiertheit und Kontextvergessenheit sollte mittels empirischer, z. B. ethnografischer Methoden überwunden werden (Hoffmaster 1992; Musschenga 2005). Ziel war eine größere Praxisnähe bei der Erfassung, Bewertung und Lösung praktischer Probleme (Schicktanz und Schildmann 2009). Als Folge der Öffnung gegenüber den Sozialwissenschaften kam es ab den späten 1990er-Jahren zum empirical turn (Borry et al. 2005), d. h. zur Etablierung einer empirischen Medizinethik. In diesem Kontext wird auch von einer kritischen Bioethik (critical bioethics) gesprochen, deren kritischer Gehalt sich aus der Übernahme sozial-empirischer, besonders soziologischer und ethnologischer Forschungsmethoden ergeben soll (Hedgecoe 2004).

Mittlerweile sind empirische Ansätze in der Medizinethik etabliert und leisten einen wichtigen Beitrag hinsichtlich der Einbeziehung von Kontextfaktoren und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen ärztlichen Handelns. Grenzen des empirischen Ansatzes wurden bereits früh diskutiert. Callahan (1999) stellt die Frage nach dem Umgang mit empirischen Ergebnissen aus normativer Sicht. Wie kann der Anspruch, normative Ethik zu betreiben, in einer empirisch ausgerichteten Medizinethik erfüllt und besonders der Sein-Sollen-Fehlschluss vermieden werden? Dahinter steht auch die Frage, wie sich ein ethisch-normatives Problem überhaupt als solches erkennen lässt und was das Fundament dieser Erkenntnis sein soll (Callahan 1999). Schicktanz und Schildmann (2009) konstatieren ebenfalls eine Spannung zwischen ethisch-normativer Zielsetzung und empirischem Vorgehen, verstehen diese Spannung aber als Methodenproblem. Es müssten Standards empirischer Forschung in der Medizinethik etabliert werden, die wiederum aus der qualitativen Sozialforschung übernommen werden könnten. Auf diese Weise ließen sich auch Regeln für die Interpretation empirischer Forschungsergebnisse festlegen, welche eine Vermittlung zwischen normativem Anspruch und empirischem Vorgehen leisten sollen.

Der empirische Ansatz in der Medizinethik stößt jedoch an seine Grenzen, da er die Öffnung gegenüber den Sozialwissenschaften auf die Methodik reduziert. Die empirische Methodik an sich kann noch nicht sicherstellen, dass die tatsächlichen Handlungsbedingungen in der Medizin im Rahmen medizinethischer Analysen epistemologisch adäquat eingeholt werden können. Wie bereits von Callahan angemerkt, bedarf es dafür neben empirischer Methodik auch Erkenntniskategorien, die es ermöglichen, die Problemstellungen für konkrete Handlungs- und Entscheidungssituation zu formulieren. Nimmt man das obige vierdimensionale Modell der Medizinethik, so bedarf es einer Anreicherung der Reflexionstheorie durch epistemische Kategorien, die eine Analyse der konkreten gesellschaftlichen Handlungsbedingungen in der Medizin und damit eine normative Reflexionstheorie überhaupt erst erlauben. Dabei geht es nicht darum, theoretische Probleme zu konstruieren, statt sie aus der Empirie zu entnehmen. Vielmehr ist hier dem Kantischen Diktum zu folgen, wonach Gedanken ohne Inhalt leer, Anschauungen ohne Begriffe blind seien (Kant, KrV B75, A48). Normative Frage- und Problemstellungen können zwar empirisch gewonnen werden, bleiben aber unverstanden oder erscheinen als kontingente Einzelphänomene, wenn die epistemischen Kategorien für deren Einordnung und Interpretation fehlen. Um den Anspruch von Medizinethik als einer praktischen Reflexionstheorie erfüllen zu können, bedarf es neben der unbestritten wichtigen und notwendigen empirischen Ausrichtung hinsichtlich der Methodik auch einer Anreicherung der Erkenntniskategorien, die über den „klassischen“ Gehalt philosophischer oder theologischer Ethik hinausgeht.

Der Beitrag der Kritischen Theorie

Die empirische Ausrichtung war jedoch nicht die einzige Strategie, eine kritische Stoßrichtung in der Medizinethik zu verfolgen. Eine andere Auffassung von Kritik als Methode zielte auf die Definition von Werten und Prinzipien und die Klärung von Wertkonflikten als primäre Aufgabe von Medizinethik (Engelhardt 2011). Diesem primär der analytischen Ethik verpflichteten Verständis wollten einige Kommentator:innen eine hermeneutische (Árnason 2015) oder Sokratische (Dawson 2010) Kritik gegenüberstellen. Kritik bedeutet hier das Hinterfragen von Hypothesen und Wertannahmen, die medizinethischen Prinzipien und Ansätzen zugrunde liegen (Garrett 2015). Mithilfe hermeneutischer Analysen soll der Bedeutungsgehalt von z. B. Prinzipien herausgearbeitet und deren Komplexität, auch Ambiguität, besser erfasst werden. Die hermeneutisch-sokratische Kritik impliziert eine Öffnung hin zu gesellschaftlichen Aspekten, d. h. eine Kontextualisierung mit sozialen Praktiken und Beziehungen im Sinne einer Public Health-Perspektive (Árnason 2015; Dawson 2010). Anknüpfungspunkt einer kritischen Stoßrichtung wären hier die Arbeiten von Norman Daniels, insbesondere das fundamentale Verständnis von Health Equity als Chancengleichheit und der Relevanz sozialer Determinanten in diesem Kontext (Daniels 2007). Gesundheit und Gesundheitsversorgung aus der Perspektive sozialer Gerechtigkeit zu betrachten, ist hierbei die zentrale Perspektive. Der Mangel der hermeneutisch-sokratischen Kritik besteht jedoch darin, keine verbindlichen Kategorien angeben zu können, mit welchen eine erweiterte medizinethische Analyse unter Einbeziehung sozialer Kontextualisierung durchzuführen ist.

Bereits Foucault hatte im Rahmen seiner Konzepte der Biomacht und Biopolitik auf Machtkonstellationen hingewiesen, welche die medizinische Wissenschaft und Praxis formen, sowie auf den Zusammenhang von epistemischer und normativer Perspektive (klinischer Blick) (Foucault 1992, 2002). In diesem Zusammenhang formulierte Brody, dass es die Bioethik bislang versäumt habe, die Position der Marginalisierten einzunehmen (Brody 2009). „[S]peaking truth to power“ müsse hierbei das Motto sein (Brody 2009, S. 4). Umso erstaunlicher ist es, dass trotz dieser Feststellung bislang keine eingehende medizinethische Auseinandersetzung mit derjenigen Denktradition erfolgt ist, die genau diesen Anspruch verfolgt, der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Diese Denktradition kann einen fundamentalen Beitrag leisten, indem sie der Medizinethik Erkenntniskategorien liefert, um die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ärztlichen Handelns adäquat zu erfassen und einzuordnen. Zwar hat die Kritische Theorie selbst ein eher gespanntes Verhältnis zur Ethik als Moralphilosophie (Schweppenhäuser 2016), doch kann das hier nicht en détail ausgeführt werden. Für mein Vorhaben relevanter ist ihre Stoßrichtung, die realen gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen individuellen Handelns epistemisch adäquat zu erfassen.

Grundlegend ist dabei die Einbeziehung realer gesellschaftlicher Machtverhältnisse und -asymmetrien sowie den Ungleichheiten, die daraus resultieren. Dabei gelten diese Sachverhalte nicht bloß als Gegebenes, sondern als von Menschen Gemachtes oder, mit den Worten Horkheimers, „Produkt der allgemeinen gesellschaftlichen Praxis“ (Horkheimer 1988, S. 173 f.). Die Art und Weise, wie wir soziale Phänomene, also z. B. ethische Konflikte in der Medizin, wahrnehmen, ist ihrerseits von gesellschaftlicher Praxis und den entsprechenden Machtverhältnissen geformt. In dieser Hinsicht argumentierten bereits die der kritischen Theorie nahestehenden Alexander Mitscherlich (Mitscherlich und Mielke 1989) und Klaus Horn (Horn 1999) aus ärztlicher bzw. psychoanalytischer Perspektive. So wendet sich etwa Mitscherlich gegen die Schuldbearbeitung durch Verdrängen oder das Zuschieben von Schuld an einzelne, indem er die Medizinverbrechen im NS-Regime im Lichte der Medizin als sozialer Praxis und im Kontext des gesellschaftlichen Ganzen analysiert (Mitscherlich und Mielke 1989).

Zudem geht es dem kritischen Ansatz darum, Phänomene nicht einfach zu registrieren, sondern als Probleme zu identifizieren, als ein zu Überwindendes. Kritische Theorie wendet sich gegen einen bloßen Positivismus, der Sachverhalte als Fakten registriert und gegen eine affirmative Haltung, die mit diesen Sachverhalten operiert ohne sie in Frage zu stellen (Schwandt 2010). Vielmehr will ein kritischer Ansatz hinterfragen, warum diese Sachverhalte derart beschaffen sind und ob dies seine Richtigkeit hat.

Hier treffen sich Kritische Theorie und normative Ethik. Letzterer geht es auch nicht darum, Werte, Prinzipien oder Konflikte einfach zu beschreiben, sondern Stellung zu beziehen. Ein normatives Urteil bedient sich der Kategorien „moralisch gut“ und „moralisch schlecht“, ist also keine positivistische, affirmative Feststellung oder wertfreie Aussage. Kritische Theorie betrachtet soziale Phänomene im Kontext realer Machtverhältnisse und hinterfragt diese wiederum ob ihrer Zulässigkeit. Die Kritische Theorie bedient sich dabei verschiedener Erkenntniskategorien, um Einzelphänomene und soziale Praktiken mit dem gesellschaftlichen Ganzen, insbesondere den real herrschenden Machtverhältnissen, zu kontextualisieren. Dadurch kann sie der Medizinethik qua normativer Ethik diejenigen Erkenntniskategorien bereitstellen, welche es ermöglichen, über isolierte dyadische Situationen, wie etwa die klinische Begegnung, hinauszugehen.

Im Folgenden diskutiere ich drei Erkenntniskategorien, die zentral für eine kritische Medizinethik sind.

Dialektik

Ein dialektisches Verhältnis beschreibt den immanenten Widerspruch zwischen dem Anspruch eines Begriffs und seiner realen Ausgestaltung. Ohne kritische Reflexion und das heißt vor allem ohne den Blick auf den Widerspruch zwischen Begriff und Objekt bzw. Praxis, kommt es zu einer Verdinglichung von Begriffen (Adorno 2022). Versteht man einen Begriff als verdinglicht, d. h. feststehend, vollendet, klammert man die Aufgabe aus, dasjenige, was im Begriff steckt, überhaupt erst zu verwirklichen. Kritische Theorie will prüfen, inwieweit Begriffe, darunter v. a. moralische, ihrem Gegenstand angemessen sind (Marcuse 1967). Der Begriff der Selbstbestimmung von Patient:innen etwa verfügt über einen bestimmbaren Bedeutungsgehalt. Die Arbeit am Begriff würde das Herausstellen seines normativen Gehalts, die Darstellung der Diskrepanz zwischen Anspruch des Begriffs und dessen Verwirklichung sowie die Analyse der Bedingungen implizieren, die für eine Verwirklichung nötig sind. Entscheidend an der kritischen Stoßrichtung ist, Widersprüche, die sich aus dem Abgleich von Begriff und Objekt bzw. Praxis ergeben, nicht wegzudefinieren. Vielmehr will Kritische Theorie diese Widersprüche konstruktiv aufgreifen, um die Praxis zu reformieren. Der Widerspruch zwischen dem Begriff der Selbstbestimmung und den realen Verhältnissen, die ein selbstbestimmtes Entscheiden und Handeln oftmals verunmöglichen, bedeutet nicht, dass der Begriff angepasst werden müsse. Vielmehr ist der Widerspruch ein Index für die Notwendigkeit normativer Praxis. Er zeigt an, dass die Ermöglichungsbedingungen selbstbestimmten Handelns nicht vorliegen und erst geschaffen werden müssen, z. B. durch Beseitigung struktureller Diskriminierung.

In diesem Sinn lässt sich Kritische Theorie als Ideologiekritik verstehen (Schweppenhäuser 2010). Sie konfrontiert den Anspruch des Begriffs mit der realen Praxis und leistet damit eine bestimmte Negation (Adorno 2018). Ein kritischer Ansatz würde daher fragen, wie Selbstbestimmung überhaupt zu erreichen ist. Er setzt Selbstbestimmung nicht voraus und fragt dann, wie diese geschützt werden kann oder im konkreten Einzelfall umzusetzen ist. Vielmehr geht es darum, wie die Bedingungen gestaltet werden müssten, damit Selbstbestimmung überhaupt realisiert werden kann. Dazu müsste zunächst analysiert werden, wie der Begriff der Selbstbestimmung und dessen Realisierung voneinander abweichen. Somit müssten verdinglichte Begriffe ihrer Verdinglichung entkleidet und diejenigen Faktoren freigelegt werden, die ihre Umsetzung bedingen (Adorno 2022). Wie Marcuse formuliert, muss die Perspektive des Seinsollens eingenommen, d. h. gefragt werden, wie sich der moralische Begriff vor dem Hintergrund realer sozialer Praxis realisieren lasse (Marcuse 1967; Schweppenhäuser 2010). Hier ist der Anknüpfungspunkt mit normativer Ethik zu verorten, die sich ebenfalls nicht mit dem begnügt, was ist, sondern ein Urteil darüber bildet, was sein soll.

Totalität

Damit die Medizinethik den Anspruch einer normativen Ethik erfüllt und die Perspektive des Seinsollens vollumfänglich einnehmen kann, bedarf es eines Perspektivenwechsels vom Einzelnen aufs (gesellschaftliche) Ganze. Diesen ermöglicht die Erkenntniskategorie der Totalität, d. h. der Bezogenheit des Individuums auf die Gesellschaft (Adorno 2022). Indem die Relation des Individuums zum gesellschaftlichen Ganzen analysiert wird, lässt es sich in seinen tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten erfassen (Horkheimer 1988). Es geht um die konkreten Machtverhältnisse, Praktiken und sozialen Determinanten, welche das Individuum prägen.

Hinsichtlich der Selbstbestimmung etwa bestimmt der jeweilige Bezug des Individuums auf die gesellschaftliche Totalität, ob und inwieweit es selbstbestimmt entscheiden und handeln kann. Es bedarf daher einer Perspektivenverschiebung von der klinischen Dyade hin zu den gesellschaftlichen Machtasymmetrien, die diese konstituieren. Selbstbestimmung ist keine Eigenschaft oder Vermögen, das jedem Individuum in gleichem Maß zukommt. Ob bzw. inwiefern ein Individuum in der Lage ist, Selbstbestimmung wahrzunehmen, hängt maßgeblich von sozialen Determinanten ab. Um Selbstbestimmung zu ermöglichen, sind die realen Machtverhältnisse und -asymmetrien einzubeziehen, die dazu führen, dass die Möglichkeit zur Ausübung von Selbstbestimmung ungleich verteilt sind.

Instrumentelle Vernunft

Instrumentelle Vernunft ist eine Form der Rationalität, die einzig auf Zweck-Mittel-Relationen abzielt, wobei die Zwecke selber nicht auf ihre Vernünftigkeit hin geprüft, sondern als gegeben akzeptiert werden (Horkheimer 1991). Horkheimer sieht einen Imperialismus der instrumentellen Vernunft in gesellschaftlichen Bereichen, in welchen ein primär naturwissenschaftlich-positivistisches oder ökonomisches Denken nicht angebracht ist, wodurch diese Form der Rationalität verabsolutiert wird (Horkheimer 1991). Die verdinglichende Stoßrichtung der instrumentellen Vernunft verengt die epistemische Perspektive auf soziale Phänomene und schränkt das Spektrum möglicher Lösungsstrategien sozialer Probleme auf zumeist (sozial)technische Lösungen ein.

In der Medizin wirkt instrumentelle Vernunft einerseits als ökonomische Rationalität, die zunehmend den Zweck von Wirtschaftlichkeit und Kosteneffizienz verabsolutiert. Andererseits manifestiert sie sich als naturwissenschaftlicher Positivismus und Reduktionismus, der Personen zunehmend als Datenpakete interpretiert, um sie so für die evidenzbasierte Medizin analysierbar zu machen. In beiden Hinsichten werden die Legitimität der Zwecke und die Genese sowie Adäquatheit der Mittel ausgeblendet. Beide können zu einer Verdinglichung von Individuen führen, die dann nicht mehr als Zwecke an sich wahrgenommen werden.

Diskutiert man etwa Selbstbestimmung in einem digitalen Setting, könnte die Kategorie der instrumentellen Vernunft das Erkenntnisspektrum erweitern. Werden etwa technische Assistenzsysteme als Lösungen empfohlen, welche trotz Fachkräftemangels ein selbstbestimmtes Leben Älterer ermöglichen sollen, findet oftmals eine Reduktion auf instrumentelle Vernunft statt. Ein genuin soziales und politisches Problem soll mit rein technischen Mittel gelöst werden. Dieser Solutionismus als Ausdruck instrumenteller Vernunft überdeckt alternative Lösungsstrategien wie bessere Ausbildung, Bezahlung und Behandlung von Personen in Gesundheitsberufen oder die Bereitstellung höherer finanzieller Mittel. Eine kritische Analyse hingegen könnte die Versorgungslücke als implizite Altersdiskriminierung analysieren und entsprechende Lösungen empfehlen.

Die Medizinethik kann der Kritischen Theorie somit drei wesentliche Erkenntniskategorien entnehmen, die Dialektik von Begriff und sozialer Praxis, den Bezug von Einzelnem und Totalität und die instrumentelle Vernunft. Mithilfe dieser Erkenntniskategorien ließe sich der Anspruch einer normativen Ethik verwirklichen, Individuen in ihrer konkreten Realität zu erfassen und sich dieser gegenüber kritisch zu verhalten. Damit wird es möglich, Prinzipien wie z. B. Selbstbestimmung aus ihren konkreten- Realisierungsbedingungen je zu entwickeln, d. h. existierende Machtasymmetrien und Ungerechtigkeiten miteinzubeziehen. Damit ließe sich deren Anspruch als ein Seinsollen realisieren.

Kritische Theorien

Der grundlegende Zusammenhang von epistemischer Perspektive und sozialem Handeln als aufklärerisches wie emanzipatorisches Projekt wurde im Anschluss an die Frankfurter Schule von unterschiedlichen sozial- und kulturwissenschaftlichen Ansätzen übernommen und weitergeführt. Man spricht von kritischen Theorien mit Betonung des Plurals und des „kleinen k“. Feministische, postkoloniale, Queer Theory und Gender-Theorien sowie STS bauen auf der zentralen These auf, dass die Erkenntnis von realen Machtverhältnissen das Wissen über soziale Phänomene und Praktiken erst ermöglicht. Zugleich stellt diese kritische epistemische Perspektive die Grundlage für eine emanzipatorische soziale Praxis dar. Somit wird die kritische Perspektive im Bezug auf unterschiedliche Erkenntnisgegenstände und Handlungskontexte ausdifferenziert sowie das Grundverständnisse von etablierten medizinethischen Konzepten und Normen, hier v. a. deren Universalitätsanspruch, revidiert.

Die epistemische Linse feministischer Theorien besteht in der gesellschaftlichen Gender-Asymmetrie und den daraus resultierenden Ungerechtigkeiten. Eine wesentliche Erkenntniskategorie der epistemischen wie praktischen Ungleichbehandlung ist hierbei der Androzentrismus, d. h. die Konzeption des männlichen Körpers als medizinische Norm (Lindemann 2023). Daraus folgen eine Pathologisierung des weiblichen Körpers sowie eine Vernachlässigung weiblicher Perspektiven auf Gesundheit und Körperlichkeit. Jenseits der Auseinandersetzung mit der strukturellen Diskriminierung von nicht-männlichen Personen in der Medizin hat die feministische Theorie auch wesentliche Beiträge zur medizinethischen Theoriebildung geleistet. Dabei hinterfragen feministische Theorien den Universalitätsanspruch medizinethischer Prinzipien, die oft ahistorisch und ohne Einbeziehung genderbasierter Ungerechtigkeiten konstruiert sind (Fourie 2023). Auch hier wenden sich feministische Ansätze gegen ein genuin androzentrisches, in traditionellen ethischen Theorien vorherrschendes Verständnis von ethischer Urteilsbildung, das aus einer unreflektierten Machposition heraus argumentiert und dadurch genderbasierte Ungleichheiten ausblendet (Lindemann 2023). Somit geht es nicht allein darum, die genderbasierten Ungerechtigkeiten in der Medizin aufzuzeigen, sondern durch die Einbeziehung von Machtasymmetrien die ethische Perspektive als solches zu erweitern. Feministische Ansätze haben u. a. die individualistische Verkürzung des Konzepts Selbstbestimmung herausgestellt und dessen Verwiesenheit auf soziale Abhängigkeitsbeziehungen nachgewiesen (Scully 2021). Das alternative Konzept der relationalen Autonomie erkennt soziale Beziehungen als wesentlichen Ermöglichungsgrund von Selbstbestimmung an (Mackenzie und Stoljar 2000). Somit können feministische Ansätze nicht nur strukturelle Diskriminierungen und health inequities bezüglich Gender konzeptuell besser erfassen (Rogers und Kelly 2011), sondern tragen auch wesentliche Erkenntniskategorien zu einer kritischen Medizinethik bei, die es ermöglichen, bestehende Konzepte neu zu denken.

Eine weitere Perspektive auf strukturelle Diskriminierung in der Medizin bieten postkoloniale Ansätze und Critical Race Theory. Im Fokus postkolonialer Theorien steht die transgenerationale Dimension von Diskriminierung in der Medizin und ihre Auswirkung auf strukturelle Ungleichbehandlung ethnischer Gruppen (Rentmeester 2012). Zudem wird der universalistische Geltungsanspruch medizinethischer Prinzipien infrage gestellt, der die Erfahrungen der von Kolonialisierung betroffenen Gruppen und deren Wertehorizont ausblendet. Es wird diskutiert, inwieweit die globale Dominanz westlich geprägter medizinethischer Theorien und besonders deren Niederschlag in health policies als eine Form des intellektuellen Imperialismus aufzufassen sind (Fayemi und Macaulay-Adeyelure 2016). Critical Race Theory zeigt, dass ein biologisches Konzept von Rasse nach wie vor in der Biomedizin präsent ist, während Rasse als soziales Konstrukt vernachlässigt wird (Yearby 2021). Dadurch wird rassistische Diskriminierung in der Medizin perpetuiert, indem etwa die weiße Population als Benchmark gilt oder gesundheitliche Besonderheiten, die sich aus Diskriminierung und somit dem sozialen Konstrukt Rasse ergeben, biologisiert werden. Ein Beispiel hierfür ist die hohe Prävalenz kardiovaskulärer Erkrankungen bei Afroamerikaner:innen (Lukachko et al. 2014). Hierfür werden immer noch genetische Ursachen als Erklärung angeführt, somit also ein biologisches Rassekonzept benutzt, obwohl die strukturelle Diskriminierung in den USA (geringerer Zugang zu Bildung, höheren Einkommen und medizinischer Versorgung, gesundheitsgefährdende Wohnsituation und Stress durch Diskriminierung) als Ursachen nachgewiesen wurden. Somit verstellt das biologische Rasse-Konzept den Blick auf soziale Determinanten und steht einer personalisierten Medizin im Weg. Die Linsen postkolonialer Studien sowie der Critical Race Theory können es einer kritischen Medizinethik ermöglichen, die Ermöglichungsbedingungen der Selbstbestimmung von marginalisierten ethnischen Gruppen zu analysieren. Zudem können kolonialistische Verkürzungen des Konzepts Selbstbestimmung aufgezeigt und das Konzept durch alternative Perspektiven erweitert werden.

Gender- und Queer Theory-Ansätze rücken die strukturelle Diskriminierung oder Vernachlässigung von Menschen aus dem LGBTQI+-Spektrum in den Fokus und hinterfragen die Legitimität von Geschlechternomen in der Medizin (Wahlert und Fiester 2012). Auch in diesem Zusammenhang sind zwei Stoßrichtungen zu unterscheiden. Einerseits thematisiert Queer Theory diejenigen Ungerechtigkeiten, welche sich aus der Diskriminierung sexueller Identitäten ergeben und zu gesundheitlichen Disparitäten führen, z. B. der Umgang mit Intersex-Personen insbesondere Kindern, sogenannte Konversionstherapien oder die Stigmatisierung von Menschen mit AIDS. Andererseits revidiert Queer Theory universalistische Verständnisse von Identitäten in der Medizin, indem sie etwa queer patienthood erforscht. Insofern bedeutet queering, dass cis- und heteronormative Konzepte in der Medizin hinterfragt und die daraus resultierenden Ungerechtigkeiten analysiert werden (Sudenkaarne 2018). Indem Queer-Personen und deren Verständnis von Identität überhaupt sichtbar gemacht werden, lässt sich die Dominanz cis- und heteronormativer Konzepte in der Medizin erst erkennen. Somit ließe sich etwa Stigmatisierung aufgrund sexueller Identität als wesentlicher Hinderungsgrund selbstbestimmten Entscheidens und Handelns besser analysieren.

In den STS werden Konzepte und Analyselinsen entwickelt, die besonders für die kritisch-ethische Evaluation der datenintensiven Medizin nutzbar gemacht werden können. Die fundamentale These, dass Daten sozial konstruiert und eingebettet sind, kann dazu verwendet werden, um das Versprechen einer verbesserten Evidenzbasierung medizinischen Handelns durch datenintensive Technologien kritisch zu analysieren und einem digitalen Positivismus entgegenzuwirken (Richterich 2018). Dabei wären etwa die epistemischen Ungerechtigkeiten zu thematisieren, die sich im Kontext von Anwendungen maschinellen Lernens ergeben können. Die operationale Logik von Algorithmen kann zu einem algorithmic bias führen, wobei die zugrundeliegenden Parameter der Datenanalyse bestimmte Gruppen diskriminieren, da soziale Kontextfaktoren der Datengenese nicht berücksichtigt werden. Hinsichtlich der Selbstbestimmung würde sich eine derartige epistemische Verkürzung darin manifestieren, dass bestimmte Gruppen oder Individuen in Datenmodellen unterrepräsentiert sind. Durch diese ontic occlusion (Mittelstadt und Floridi 2016) werden Bedarfe nicht adressiert und agency unterminiert. Zudem werden die Produktionsverhältnisse hinsichtlich der Datenproduktion ignoriert, somit die ökonomische Dimension digitaler Technologien in der Medizin ausgeblendet. Der dahinterstehende surveillance capitalism (Zuboff 2019), also dasjenige Geschäftsmodell, das Profit aus der Nutzbarmachung von Daten und hier insbesondere der Abschöpfung von Metadaten (Verhalten, Bewegungsprofile) zieht, formt einerseits die Technologien. Andererseits werden Nutzen und Ziele dieser Technologien im Kontext des surveillance capitalism formuliert, dieser selbst aber bei ethischen Analysen kaum einbezogen. Dabei ist es für eine Analyse der Selbstbestimmung in einem digitalisierten medizinischen Setting wichtig zu klären, inwiefern ökonomische Ziele die Implementierung und Nutzung von Technologien bedingen. So lässt sich ermitteln, ob bzw. inwiefern hier eine Steuerung von Verhalten anstelle von Selbstbestimmung die Folge ist.

Die Auflistung kritischer Ansätze erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und kann um jegliche Positionen ergänzt werden, die eine kritische, d. h. reale Machtasymmetrien berücksichtigende Perspektive einnehmen. Auch ist eine intersektionale Sichtweise wünschenswert, die einzelne Machtasymmetrien nicht nebeneinander, sondern als miteinander verschränkt erachtet. Entscheidend an diesen kritischen Theorien ist, dass sie nicht als partikuläre Perspektiven zu verstehen sind. Es geht nicht allein darum, Ungerechtigkeiten gegenüber einer bestimmten Gruppe oder spezifische Machtasymmetrien zu analysieren. Eine kritische Medizinethik würde z. B. nicht nur dann auf postkoloniale Ansätze oder Queer Theory zurückgreifen, wenn die entsprechenden Gruppen in den Fokus genommen werden sollen. Vielmehr bezieht eine kritische Medizinethik die Erkenntnisse aus den kritischen Theorien immer schon ein, um den Universalitätsanspruch medizinethischer Konzepte und Prinzipien zu prüfen und deren Perspektive zu erweitern. Ziel ist nicht allein die Verbesserung der Situation einer partikulären Gruppe, sondern eine gerechtere Medizin für alle. Durch die Einbeziehung kritischer Ansätze kann die Ungerechtigkeit des Gesamtsystems der Medizin besser analytisch eingeholt werden.

Conclusio

Kritische Medizinethik lässt sich als eine reflexive Theorie beschreiben, die mittels ihrer epistemischen Ausrichtung auf reale gesellschaftliche Verhältnisse Akteuren in der Medizin zu einem potenziell emanzipatorischen Wissen verhilft und daher immer schon praktisch ausgerichtet ist. In epistemischer Hinsicht ermöglicht sie es, durch die kritische Reflexion auf reale Machtverhältnisse das Individuum in seiner je konkreten Situation zu erfassen. Damit werden die Ermöglichungsbedingungen von Prinzipien wie Selbstbestimmung definiert. Die Erkenntniskategorien aus kritischen Theorien befähigen somit eine kritische Medizinethik, eine normative Reflexion derjenigen sozialen Praktiken durchzuführen, welche die ärztlichen Handlungsmöglichkeiten formen, sowie als universal verstandene Normen in der Medizin zu hinterfragen. Eine kritische Medizinethik verfügt demnach über adäquatere Erkenntniskategorien und schärfere epistemische Linsen, um ethische Herausforderungen in der Medizin vor dem Hintergrund sozialer Machtverhältnisse zu analysieren.

Als mögliche Limitierung des hier vorgestellten Ansatzes ließe sich dessen Theorieaffinität nennen. Wer für ein „Mehr Theorie wagen“ argumentiert, sieht sich unweigerlich mit dem Imperativ der praktischen Anwendbarkeit medizinethischer Ansätze in der klinischen Realität konfrontiert. Wie gezeigt ist die Theorie-Praxis-Dichotomie ein Kernthema medizinethischer Debatten. Eine Nachschärfung der konzeptuellen und epistemischen Linsen, wie in diesem Beitrag vorgeschlagen, entspricht jedoch nicht einer realitätsfernen Priorisierung „reiner Theorie“. Gerade ein kritischer Ansatz hat das Potenzial, die Theorie-Praxis-Dichotomie zu transzendieren und produktiv aufzuheben. Indem ein kritischer Ansatz Medizin als soziales Handeln begreift, das von konkreten Machtverhältnissen präformiert ist, stellt sich die Problematik eines mechanisch-deduktiven Anwendens von realitätsfremden Prinzipien auf konkrete Entscheidungs- und Handlungssituationen erst gar nicht. Ein kritischer Ansatz geht von den konkreten Problemstellungen klinischer Praxis aus, indem er ärztliches Handeln als soziales Handeln analysiert und die sozialen Praktiken, Strukturen und Beziehungen einbezieht, die dieses Handeln und seine Evidenzgrundlage formen. Insofern bietet eine kritische Medizinethik auch eine passende Grundlage für empirische Ansätze. Diese können auf schärfere Erkenntniskategorien zurückgreifen, um entweder die Richtung empirischen Forschens auszuloten oder empirische Erkenntnisse besser kontextualisieren und interpretieren zu können. Insofern füllt eine kritische Medizinethik die momentan bestehende epistemische Lücke zwischen Reflexionstheorie und normativer Reflexionstheorie.

Eine Limitierung speziell dieses Beitrags mag die kursorische Auseinandersetzung mit wenigen Hauptthemen der genannten kritischen Theorien sein. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass es sich um den Versuch einer Darstellung der Grundzüge einer kritischen Medizinethik handelt. Der Beitrag versteht sich als ein erster Schritt, um die Perspektiven einer kritischen Medizinethik zu skizzieren. Anhand des hier vorgestellten Ansatzes ließen sich zukünftig konkrete Einzelprobleme analysieren. Zudem müsste eine vertiefte Auseinandersetzung mit einzelnen Erkenntniskategorien und epistemischen Linsen aus der Kritischen Theorie wie den kritischen Theorien erfolgen.