Ethische Entscheidungsfindungen bei Patient*innen mit chronischen Bewusstseinsstörungen müssen typischerweise in einem starken moralischen Spannungsfeld getroffen werdenFootnote 1. Das liegt daran, dass die Differenzierung, welche Form der chronischen Bewusstseinsstörungen vorliegt, mitunter herausfordernd und eine Prognose schwierig zu stellen ist. Insbesondere die Aussicht auf Wiedererlangen des Bewusstseins kann nur in Wahrscheinlichkeiten angegeben werden (Bender et al. 2015; Hirschberg und Giacino 2011). Andererseits ist nicht selten über die individuellen Präferenzen der Betroffenen bezüglich eines Zustandes mit chronischer Bewusstseinsstörung wenig bekannt. Hinzu kommt, dass trotz erheblichen technischen Fortschritts nicht sicher gewusst werden kann, ob und zu welcher Form bewussten Erlebens ein Mensch im WachkomaFootnote 2 in der Lage ist. Oftmals bleibt der klinische Zustand über Jahre unverändert und lässt keine Aussage über eine Progredienz oder Besserung zu. Therapieentscheidungen, die sich auf lebensverlängernde oder -erhaltende Maßnahmen beziehen, können sich zudem bei Patient*innen mit chronischen Bewusstseinsstörungen auf einen langen, prognostisch ungewissen Zeitraum beziehenFootnote 3.

Prinzipiell unterliegen alle diagnostischen oder therapeutischen medizinischen Maßnahmen ethisch und rechtlich einer Rechtfertigung durch die medizinische Indikation und die Zustimmung der Patient*innen. Entscheidungsfindungen in Bezug auf Therapiebegrenzungen sind generell Individualentscheidungen und müssen im jeweiligen Kontext getroffen werden. Daher kann die Frage der medizinischen Indikation beim Wachkoma keinesfalls grundsätzlich geklärt werden, sondern muss zwingend fallbezogen ermittelt werden. Wichtig ist dabei, normative Werturteile bei der Indikationsstellung oder deren Einfluss auf die Beurteilung eines möglichen Patientenwillens transparent herauszuarbeiten.Footnote 4

Die Indikation muss immer auf ein legitimes, erreichbares sowie für die Patient*innen nützliches Therapieziel ausgerichtet sein. Nutzen hat eine Therapiemaßnahme dann, wenn ein für die/den Patient/in selbst erstrebenswertes Therapieziel zu erreichen ist (Marckmann 2015). Wäre Letzteres nicht gegeben, entfiele die Indikation und damit das Gebot, oder gar die Pflicht, die Therapie weiterzuführen. Das Therapieziel könnte im vorliegenden Fall auf die Wiederherstellung des Bewusstseins oder auf Lebensverlängerung im Zustand des Wachkomas ausgerichtet sein. Bei Herrn R. besteht das Wachkoma seit 16 Jahren, so dass die Wiedererlangung des Bewusstseins extrem unwahrscheinlich ist (Nakamura et al. 2023). Konsequenterweise stellt sich dann die Frage, inwieweit ein irreversibel bewusstloser Mensch Nutzen durch eine Lebensverlängerung haben kann, deren Antwort umstritten ist (Synofzik und Marckmann 2005). Durch den Verlust des Bewusstseins verlieren die Betroffenen jede Möglichkeit, an ihrem Leben teilzunehmen, mit ihrer Umwelt zu interagieren und damit jeden persönlichen Nutzen.Footnote 5 Dies gilt allerdings nur unter der Annahme, dass tatsächlich jegliche Wahrnehmungsfähigkeit fehlt und in der Fortsetzung des Lebens nicht bereits ein Nutzen an sich, im Sinne eines inneren unbedingten Wertes oder aus religiösen Gründen, erkannt wird. Da es in Bezug auf diese Frage keinen einheitlichen gesellschaftlichen Konsens gibt, sollten entsprechende Entscheidungen möglichst auf Basis der Patientenpräferenzen getroffen werden (Synofzik und Marckmann 2005). Sind diese aber nicht bekannt, kann sich die Entscheidung nur an allgemeinen Wertvorstellungen orientieren. Einerseits kann dabei als Grundsatz Lebensschutz gelten. Andererseits ergeben sich aber aus Umfragen der Allgemeinbevölkerung und unter Ärzt*innen relativ konsistent Hinweise dafür, dass die Mehrheit der Befragten für den Fall chronischer Bewusstlosigkeit lebensverlängernde Maßnahmen für sich ablehnen würden.Footnote 6

Zusätzlich zur grundlegenden Frage der normativ-wertebasierten Einschätzung der Nützlichkeit an sich, müssen durchgeführte Therapiemaßnahmen einer Schaden-Nutzen-Abwägung unterzogen werden und dürfen nur durchgeführt werden, wenn diese positiv ausfällt. Zwar scheinen objektive Hinweise dafür zu fehlen, dass Herr R. durch die Behandlung Leid erfährt. Hier könnte aber argumentiert werden, dass die lebensverlängernde Behandlung an sich, möglicherweise nur durch das Verharren in dem Zustand selbst, Leid bedeutet. So könnte das Ergebnis zweier US-amerikanischen Studien gedeutet werden, bei denen die Mehrheit der Teilnehmenden eine dauerhafte Bewusstlosigkeit als schlimmer als den Tod einschätzte (Gray et al. 2011; Wilson et al. 2021).

Die ambulante Ethikberatung kommt im berichteten Fall von Herrn R. zu dem Ergebnis, 1) alle therapeutischen Maßnahmen, also die Ernährungs- und Flüssigkeitstherapie, unverändert durchzuführen, aber 2) im Falle einer Krise die Therapie nicht zu eskalieren. Begründet wird das Ergebnis damit, dass bei unbekanntem Patientenwillen davon ausgegangen werden müsse, dass der Patient Maximaltherapie wünsche und dass hinsichtlich der Therapiemaßnahmen eine positive Schaden-Nutzen-Relation bestünde. Aus einem unbekannten Patientenwillen kann keineswegs direkt auf einen Patientenwillen zur Maximaltherapie geschlossen werden. Aber unter Rückbezug auf den Grundsatz des Lebensschutzes, im Sinne allgemeiner Wertvorstellungen, ließe sich die Entscheidung, die Ernährungstherapie weiter zu führen, begründen. Dazu müssten aber noch zusätzliche Aspekte berücksichtigt werden, die dem Fallbericht nicht entnommen werden können: Haben die Hausärztin und der Betreuer, wie es erforderlich wäre, an der Fallbesprechung teilgenommen? Wenn ja, gibt es einen Konsens? Hatte die Hausärztin vormals, auch aufgrund von Zweifeln an der Indikation (Nutzen?), eine Umstellung auf ein rein palliativmedizinisches Konzept vorgeschlagen? Wollte der Betreuer mit seinem Einwand „Ich möchte so nicht enden“ ein allgemeines Werturteil ausdrücken, dergestalt, dass er keinen Nutzen erkenne, oder handelt es sich um seine individuelle Präferenz?

Zudem steht die Entscheidung, die Therapie nicht zu eskalieren, (2) im Widerspruch zur Begründung der Fortführung der Therapie (1). Wird in der Lebensverlängerung im Wachkoma ein nützliches Therapieziel für Herrn R. erkannt (Lebensschutz) und die Schaden-Nutzen-Relation der lebensverlängernden Therapie (Ernährungstherapie) positiv bewertet, müsste konsequenterweise, jede weitere Therapieintervention, für die beides zuträfe, durchgeführt werdenFootnote 7. Dies würde auch für eine Krise gelten, es sei denn, die Indikation ändere sich, beispielsweise, weil ein Überleben nicht mehr erreichbar erscheint oder die Schaden-Nutzen-Relation für die erforderliche Maßnahme negativ würde. Eine pauschale Ablehnung jeglicher Krisenintervention kann über die genannten Argumente nicht gleichermaßen begründet werden. Vielmehr müsste jede erforderliche Therapieeskalation erneut auf ihre Indikation und Schaden-Nutzen-Relation geprüft werden.