Einleitung

Bei „ethischen Fragen in der Pflege älterer und hochaltriger Menschen“ scheinen sich zunächst Themen wie Menschenwürde und Autonomie, Macht und Ohnmacht, Gewalt, Behandlungsabbruch und Sterbehilfe, Intensiv- und Transplantationsmedizin sowie der Umgang mit Dilemmasituationen in der Pflege am dringlichsten zu stellen (Körtner 2022). Doch wenn es um das Wohl der Gepflegten gehen soll, dann schließt das noch mehr ein. Der Begriff des Wohlbefindens verweist auf die Idee einer Ganzheitlichkeit, die über eine körperliche Grundversorgung und über Fragen der Autonomie hinausgeht. Hierzu können sinnliche Erfahrungen, Begegnungen mit anderen Menschen und Möglichkeiten des Spiels gehören. Genuss kann auch im Essen liegen (Vilgis et al. 2015, S. 10–12), sofern er nicht durch die Schwierigkeit, Nahrung selbständig zu sich nehmen zu können, gestört wird. Auch wenn diese Aspekte des Wohlbefindens nicht alle im engeren Sinne zum Aufgabenbereich der Pflege gehören, betreffen sie diesen mindestens mittelbar, wenn ältere und hochaltrige Menschen sich nicht mehr selbst versorgen können. Der Begriff „Lebensqualität“, der ins Pflegestärkungsgesetz aufgenommen wurde (Weidekamp-Maicher 2018), sowie die umfassende Gesundheitsdefinition der WHO weisen bereits darauf hin, dass die Relevanz der Berücksichtigung von Wohl oder Wohlbefinden im medizinischen und pflegerischen Kontext angemessen ist.

Eine Berücksichtigung des Wohls der Gepflegten ist allerdings insofern herausfordernd, als diese schwer in konkrete Arbeitsschritte umzusetzen ist, unter anderem, da dies eine starke Ausrichtung am Individuum erfordert: Nicht nur objektive, sondern auch subjektive Kriterien und Bedürfnisse sind für die Frage des Wohlbefindens eines Menschen relevant (Wahl 2020). Auch eine Messbarkeit der Leistungen ist dementsprechend schwer möglich, auch wenn es verschiedene Ansätze gibt, die Lebensqualität zu messen (Weidekamp-Maicher 2018; Oppikofer und Mayorova 2016). Erschwerend kommt hinzu, dass nicht alle Betroffenen ihre Bedürfnisse verbal äußern können, sowie, dass sich Bedürfnisse mit einer Änderung des Gesundheitszustands wandeln können. Zudem sind die notwendigen Ressourcen im Pflegealltag oft kaum vorhanden. Dies sorgt für eine ethische Brisanz des Themas. Aus unserer Sicht sollte dieser Aspekt daher Teil einer ethischen Beschäftigung mit der Pflege älterer und hochaltriger Menschen sein. Das Wohl der Gepflegten wird im vorliegenden Beitrag nicht im medizinischen Sinne als ein Therapieziel verstanden (vgl. dazu Koppenhöfer 2022), sondern soll ethisch betrachtet werden.

Eine Möglichkeit, um sich ethisch reflektierend mit dem Idealzustand des „Wohls“ der Gepflegten zu befassen, liegt in einem Zugang über eine Ethik des Genusses. Fragen des Genusses gehen über eine Grundversorgung hinaus; zugleich gehört die Fähigkeit zu genießen und die Ermöglichung von Genuss grundlegend zum menschlichen Leben. Wir möchten uns in diesem Beitrag daher über eine Ethik des Genusses an die Frage eines umfassenden „Wohlbefindens“ von Gepflegten annähern. Dabei fallen Genuss und Wohlbefinden jedoch nicht in eins – auch, wenn Momente des Genusses zur Steigerung des Wohlbefindens beitragen können, sperren sie sich gegen eine reine Indienstnahme: Eine pflegebedürftige Person genießt Momente nicht, um dadurch das Wohlbefinden zu befördern, sondern diese Förderung stellt sich möglicherweise aufgrund eines Genusserlebens ein. Einige Genusserfahrungen können dahingegen langfristig auch hinderlich für ein Wohlbefinden sein, was bei der Entwicklung einer Ethik des Genusses mit zu berücksichtigen ist.

Vorausgesetzt wird, dass die Möglichkeit besteht, dass die Pflegetätigkeit sowohl von Pflegenden als auch von Gepflegten als etwas betrachtet wird, das über eine biomedizinische Tätigkeit hinausgeht. Das zeigt sich nicht nur in Slogans wie „mehr als Pflege“Footnote 1, die auf ein „Plus“ verweisen, das oftmals als sinnstiftendes Element der Arbeit beschrieben wird, sondern auch in Interviews mit Pflegekräften (vgl. exemplarisch Schiff 2020, S. 54, hier in Bezug auf die Altenpflege). Dieses „Plus“ kann nicht nur in bedeutsamen Gesprächen liegen, sondern auch in kleinen Momenten – in einem freundlichen Wort, einer Berührung, einer Geste. Es ist dieser Mehrwert, der über die biomedizinische Versorgung hinausgeht, der vielen Pflegefachpersonen in ihrem Berufsethos wichtig ist.Footnote 2

Um uns einer Ethik des Genusses in der Pflege älterer und hochaltriger Menschen anzunähern, werden im Folgenden zunächst Grundlagen zu einer Ethik des Genusses dargelegt. Diese Grundlegung wird dann auf die Situation älterer und hochaltriger Menschen in der Pflege in theoretischer wie praktischer Hinsicht angewandt. Von dort ausgehend soll eine erste, thesenhafte Skizze einer Ethik des Genusses in der Pflege entwickelt werden.

Grundlegung einer Ethik des Genusses

Genuss in der Geschichte der Ethik

Das Thema des Genusses in der Philosophie und speziell in der Ethik ist zugleich als altbewährt und als vernachlässigt einzustufen. Ausgehend von der Unterscheidung in Gebrauchen (uti) und Genießen (frui) wurde bereits seit Platon und Aristoteles das rechte Verhältnis von Nützlichem und sittlich Gutem diskutiert (Brachtendorf 2007). Auch wenn der Genuss auf Nützliches hingeordnet sein kann, zeigt sich im Genuss stets ein überschießendes Moment, das über die Nützlichkeit hinausweist: So kann sich beispielsweise das Genießen eines Musikstücks im Moment des Genießens selbst erschöpfen: Auch wenn der Genuss der psychischen Gesundheit und der Erholung dienen mag oder die Zugehörigkeit zur eigenen Peergroup stärkt, liegt im Moment des Genusses selbst etwas, das die verschiedenen Nützlichkeitsaspekte transzendiert. In der Erfahrung des Genusses kann so die Erfahrung einer Ganzheitlichkeit liegen, die sich jeweils nur momenthaft ereignet und fragil bleibt. Somit weist der Begriff des Genusses auf den Begriff des Wohls oder Wohlbefindens: Im Genuss kann sich Wohlbefinden ereignen, weil ein überschießendes Moment zugrunde liegt. Zugleich bleibt das Wohl eine utopische Zielperspektive, die sich nicht dauerhaft realisieren lässt, aber als Zielrichtung handlungsweisend sein kann.

Während Genuss bei Augustin (4./5. Jh.) nur in Bezug auf Gott zu verzeichnen ist (alles andere sei zu lieben und zu gebrauchen, aber nicht zu genießen) und nach Thomas von Aquin (13. Jh.) als Akt des Intellekts zu verstehen ist (Brachtendorf 2007), soll die Idee von Genuss hier gerade auf eine Berücksichtigung von Sinnlichkeit verweisen: Es geht um das Empfinden von Freude und Lust angesichts sinnlicher Erfahrungen. Damit ist Genuss auch eine Art des Weltbezugs (Biller und Meyer 2007). Der Genuss als Weltbezug ist dabei kategorial von den Modi der Erkenntnis oder der kognitiven Wahrnehmung zu unterscheiden und als eigenes Weltverhältnis zu verstehen (Pelluchon 2020a, S. 36). Im Genuss verbinden sich dabei sowohl sinnliche als auch geistige Erfahrungen – ein strenger Dualismus zwischen materieller und geistiger Sphäre kann so aufgehoben werden – sinnliche und geistige Lust beziehen sich aufeinander (Barlösius 2016, S. 86).

Sinnlicher Genuss als eine Grundkonstitution menschlichen Daseins wurde in der (westlichen) Theologie- und Philosophiegeschichte immer wieder abqualifiziert, indem Vernunft und geistige Erfahrungen als höherwertig eingestuft wurden. Leiblichkeit und Körperlichkeit gelten dann als etwas zu Überwindendes – körperliche Bedürfnisse werden als Hindernis wahrer Erkenntnis oder Vernunft betrachtet. Genuss, der in Zusammenhang mit Leiblichkeit steht, wurde als moralisch problematisch beurteilt (Rieger 2019, S. 13; Etzelmüller 2021, S. 10), kulinarischer Genuss wurde dämonisiert und körperliche Lust galt als sündhaft (Endres 2015, S. 4 f.). Dazu werden das protestantische Arbeitsethos, prominent etwa von Max Weber beschrieben, und ein Idealbild von Askese in Zusammenhang mit einer die Moralvorstellungen prägenden Zurückhaltung gegenüber übermäßigem Genuss gebracht. Während die Idee von Askese häufig in Zusammenhang mit einer Genussfeindlichkeit gestellt wird, kann Mäßigung auch dem Ziel dienen, Momente des Genusses zu verstärken oder bewusst steuern zu können (bis hin zu der Idee, dass im Verzicht selbst der Genuss liegt, vgl. Flaßpöhler 2008) – auch, wenn in den Praktiken der Askese die materialistische Wirklichkeit negiert werden soll (Endres 2015, S. 29). Je nach Lebenssituation und Kontext können sehr verschiedene Dinge als Genuss betrachtet werden: Was genießbar ist, ist jeweils Ergebnis kultureller Zuschreibungen und variiert je nach sozialem Kontext (Barlösius 2016, S. 97). Sowohl ein Schwelgen in Fülle als auch das Genießen ausgewählter Kunstfertigkeiten kommen dazu in Frage. Die Art des Genusses kann dabei auch der sozialen Distinktion dienen (Petrick-Felber 2015, S. 11). Diskussionen über Mäßigung bis hin zu einer Ablehnung körperlicher Genüsse zeigen sich also schon in philosophischen und theologischen Überlegungen seit der Antike und bis heute, insbesondere in Bezug auf die Überlegenheit des Geistes.

Gegen eine Leibfeindlichkeit oder Leibvergessenheit steht eine Hinwendung zum menschlichen Körper nicht erst seit den 1990er-Jahren in der Soziologie (Gugutzer 2006) und auch in Philosophie und Theologie (Rieger 2019, S. 14). Schon Friedrich Nietzsche (1999) kritisierte die Idee, durch Verzicht die Schuldgefühle, die das Christentum beim Menschen erzeuge, zu betäuben. In Bezug auf den Geschmack, der eng mit dem Thema Genuss verknüpft ist, zeigt sich seit dem 16. Jahrhundert eine „Entfaltung der Kochkunst“ durch eine Abkoppelung der Küche von lediglich diätetischen Idealen, die der Gesundheit dienen, hin zur Orientierung am Geschmack (Barlösius 2016, S. 94, mit Verweis auf Jean Louis Flandrin). Das Bedürfnis einer Gesellschaft nach Genuss zeigt sich als bleibend wichtiges Thema, auch und gerade in Zeiten des Mangels. Zu denken ist an existentiell bedrohliche Situationen wie Krieg oder Krankheit, in denen Menschen Momente des Genusses als Unterbrechung und als Zeichen für ein normales Leben suchen (Sigmund 2015, S. 25). Bei der Frage nach dem Konsum von Genussmitteln sind Fragen des Genusses dabei vermischt mit Fragen von Konsum und Wirtschaftspolitik sowie Fragen der Sucht und des Themas von Genuss als soziale Distinktion (Petrick-Felber 2015). Dass viele Praktiken des Genusses moralisch ambivalent bewertet werden, ist im vorliegenden Beitrag als kritische Hintergrundfolie zu beachten. So werden gerade Genusserfahrungen, die in Zusammenhang mit Konsum stehen, in Bezug auf Klimaverantwortung kritisiert (Grauel 2013); der Genuss von tierischen Produkten kann aus tierethischer Perspektive hinterfragt werden (vgl. exemplarisch Pelluchon 2020b). Ebenso kann Genuss überschlagen in einen egoistischen Hedonismus, in Luxus, Dekadenz oder Maßlosigkeit – die moralisch fragwürdig sein können. Bei einigen Formen des Genusses ist es sehr deutlich, dass diese moralisch nicht zu rechtfertigen, sondern abzulehnen sind – zu denken ist daran, dass etwa Sexualstraftäter*innen möglicherweise ihre Übermacht genießen (Schreiber 2022, S. 267). Ebenso sind weitere Konstellationen denkbar, in denen Genuss auf der Entwürdigung eines Gegenübers oder auch der genießenden Person selbst beruht. In einer Ethik des Genusses geht es nicht darum, solche Formen des Genusses zu rechtfertigen. Diese Problematik sollte jedoch nicht Formen des sinnlichen Genusses verstellen, die zentraler Teil des Menschseins sind und zu menschlichen Grundbedürfnissen gehören. So gehören etwa laut Martha Nussbaum die Fähigkeiten, freudvolle Erlebnisse zu haben, zu spielen und zum Genuss erholsamer Tätigkeiten zu den Grundbefähigungen eines Menschen (Nussbaum 1999, S. 52, 54, 57 f.).

Im Anschluss hieran scheint eine Berücksichtigung des sinnlichen Genusses in ethischer Hinsicht gerade in Blick auf Menschen in hohem Alter plausibel, insbesondere, wenn das Alter in Zusammenhang mit vielfältigen Verlusten erlebt wird, die das Thema möglicherweise in den Hintergrund rücken oder Genuss erschweren (Wiloth et al. 2015). Dabei steht der Genuss mit verschiedenen Dimensionen in Verbindung, die jeweils aufeinander bezogen sind: Sinnliche Erfahrungen wie beispielsweise Erfahrungen des Schmeckens, Riechens oder Sehens werden als Genusserfahrung wahrgenommen und sind so relevant für Fragen des Wohlbefindens und der Lebensqualität. Neben der Frage der Sinnlichkeit kann Genuss auch eine soziale Relevanz haben: In Situationen, in denen ein Mensch von einem anderen umsorgt wird, hat nicht nur die sinnliche Komponente eine Relevanz für die Deutung des Erlebten als Genuss, sondern auch die Verortung des Erlebten in einer Beziehung sowie die Erfahrung, versorgt, etwa genährt zu werden, sind mögliche Bestandteile einer Genusssituation.

Ethische Grundlegung

Zugrunde gelegt wird hier eine Ethik des Genusses im Anschluss an die Philosoph*innen Emmanuel Lévinas (1905/06–1995) und Corine Pelluchon sowie an die Theologin Ina Praetorius. Die Auswahl dieser Ansätze erfolgte, um einen gegenwärtigen philosophischen und einen gegenwärtigen theologischen Ansatz zu berücksichtigen. Pelluchon bietet eine Auseinandersetzung mit Genuss bei Berücksichtigung gegenwärtig problematischer Themen, ohne dabei vom Mangel auszugehen. Dennoch kommen auch ambivalente Aspekte in ihrer Philosophie der Ernährung nicht zu kurz. Da Pelluchon sich in ihren Überlegungen zum Genuss auf Lévinas beruft, wurde dieser mit aufgenommen; Praetorius bietet ausgehend von der Idee der Fülle feministische Impulse für eine gegenwartsrelevante Ethik. Als Ausgangspunkt aller menschlichen Erfahrung gilt hier der Körper bzw. der Leib (Pelluchon 2020a, S. 9). Eine Ethik des Genusses bedeutet also, die Körperlichkeit des Subjekts zu berücksichtigen (Pelluchon 2020a, S. 10). Dass der Mensch überhaupt zum Subjekt wird, hängt an der Körperlichkeit/Leiblichkeit des Menschen (auch in konstruktivistischen Ansätzen, vgl. Butler 2021) und an sinnlichen Erfahrungen. Dies zeigt sich insbesondere im Kontext der Pflege als relevant, wo die Körperlichkeit und Leiblichkeit sowohl von Gepflegten als auch von Pflegekräften in besonderer Brisanz erfahren wird. In unterschiedlichen philosophischen Strömungen ist dabei eher von Körperlichkeit oder eher von Leiblichkeit die Rede. „Körper“ bezeichnet zunächst das naturwissenschaftlich beschreibbare Objekt in Raum und Zeit. „Leib“ bringt demgegenüber zum Ausdruck, dass dieser Körper belebt und beseelt ist, zu Selbstempfindung fähig ist und in Beziehung zu einer Umwelt steht. Dazu ist die Erste-Person-Perspektive im Gegenüber zur Dritten-Person-Perspektive maßgeblich. „Der Körperaspekt ist, mit anderen Worten, der objektivierbare Teil des Leibkörpers, während der Leibaspekt die erstpersonale Erlebnisqualität des Subjekts markiert“ (Breyer 2016, S. 34). Die Differenz von Leib und Körper und ihre Verschränkung in der Selbstempfindung hat insbesondere die philosophische Strömung der Leibphänomenologie herausgearbeitet. Diese Doppelperspektive hat für die Situation der Pflege älterer und hochaltriger Menschen spezifische Relevanz, sensibilisiert sie doch zugleich für die Differenz von Aktivität und Passivität, die in dieser Situation stetig zunimmt. Denn der jeweils eigene Leib ist nach Husserl, auf den die Unterscheidung zwischen Leib und Körper richtungsweisend zurückgeht, im Unterschied zu allen Körpern Medium der lebendigen Erfahrung und des Einwirkens auf alle anderen Körper (Alloa und Depraz 2019, S. 12), während er von außen als Körper objektiviert behandelt werden kann.

Die Erfahrung, dass Subjektsein nur über Leiblichkeit vermittelt wird, lässt sich einbetten in die menschliche Grunderfahrung: „Die Dinge, von denen wir leben […] sind immer in einem gewissen Maße […] Gegenstände des Genusses, sie sprechen unseren ‚Geschmack‘ an“ (Lévinas 1987, S. 152). Die Erfahrung des Genießens, mit besonderem Augenmerk auf dem Genährtwerden, ist dabei nicht in erster Linie eine Erfahrung der eigenen Vulnerabilität und Abhängigkeit, sondern eine der Fülle und Unabhängigkeit (Lévinas 1987, S. 152 f.; Praetorius 2005): Schon der Beginn des menschlichen Lebens liegt darin, neun Monate genährt zu werden und hineingeboren zu sein in Beziehungszusammenhänge. In diesem sozialen Netz wird der abhängige Mensch umsorgt und genährt. Während in der Erfahrung von Genuss immer auch eine Deutung des Erlebens liegt, die gewissermaßen als aktives Moment verstanden werden kann, zeigen sich Passivität und Eingebundenheit als grundlegend relevant für den Genuss. Der Mensch ist dabei abhängig von der Welt und erfährt diese zugleich in ihrer Großzügigkeit (Pelluchon 2020a, S. 37): Die Welt nährt den Menschen. Somit zeigt sich in Blick auf die Ernährung des Menschen ein besonderer Schwerpunkt des Genusses; ebenso kann auch Genuss, der nicht im engeren Sinne der Ernährung zugeordnet wird, als Nahrung verstanden werden (Lévinas 1987, S. 153). Der Verweis auf das Genährtwerden bei Praetorius betont tendenziell ein passives Moment in der Genusserfahrung. Dabei steht nicht die Perspektive der Abhängigkeit im Fokus, sondern die des Versorgtwerdens, in dem sich „jahrelang die notwendige Geborgenheit als anfängliche Fülle“ (Praetorius 2005, S. 93) zeigt. Die Situation der Abhängigkeit alleine führt noch nicht zu Genuss, sondern die Erfahrung der Zuwendung anderer in dieser Abhängigkeit kann als Genuss gedeutet werden.Footnote 3 Lévinas bringt den Aspekt des Genährtwerdens zusammen mit Aktivität, die dafür sorgt, dass der Mensch sich sein Brot verdient; somit nähre sich der Mensch von seiner Aktivität selbst (Lévinas 1987, S. 154). Genuss sei zudem ein Geschehen der Umwandlung: Im Genuss wird eine andere Energie zu Kraft und Energie des Menschen, der diese genießt (Lévinas 1987, S. 153). Genuss steht dabei in engem Zusammenhang mit Glück, auch wenn eine genaue Verhältnisbestimmung hier nicht erfolgen soll.

Eine Ethik des Genusses dient also nicht dazu, die Relevanz von Selbstbestimmung zu untergraben: Auch Momente des Genusses ergeben sich nicht in der reinen Abhängigkeit, sondern dort, wo in der Bezogenheit mehr als das, was eigentlich notwendig ist, erfahren wird (Pelluchon 2020a, S. 38) und sich hierin ein Moment der Unabhängigkeit in der Abhängigkeit zeigt. Ebenso wenig geht es darum, Missstände zu verdecken oder Abhängigkeit zu glorifizieren: Der Fokus auf Genuss und die Einbettung des Menschen in Fülle dienen nicht dazu, Situationen von Leid und fehlendem Genuss zu verschleiern. Vielmehr geht es darum, im Kontext einer Pflegeethik zu fragen, wo die Relevanz von Genusserfahrungen des Menschen berücksichtigt werden kann und welche Strukturen dazu verhelfen, Genusserfahrungen gerade bei zunehmender Pflegebedürftigkeit und im Angesicht von Verlusterfahrungen zu ermöglichen. Umgekehrt kann eine Ethik des Genusses dazu helfen, Strukturen zu identifizieren, die solche Genusserfahrungen verunmöglichen.

Insgesamt dient eine Genussethik dazu, die Rückgewinnung der hohen Relevanz von Körperlichkeit/Leiblichkeit und Sinnlichkeit zu ermöglichen. Momente des Genusses weisen dabei stets auf einen Überschuss über Nützliches oder Notwendiges hin; sie sind nicht bloß Mittel zum Zweck. In Zusammenhang hiermit steht eine eigenständige Bedeutung der Passivität und Eingebundenheit des Menschen im Moment der Genusserfahrung sowie eine eigene Art der Weltbezogenheit, die nicht das Tragische der menschlichen Existenz (gegen Heidegger), sondern die Fülle als Ausgangspunkt nimmt. Vorausgesetzt wird hier, dass Genuss an sich als ein Zielpunkt zu verstehen ist, der nicht unbedingt auf etwas Dahinterliegendes verweisen muss (Lévinas 1987). Die Genussethik lässt sich somit als eine spezifische Form des Hedonismus verstehen (Pelluchon 2020a, S. 39 f.). Ob der Genuss selbst damit auf ein höheres Gut verweist oder einen Wert an sich selbst darstellt, ist für die angestellten Überlegungen hier nicht zentral, da sich aus beiden Annahmen eine Förderung des Genusses als Konsequenz ableiten lassen würde. Hier soll jedoch offengelegt werden, dass die Annahme zugrunde liegt, dass der Genuss selbst als Teil des menschlichen Lebens als erstrebenswert anzusehen ist – dabei ist dieser jedoch nicht unabhängig von ethischen Reflexionen als gut anzusehen, sondern diese sind mitzubedenken. So können etwa gesundheitsschädliche Konsequenzen oder Erfahrungen, die mit Verletzungen oder Entwürdigung anderer Menschen einhergehen, mitbedacht und bestimmte Genusserfahrungen auch abgelehnt werden.

Genuss in der Pflege älterer und hochaltriger Menschen

Theoretische Perspektive

Genau diejenigen Dimensionen des Menschseins, die für eine Ethik des Genusses als grundlegend geschildert wurden und auf die Lévinas, Pelluchon und Praetorius verweisen, werden im Alter – und dort besonders in Situationen der Pflege – augenscheinlicher. Das Eingebundensein in Beziehungen, auch die Abhängigkeit davon und selbst das Genährtwerden nehmen in dieser Situation zu. Diese Veränderung steht in der Ambivalenz, als Verlust erlebt werden zu können, aber auch Raum für die gesteigerte Bedeutsamkeit des Genusses zu eröffnen.

Dass die Relevanz von Genuss für die Situation, als alter Mensch gepflegt zu werden, steigt, lässt sich etwa mit den Wertekategorien verdeutlichen, die Viktor E. Frankl im Rahmen seiner Psychotherapie-Konzeption entwickelt hat (Frankl 2015, S. 33 f.). Laut seiner „logotherapeutischen“ Konzeption finden Menschen auf unterschiedlichen Wegen Sinn in ihrem Leben. Der eine Weg führt darüber, etwas zu tun oder zu schaffen. Hier geht es um schöpferische Werte. Ein zweiter Weg führt darüber, etwas zu erleben oder jemanden zu lieben. Hier geht es um Erlebniswerte. Ein dritter Weg führt darüber, gerade wenn die anderen Wege versperrt sind und die Situation hoffnungslos ist, eine Haltung einzunehmen, mit der jemand seinem Schicksal begegnen kann. Hier geht es um Einstellungswerte. Betrachtet man die Situation von alten Menschen in der Pflege, ist klar, dass Arbeitsfähigkeit und schöpferische Werte abnehmen, so sehr sie im Rahmen des Möglichen aufrechterhalten und gefördert werden sollten. Mit Blick auf eine Ethik des Genusses sollte das aber nicht bedeuten, nur noch den dritten Weg gehen zu können, und diese Veränderung hinzunehmen, das Leiden zu akzeptieren und damit in eine Haltung der Akzeptanz oder auch des heroischen Durchhaltens zu kommen. Vielmehr gewinnt der zweite Weg an Gewicht, der über Genuss und Erlebnisse führt. Das kann sächlich oder personal geschehen, also im Genuss von „etwas“ oder in Beziehung zu jemandem.

Als Konzept, das eine Position dazu einnimmt, wofür es sich zu leben lohnt, was Ziele einer gelungenen Lebensführung sein können und was zu einem guten Leben beiträgt, ist die Konzeption Frankls nicht nur eine therapeutische, sondern auch eine ethische, ja geradezu normative Konzeption. Weite Spiritualitätsbegriffe würden die drei genannten Wege der Sinnfindung auch als spirituell bezeichnen können. Umgreift Spiritualität bereits „Suche nach Sinn und Fähigkeit zur Selbsttranszendenz (Hingabe an Werte und Personen)“ (Grom 2011, S. 15), dann ist Frankls Konzept ein spirituelles Konzept. Genuss hätte insofern nicht nur ethische, sondern auch spirituelle Relevanz. Umgekehrt ist es u. E. aber wichtig, spezifisch von Genuss zu sprechen, weil Genuss auch möglich ist, ohne dass eine Sinnstiftung oder eine „transzendierende Selbstreflexion“ (Körtner 2011, S. 29) erfolgt.

Zur Erfahrung gehört allerdings auch, dass zugleich Genussmöglichkeiten und -fähigkeiten im hohen Alter schwinden. Damit es zu keiner Romantisierung des Genährtwerdens und Angewiesenseins kommt, wäre das Gesagte damit auszubalancieren. Am Beispiel des Genusses durch Essen: „Während Neugeborene ca. 10.000 Geschmacksknospen besitzen, wird diese Zahl bei älteren Menschen auf etwa ein Drittel reduziert“ (Vilgis et al. 2015, S. V). Der kulinarische Genuss ist damit eingeschränkt. Zugleich bestehen aber Möglichkeiten, den Genuss auch unter eingeschränkten Bedingungen zu steigern, wenn dies als Ziel der Pflege ernst genommen wird. So können z. B. durch lebensmitteltechnische Verfahren Alternativen zu „ewig pürierter und abscheulich eintönig schmeckender Astronautenkost“ (Vilgis et al. 2015, S. VII) gefunden werden. Vilgis et al. (2015) bieten dazu viele kreative Ideen.

Doch nicht nur die Pflegenden werden in Bezug auf die beschriebene Situation bedacht – häufig wird die Aufgabe für die Gepflegten abgeleitet, „mit Einschränkungen und Verlusten, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können, zu leben, seine Abhängigkeit bewusst anzunehmen und notwendige Hilfen zu nutzen […] Insbesondere im Vierten Lebensalter wird die Fähigkeit des Menschen, die Fragilität seines Lebens und die Hilfe anderer anzunehmen, zu einer bedeutenden Entwicklungsaufgabe“ (Mäule 2009, S. 229). Daran anschließend lässt sich die Schwierigkeit dieser Aufgabe herausarbeiten – z. B., weil Abhängigkeit für viele Menschen der Gegenwart eine „Schreckensvorstellung“ (Mäule 2009, S. 229) ist – oder ihr Gelingen beschreiben – z. B. weil Vertrauen in Personen und Institutionen besteht (Mäule 2009, S. 230).

Im Unterschied zur positiven Rahmung von Eingebundensein und Genährtwerden bei Pelluchon ist die Verlust-Perspektive in der Literatur und auch oft in verbreiteten Vorstellungen von Alter und Pflege sehr präsent, so auch in dieser Passage. Dass ältere und hochaltrige Menschen in Pflegesituationen mit ihrem zunehmenden Angewiesensein ringen und dass es wichtig ist, ethisch darüber zu reflektieren, was ihnen dabei hilft und was nicht, ist unbenommen. Interessant unter der Perspektive einer Ethik des Genusses, die in diesem Beitrag zugrunde gelegt wird, ist aber ein vorgelagerter Punkt: Der Umgang mit diesem Angewiesensein wird als Aufgabe gefasst. Diese aus der Entwicklungspsychologie stammende Auffassung (etwa bei Erik H. Erikson, für die Pflege z. B. rezipiert bei Kommerell 2021, S. 34) lässt sich durch die Vorstellung von Bewältigungsaufgaben mit einer Ethik der Pflicht korrelieren. Eine Ethik des Genusses allerdings kann von der Erfüllung von Aufgaben entlasten. Als Aufgabe des Alters wird häufig die Integration des bisherigen Lebens unter einem sinnvollen Ganzen gesehen. Demgegenüber üben manche theologische Stimmen Kritik und betonen wider eine „Tyrannei gelingenden Lebens“ (Schneider-Flume 2008) die bleibende Fragmentarizität des menschlichen Lebens (Coors 2020, S. 325) – Lebensgeschichten bleiben unabgeschlossen und nicht in allem können Sinngehalte gefunden werden.Footnote 4 Es gelte vielmehr, von der ethisch vorgegebenen Aufgabe, mein Leben im Alter bewerten zu müssen, zu entlasten (Coors 2020, S. 325). Genau diese Entlastung kann den Raum dafür aufspannen, schlicht genießen zu dürfen. Auch umgekehrt ist es möglich, dass Momente des Genusses dazu führen können, die Perspektive für die Entlastung von Aufgaben zu eröffnen.

Auch gegenüber anderen Narrativen und ethischen Rahmungen des Alters (vgl. dazu Coors 2020, S. 318–324) hat eine Rahmung durch eine Ethik des Genusses Vorteile. Das Alter kann – oft von medizinischer Seite – als etwas gesehen werden, das zum Tod hin strukturiert ist und deswegen bekämpft werden muss. Oder aber es wird als „Abbau“ nach der Blüte des Lebens betrauert. Im Unterschied dazu lassen sich die veränderte Einbettung in Beziehungen, die Angewiesenheit auf andere und die nun augenfälligeren Erfahrungen des Genährtwerdens als Verlagerung in Dimensionen des Menschseins verstehen, die in der Mitte des Lebens nur zeitweise zurückgetreten zu sein scheinen. Die anthropologische Tiefenverwurzelung dieser Dimensionen wird damit herausgestellt und so das Recht dieser Dimensionen im Lebensverlauf hervorgehoben. Dies könnte nun als die Devise missverstanden werden: „Zurück ins Säuglingsalter!“ Denn das Bild des Genährtwerdens wird in den benannten Entwürfen in Bezug auf die erste Lebensphase entwickelt. Wenn dies nun für eine Ethik des Genusses in der Pflege älterer und hochaltriger Menschen fruchtbar gemacht werden soll, bringt das die Gefahr mit sich, entmündigend von altgewordenen Menschen zu sprechen und auch entsprechend mit ihnen umzugehen. Das setzt allerdings das Missverständnis voraus, dass Genährtwerden, Erfahrung von Fülle und Einbettung in Beziehung nur oder vor allem das Säuglingsalter beträfen. Demgegenüber liegt der Impetus der aufgeführten philosophischen und theologischen Ansätze darauf, diese Dimensionen für jedes Lebensalter als grundlegend zu erachten, wenn sie auch in unterschiedlicher Weise in Erscheinung treten. Die menschliche Grunderfahrung des Geborenseins (Arendt 2020), die grundlegend für Praetorius ist, zeigt sich als relevant für das gesamte menschliche Leben.

Praktische und empirische Perspektive

Ausgehend von grundlegenden ethischen Überlegungen und deren Bezugnahme auf die Situation der Pflege gibt es also Grund zu der Annahme, dass die Berücksichtigung eines Ansatzes einer Ethik des Genusses in der Pflege eine hilfreiche ergänzende Perspektive zu bestehenden ethischen Überlegungen bietet. Aber auch in vielen Praktiken der Pflege sowie in entsprechender Fachliteratur und in Empfehlungen zeigt sich bereits, dass das Thema des Genusses für die Pflege von hoher Relevanz ist. So werden beispielsweise in den Expertenstandards der Pflege zur Ernährung und in kommentierenden Anleitungen dazu nicht nur biomedizinisch relevante Aspekte benannt, die etwa dazu verhelfen, dass Gepflegte nicht verhungern und genügend Nährstoffe zu sich nehmen. Auch Fragen des Genusses, der Tischkultur, Geschmacksvorlieben und die Umgebung spielen eine Rolle (vgl. bspw. Schmidt 2020, S. 147–170). Dem Genuss wird dabei in der Literatur nicht unbedingt ein Wert an sich zugestanden. Die Beachtung der Tischkultur wird möglicherweise vorrangig aufgeführt, weil diese dem Zweck der Gesunderhaltung der Gepflegten dient.

Dass das Thema Genuss für Pflegekräfte und Gepflegte relevant ist, ist auch empirisch aufweisbar; wenn auch nicht immer unter dem Schlagwort „Genuss“. So finden sich etwa Untersuchungen zur Frage nach der Lebensqualität in Pflegesituationen. Unter dem Stichwort Lebensqualität werden unter anderem Aspekte betrachtet, die im vorliegenden Beitrag unter dem Konzept von „Genuss“ betrachtet werden (Kada et al. 2018); ebenso gibt es Untersuchungen zu Fragen nach Lebensqualität, Gesundheit und Glück im Alter (z. B. Fliege und Filipp 2000; hier geht es allerdings nicht um einen Pflege-Kontext). Weitere ergänzende empirische Daten, die explizit mit dem Genuss-Begriff arbeiten, wären perspektivisch hilfreich; insbesondere, weil der Begriff „Lebensqualität“ stark mit den Aspekten der persönlichen „Kontrollmöglichkeit“ und „Aktivität“ verknüpft wird (Kada et al. 2018). Zu fragen wäre, in welchen Momenten im Alltag Gepflegte Genusserlebnisse haben und in welchen Momenten Pflegekräfte wahrnehmen, dass Gepflegte etwas genießen. Dabei wäre jeweils auch mit zu reflektieren, wo Grenzen des Genusses liegen, etwa, wenn sich mögliche negative Folgen des Genusses für Gepflegte, Pflegende oder Angehörige ergeben. Eine solche Untersuchung könnten die folgenden Vorschläge und Thesen zur ersten Skizzierung einer Genussethik in der Pflege ergänzen und unterfüttern. Wo dazu bereits Material vorliegt, soll die Verbindung zur Empirie und aktuellen Pflege-Literatur in den folgenden Thesen auch exemplarisch aufgezeigt werden.

Ethik des Genusses in der Pflege – eine erste Skizze in Thesen

These 1

Genuss ist nicht nur elementarer Bestandteil des Menschseins an sich, sondern auch relevant für die Lebensqualität gepflegter Menschen. Sowohl Pflegende als auch Gepflegte sind dazu herausgefordert, Momente des Genusses im Pflegealltag zu ermöglichen. Sowohl die Pflege selbst kann dabei als Genuss erfahren werden als auch Momente, die den Rahmen pflegerischer Tätigkeiten durchbrechen.

Solche Momente können in Zusatzangeboten zu ästhetischem oder musikalischem Genuss entstehen, in spirituellen, seelsorgerlichen und liturgischen Angeboten oder auch in sozialer Zuwendung. Diese über die Pflege hinausgehenden Aspekte stehen freilich unter dem Vorbehalt knapper Ressourcen in Pflegesituationen. Auch hinsichtlich des Genusses durch die Pflege selbst – Wohlempfinden beim Gewaschenwerden, Genuss beim Essen – wäre zu fragen, wie und unter welchen Umständen solcher Genuss ermöglicht werden kann, denn auch das „Wie“ der Pflege steht unter strukturellen Vorgaben.

These 2

Ein ethischer Ansatz, der den Genuss zum Ausgangspunkt nimmt, erlaubt es, die bereits stattfindenden Momente des Genusses in und neben der Pflege wahrnehmen und analysieren zu können. Für künftige empirische Untersuchungen wäre das eine weiterführende Perspektive, die zudem die Fokussierung auf das Autonomie-Paradigma erweitert. Zugleich wird so der konzeptionelle Rahmen geschaffen, um nach der Möglichkeit und Förderung von Genussmomenten zu fragen.

Das Bedürfnis von Gepflegten nach Genusserfahrungen ist als Teil der Autonomie der Menschen zu berücksichtigen. Wenn Genuss dabei mit möglichen Folgen verknüpft ist, die aus Sicht einer Fürsorge-Notwendigkeit problematisch sind, besteht ethischer Reflexionsbedarf. Zu denken ist sowohl an Genussmittel, die in Bezug auf die Folgen per se gesundheitlich problematisch sind, aber im Alltag als legale Genussmittel verwendet werden, als auch an solche, die aufgrund des Gesundheitszustands der Gepflegten problematisch sind. Während hier je individuelle Abwägungsprozesse stattfinden müssen, sind Genusserfahrungen, die mit Würdeverletzungen einhergehen, grundsätzlich abzulehnen.

These 3

Eine Ethik des Genusses kann dazu beitragen, einen Perspektivwechsel zu ermöglichen: Der Fokus liegt nicht auf kleiner werdender Selbstständigkeit und dem Verlust an Autonomie, sondern auf den möglichen Genuss-Momenten. Die Passivität, die Teil des Genusses ist, kann so nicht nur negativ gedeutet werden, sondern eingebettet sein in einen Kontext der Fülle.

Das lässt sich ansatzweise in Zusammenhang mit bereits erhobenen empirischen Befunden bringen. So beschreiben ältere Menschen selbst in einem positiv würdigenden Sinne, dass sich der Fokus von Aktivität hin verschiebe auf ein „Leben passieren lassen“ (Wiloth et al. 2015, S. 688). Ein pflegeempfangender Mensch sagt: „… ich habe gute Erinnerungen und lebe auch viel von den schönen Erinnerungen | muss ich sagen | ich habe nicht das Verlangen jetzt irgendwie noch was auf die Beine zu stellen | oder hier noch andere zu animieren | gar nicht.“ (Wiloth et al. 2015, S. 687). Neben die Aktivierung, die schon zurecht hohe Aufmerksamkeit in Pflege-Einrichtungen genießt, tritt unter der Perspektive einer Ethik des Genusses damit auch das Sein-Lassen (Wiloth et al. 2015, S. 687 f.). Das wird besonders plastisch im folgenden Zitat eines gepflegten Menschen: „G: es wird heute zu viel getan für die Alten| also aktiv und | da | diese Aktivitäten |und da und das unbedingt und | wenn ich das jetzt wieder gesehen habe bei der Frau Y <atmet tief ein> da muss sie unbedingt wieder gehen und so | und dann | das bewegt mich so ein bisschen dass ich denke |ist das jetzt wirklich das was wir für unser Alter und Älterwerden brauchen? Dürfen wir nicht einmal hier hin sitzen und auch mal | so | das ist ja der erste Eindruck der furchtbar negativ ist wenn man in ein Pflegeheim kommt | nicht? | aber da ist was Wahres dran | und ich weiß nicht ob man nicht auch das den Leuten manchmal lassen sollte“ (Wiloth et al. 2015, S. 687 f.).

These 4

Eine Ethik des Genusses ist nur eine von vielen ethischen Perspektiven, die für Fragen der Pflege relevant sind. Innerhalb dieser Perspektive ist auch eine Benennung des Verlustes von potenziellen Genusserfahrungen möglich.

Ebensowenig geht es darum, Schmerz und Trauer über verlorene Selbständigkeit und andere Verlusterfahrungen im Alter abzuwehren. Allerdings hilft ein Ansatz bei einer Ethik des Genusses, die Leiblichkeit in ihrer spezifischen Form in der Pflege nicht nur problem- oder leidensorientiert aufzunehmen. In einer Darstellung der „Ethik in der Pflege“ (Schiff und Dallmann 2021, S. 58–65) z. B. wird bemerkenswerterweise die philosophische Leibphänomenologie rezipiert und in ihrer Relevanz für Pflege und Pflegeforschung betont, was dem Anliegen des vorliegenden Beitrags sehr entgegenkommt. Gleichzeitig dienen als Beispiele negative Erfahrungen von Leiblichkeit wie Hunger-Empfinden oder das dauerhafte Leben in Arbeits- statt Wohnräumen. Eine positive Entfaltung von Leiblichkeit im Rahmen der Pflege im Sinn von Genuss wäre zu ergänzen.

These 5

Genuss kann sowohl in Alltagsmomenten als auch in hervorgehobenen Festzeiten liegen. Insbesondere bei der Pflege älterer und gesundheitlich eingeschränkter Menschen haben Pflegekräfte Strategien entwickelt, Genuss trotz Einschränkungen zu ermöglichen. Zu denken ist etwa an das Riechen einer Lieblingsspeise, auch wenn orales Essen nicht mehr möglich ist, an das Hören von Musik, an Berührungen etc. Das kann im o. g. Sinn in spirituelle Bereiche ausgreifen, muss es aber nicht.

These 6

Dass Genusserfahrungen, die die Lebensqualität steigern, der Gesundheit dienen, ist empirisch nachgewiesen und wird auch in qualitativen Studien von Pflegenden und Gepflegten verknüpft. Dennoch geht es einer Ethik des Genusses nicht vorrangig um die Betrachtung von Genuss, um einen anderen Zweck zu erreichen. Stattdessen liegt der Genuss um des Genusses willen und als conditio humana im Zentrum.