Einleitung

Der Artikel reflektiert anhand der Arbeit der Bayerischen Ethikkommission für Präimplantationsdiagnostik (PID) die ethischen Aspekte dieser reproduktionsmedizinischen Praxis. Er verfolgt damit zwei Ziele. Zum einen soll die Arbeit in der Kommission transparent gemacht werden und so der Gesellschaft ein informiertes Bild über diese Praxis vermittelt werden. Zum anderen werden Punkte herausgearbeitet, die sich im Verlauf von rund acht Jahren Kommissionsarbeit als ethisch bedeutsam erwiesen haben. Hierbei erscheint es uns wichtig, den eigenen Lernprozess und damit Veränderungen in der Beurteilung von Fällen wie auch Veränderungen durch die rezente Rechtsprechung zu markieren. Nicht zuletzt werden dabei Verschiebungen in der ethischen Beurteilung der PID erkennbar, die sich in der Zeit vor ihrer Einführung anders dargestellt haben als in der aktuellen Praxis. Damit wollen wir auch einen Beitrag leisten zu der Notwendigkeit und den Grenzen einer prospektiv urteilenden Ethik und eine erneute gesellschaftliche Debatte anregen.

Die PID gehört zu den künstlichen Reproduktionstechnologien (vgl. Montag et al. 2020; Manzeschke 2016) und ist als genetische Untersuchung von Zellen eines Embryos seit 2011 unter in § 3a Abs. 2 Embryonenschutzgesetz (ESchG) definierten Bedingungen erlaubt: gemäß Satz 1, wenn eine genetische Disposition eines oder beider Elternteile dafür besteht, dass die Nachkommen ein hohes Risiko einer schwerwiegenden Erbkrankheit besitzen. Ebenfalls ist eine PID nicht rechtswidrig, wenn, Satz 2, damit die hohe Wahrscheinlichkeit einer Tot- oder Fehlgeburt verhindert werden soll, und zu diesem Zwecke die Feststellung von schwerwiegenden Schädigungen des Embryos durch PID vorgenommen wird. Auf einen Katalog zur Bestimmung von schwerwiegenden Krankheiten hat der Gesetzgeber bewusst verzichtet (siehe die Begründung zum Gesetz zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik (Präimplantationsdiagnostikgesetz PräimpG), BT Drs. 17/5451 S. 7). Die Beurteilung, ob eine PID erlaubt ist, muss daher im Einzelfall durch eine Ethikkommission erfolgen.

Die Bayerische Ethikkommission für PID ist mit ihrer Geschäftsstelle beim Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege angesiedelt, Letztere ist auch für die Zulassung von Zentren für PID zuständig. Zu den stimmberechtigten Mitgliedern und Stellvertreter*innen der Kommission gehören – gemäß § 4 Abs. 1 Satz 3 PIDV (Präimplantationsdiagnostikverordnung) i. V. m. Art. 2 Abs. 3 BayAGPIDV (Gesetz zur Ausführung der Präimplantationsdiagnostikverordnung) – vier Vertreter*innen der Medizin: Frauenheilkunde und Geburtshilfe mit dem Schwerpunkt gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin, Humangenetik, Kinder- und Jugendmedizin und Psychiatrie und Psychotherapie. Weiterhin ist die Kommission besetzt mit je einem Vertreter bzw. einer Vertreterin der Fachrichtung Recht und Ethik sowie der maßgeblichen Organisationen für die Wahrnehmung der Interessen der Patientinnen und Patienten und der Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung. Die Mitglieder werden für die Dauer von fünf Jahren vom Staatsministerium bestellt, eine mehrmalige Bestellung ist zulässig. Die Mitglieder der Kommission arbeiten ehrenamtlich. In der Regel finden fünf Kommissionssitzungen im Jahr statt, um das hohe Antragsvolumen bearbeiten zu können.

Die Zuständigkeit einer Ethikkommission richtet sich nicht nach dem Wohnort der Antragstellerin, sondern nach dem Sitz des PID-Zentrums, in welchem die Durchführung einer PID erfolgen soll, Art. 2 Abs. 2 BayAGPIDV. In Bayern sind derzeit vier Zentren zugelassen, die unter anderem mit reproduktionsmedizinischen Zentren auch außerhalb Bayerns kooperieren – was zum Teil die hohen Antragszahlen in Bayern erklärt.

Einen Überblick über die Anzahl der gesamten Fälle bis Dezember 2022 gibt die Tab. 1. Die mit X bezeichneten zwei Fälle aus den Jahren 2015 und 2020 gehen auf genetische Veränderungen zurück, die zu diesem Zeitpunkt nicht oder nur unzureichend beschrieben waren oder die in einer ersten Sitzung nicht sicher beurteilt werden konnten und deshalb zurückgestellt worden sind.

Tab. 1 Anzahl und Kategorisierung der Anträge bei der bayerischen Ethikkommission zwischen 2015–2022

Die PID als reproduktionsunterstützende Maßnahme ist in Deutschland seit rund acht Jahren etabliert, und so haben die PID-Zentren wie auch die Ethikkommissionen in dieser Zeit Erfahrungen sammeln können, die es erlauben einzuschätzen, ob bestimmte normative Argumente stärker berücksichtigt werden sollten, als bei der Einführung von PID gedacht, bzw. ob bestimmte Abwägungsprozesse durch Praxis und Rechtsprechung anders zu gewichten seien. Für eine allgemeine Darstellung der Entwicklungen werden wir auf den zweiten Bericht der Bundesregierung über die Erfahrungen mit der PID zurückgreifen und daraus wesentliche Aspekte wiedergeben (DtBT 2020). Gleichzeitig ist es uns wichtig, die Entwicklungen anhand der eigenen Erfahrungen in der Bayerischen Ethikkommission für PID nachzuzeichnen. Hierzu werden wir die dort bisher bearbeiteten Anträge in quantitativer und qualitativer Hinsicht darstellen und zeigen, welche Tendenzen sich bei der Zustimmung bzw. Ablehnung der Anträge ergeben haben. Dieser deskriptiven Darstellung der Antragspraxis und der daraus erwachsenden Diskussion einer möglichen Veränderung bei der Beurteilung einzelner normativer Argumente, möchten wir eine Darstellung voranstellen, aus der zentrale Argumente ersichtlich werden sollen, die vor der Zulassung der PID in Deutschland diskutiert wurden. Diese Darstellung soll die weitere Diskussion erleichtern.

Pro und Kontra-Argumente vor der Einführung des Präimplantationsgesetzes

Die Einführung der Regelungen zur PID ist von vielen kontroversen Debatten in Öffentlichkeit und Wissenschaft begleitet worden. Im Hintergrund standen (und stehen) die Fragen der Forschung an embryonalen Stammzellen – dabei wurde vor allem der Topos einer Verzweckung des Embryos diskutiert. Und so war auch in der Debatte um die PID die Frage zentral, ab wann man die Schutzansprüche des Embryos gegeben sieht und ob diese mit den Rechten und Interessen der Mutter abgewogen werden können bzw. müssen (DER 2011; Maio 2012, bes. S. 231 ff., 2001; Manzeschke 2016, Sp. 491 ff.). Der für ethische Schutzansprüche relevante moralische Status des menschlichen Embryos kann dem Embryo bereits ab dem Zeitpunkt der Kernverschmelzung zugesprochen werden (DER 2011, S. 40 ff.). Möglich ist es aber auch, eine Position einzunehmen, bei der dem Embryo in abgestufter Weise, gemäß seiner Entwicklungsstufe, eine Schutzwürdigkeit zukommt (DER 2011, S. 51 ff.). Weist man dem Embryo ab der Kernverschmelzung moralischen Status zu, ist damit in der Diskussion die Forderung nach einem nicht abstufbaren Schutz verbunden (DER 2011, S. 40 ff.; Maio 2001). Unabhängig vom aktuellen Entwicklungsstadium oder den Fähigkeiten des Embryos kommt dem Embryo gemäß dieser Position Menschenwürde zu und eine Abwägung des Embryonenschutzes mit konkurrierenden Gütern und eine Verzweckung des Embryos wird kategorisch ausgeschlossen (DER 2011, S. 40 ff.; Maio 2001). Relevant für diese Position sind die sogenannten SKIP-Argumente: Das Speziesargument (Zugehörigkeit zur Gattung Mensch ist relevant für den moralischen Status); das Kontinuitätsargument (es gibt keine zeitlich klar abgrenzbaren qualitativen Einschnitte in der Entwicklung ab der Befruchtung); das Identitätsargument (Identität im moralischen Status von Embryo und dem späteren Erwachsenen); das Potenzialitätsargument (Potenzial, sich zum Erwachsenen zu entwickeln, ist beim Embryo von Beginn an da) (DER 2011, bes. S. 40 ff.; Rüther 2015; Maio 2012, bes. S. 206 ff.). Im Gegensatz kann mit der anderen Position eine abgestufte Schutzwürdigkeit vertreten werden, weil der Embryo zwar von Anfang an als ein vorrangig zu schützendes Gut angesehen wird, aber seine Schutzansprüche bis zu einer bestimmten Entwicklungsstufe einer Güterabwägung mit anderen hochrangigen Gütern unterzogen werden kann (DER 2011, S. 51 ff.; Maio 2001). Für diese Position wurde weiter unterschieden, ob die Güterabwägung bis zum Erreichen einer genau benennbaren Entwicklungsstufe möglich sein soll (etwa der Nidation), oder im Sinne eines Progredienz-Modells, die Schutzwürdigkeit des Embryos fortschreitend zunimmt (Maio 2012, S. 202 ff., 2001). Durch eine begrenzte Zulassung der PID ist bezüglich dieser zentralen Fragestellung bereits eine normative Entscheidung gefällt worden, sodass wir weder in der Kommissionsarbeit noch in diesem Artikel diese grundsätzliche Fragestellung weiter verfolgen werden.Footnote 1 Vielmehr geht es darum, den hohen Stellenwert der Schutzwürdigkeit des Embryos stets im Blick zu behalten, wenn diskutiert wird, in welchen Fällen eine Anwendung der Regelungen zur PID legitim ist (zur ethischen Diskussion insgesamt vgl. Kreß 2020).

Ein weiteres gewichtiges Argument in der Debatte gegen die PID war das der Zeugung auf Probe. Im Gegensatz zu einem selektiven Schwangerschaftsabbruch, bei dem sich Eltern für oder gegen das im Mutterleib heranwachsende Kind entscheiden müssten, handelt es sich bei der PID um eine Auswahl von Embryonen in vitro (Maio 2001).Footnote 2 Da der Embryo nur dann am Leben erhalten bzw. implantiert wird, wenn er bestimmte genetische Eigenschaften nicht aufweist, sahen viele in der PID eine Zeugung auf Probe und eine schwer zu rechtfertigende Instrumentalisierung des Embryos (Maio 2012, S. 232 ff., 2001). Damit im Zusammenhang steht das Argument, dass durch die PID eine unzulässige Selektion vorgenommen werde und es zu Urteilen über „lebens(un‑)wertes“ Leben komme (DER 2011, S. 60 ff.). Dagegen wurde eingewandt, dass der Selektion keine illegitime eugenische Motivation, sondern vielmehr die Sorge der Eltern zugrunde liege, dass schwere genetisch bedingte Krankheiten des Kindes eine unzumutbare physische wie psychische Belastung sowie ein erhebliches Leiden bedeuten würden.Footnote 3

Zentral in der Debatte um die PID waren außerdem sozialethische Argumente wie das der Diskriminierung, Kränkung oder Stigmatisierung von Menschen, die bereits mit einer Krankheit oder Disposition leben, die nun per PID verhindert werden soll (DER 2011, S. 62 ff.). Es scheint unausweichlich, mit der PID auch Werturteile über bestimmte Erkrankungen oder Behinderungen zu fällen – welche Reichweite und welchen Stellenwert diese Werturteile im Einzelfall sowie im Weiteren in der Gesellschaft haben, ist Gegenstand der ethischen Erwägung in der Kommission; in der Folgezeit aber müsste dies Gegenstand sozialempirischer Forschung und weiterer ethischer Reflexion in der Gesellschaft sein. Mit dem Argument der möglichen Diskriminierung ist auch die Befürchtung verbunden, es könnte zu einer gesellschaftlichen Situation kommen, in der Eltern mit einem Risiko für genetisch erkrankte Kinder Solidarität in Form von struktureller, emotionaler sowie finanzieller Unterstützung verwehrt und stattdessen deren Eigenverantwortung angesichts medizintechnisch verhinderbarer Risiken betont werde (vgl. DER 2011, S. 62 ff.). Dagegen wurde vorgeschlagen, dass parallel zu der Einführung der PID auch bewusst gesellschaftliche Rahmenbedingungen für Menschen mit Behinderung oder Erkrankungen geschaffen werden sollten, die einer solchen Entwicklung entgegenwirken (vgl. BBAW und Leopoldina 2012).

Unter den sozialethischen Argumenten in der Debatte wurde auch mit der Gefahr einer schiefen Ebene gegen die Einführung der PID votiert. Gemeint ist damit, dass sich die Indikationen für die PID sukzessive ausweiten könnten und in nicht näher bestimmter Zukunft ein Zustand erreicht sein könnte, der moralisch unzuträglich erscheint und in praxi sich weit von den Intentionen bei der Einführung der PID entfernt hätte (Maio 2001). Konkret könnte das bedeuten, dass zunächst moralisch als unbedenklich erachtete Indikationen für eine PID gestellt würden (z. B. zum Tod führende genetische Erkrankungen), dann aber eine nicht weiter kontrollierbare Handlungsfolge in Gang gesetzt würde, bei deren Zwischenschritten die Kriterien für eine PID immer weiter erleichtert würden, so dass am Ende PID-Indikationen stehen könnten, die als höchst unmoralisch und inakzeptabel (etwa Auswahl des Geschlechts, kosmetische Gründe) anzusehen sind (Maio 2001). Kritisiert wurde an diesem Argument, dass es eine Unausweichlichkeit und Unaufhaltsamkeit suggeriert, obwohl mit gesetzgeberischen Regelungen diesem Prozess entgegenwirkt und der Missbrauch der PID verhindert werden könne (DER 2011, S. 94 ff.; Maio 2001). In eine solche Richtung weist das Argument vom „fundamentalen Paradigmenwechsel“ (so der damalige Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse), weil mit dieser Methode eine „Qualitätsüberprüfung menschlichen Lebens“ ermöglicht werde (DtBT Archiv 2013).

Die enorme Ambivalenz gegenüber der PID in Deutschland zeigte sich nicht zuletzt in den Abstimmungen repräsentativer Gremien, welche die Diskurslage pars pro toto widerspiegeln. Der Deutsche Ethikrat hatte sich mit 13 + 1 gegen 11 Stimmen für eine eingeschränkte Genehmigung der PID ausgesprochen; die 14. Pro-Stimme hatte hierbei eine verbindliche Indikationenliste gefordert (DER 2011). Für eine in engen Grenzen zugelassene PID argumentierten auch die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften gemeinsam mit acatech und der Leopoldina in ihrer Stellungnahme vom 18.01.2011. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hatte in seiner Stellungnahme am 15.02.2011 mit 13 Stimmen zu 11 Stimmen gegen eine Einführung der PID votiert.

Schaut man sich einige Jahre später die konkrete Praxis an, dann bestätigt sich insgesamt die Einsicht, dass eine unter engen Grenzen durchgeführte PID (bisher) nicht zu einigen damals befürchteten drastischen moralischen Problemen geführt hat, wie z. B. zur Indikationsstellung aus kosmetischen Gründen. Dennoch ist es an der Zeit, die Herausforderungen und Veränderungen, die durch die PID-Praxis entstanden sind, zu beschreiben und erneut kritisch zu reflektieren.

Entwicklung der Zahlen und der Fälle in den Ethikkommissionen

Der Bericht der Bundesregierung (DtBT 2020) zeigt, dass die Zahl der PID Zentren seit 2015 mit zehn bis elf Einrichtungen relativ konstant geblieben ist. Die Zahl der Kooperationspartner, sprich: reproduktionsmedizinischer Einrichtungen, wird hingegen mit steigender Tendenz angegeben; 2015 waren es acht, 2019 dann 21, (DtBT 2015, S. 2, 2020, S. 17). Die Zunahme der reproduktionsmedizinischen Einrichtungen erlaubt es, mehr Behandlungen durchzuführen, was sich insgesamt an der Zunahme von PID über den Beobachtungszeitraum ersehen lässt.

Der Bericht vermerkt zudem, dass die Einordnung von Chromosomenstörungen sich verändert hat. Diese galten 2015 und 2016 noch als Erbkrankheiten, sind in den Meldebogen von 2017 und 2018 aber im Indikationsbereich von schwerwiegenden Schädigungen des Embryos aufgeführt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Tod- oder Fehlgeburt führen können (DtBT 2020, S. 34). Da die Untersuchungsmethoden zugenommen haben, wird seit 2017 im Meldebogen nicht mehr vorgegeben, welche Untersuchungsmethode bei der PID zum Einsatz kommt (DtBT 2020, S. 34). Auffällig ist im Bericht zudem, dass die Anzahl der genehmigten Anträge nicht mit der Anzahl der durchgeführten PIDs übereinstimmt (DtBT 2020, S. 34), was ähnliche Gründe haben könnte wie für Bayern folgend dargelegt.

Bei den vorliegenden Zahlen ist immer zu bedenken, dass die von den PID beantragenden Personen selbst zu tragenden Kosten für diese Prozedur ein nicht unwesentlich limitierender Faktor sein dürfte – Kosten von mindestens 10.000 € tragen dazu bei, dass diese reproduktionsmedizinische Technik nur von einer begrenzten Klientel überhaupt „nachgefragt“ wird. Weiterhin ist zu bedenken, dass es wenig Evidenz darüber gibt, wie viele Personen bzw. Paare eine PID im Ausland mit zum Teil geringeren Kosten und auch geringeren rechtlichen und moralischen Einschränkungen durchführen lassen. Um zu einem vollständigeren Bild der Lage zu kommen und einen gehaltvolleren Diskurs über die PID als reproduktionstechnische Option führen zu können, wären hier belastbare Zahlen dringend vonnöten.

Darstellung der bearbeiteten Anträge der Kommission in Bayern

Die Bayerische Ethikkommission für PID hat seit ihrer Konstituierung am 09.03.2015 insgesamt 1886 Anträge bis April 2023 bearbeitet. Die Zahl 1886 betrifft allerdings die Fälle, die bis zum Dezember 2022 als Antrag bei der Geschäftsstelle eingegangen sind; sie konnten aufgrund des großen Überhangs erst 2023 bearbeitet werden. Nicht alle 1886 Fälle sind von der Kommission entschieden worden; einige Anträge wurden zurückgezogen, zurückgestellt, andere sind wegen offener Gerichtsverfahren noch anhängig. Bezogen auf die entschiedenen Fälle beträgt die Ablehnungsquote 6,2 %. Im untersuchten Zeitraum sind insgesamt elf Klagen gegen die Bescheide der Ethikkommission erhoben worden; bei sieben Klagen wurde im Nachgang die Genehmigung erteilt, bei drei Fällen wurde auch dann keine Genehmigung erteilt und in einem Fall wurde die Klage zurückgezogen. Bei dem unter Kategorie 5 aufgeführten Fall handelt es sich um eine Zustimmung zur PID hinsichtlich des Fragilen-X-Syndroms, aber eine Ablehnung hinsichtlich eines Syndroms, das als nicht schwerwiegend befunden wurde. Bei dem unter Kategorie 6 aufgeführten Fall handelt es sich um eine Zustimmung zur PID hinsichtlich einer Translokation, aber eine Ablehnung hinsichtlich eines Befundes, der als nicht schwerwiegend befunden wurde.

Die Klagefälle und die im Nachgang erteilten Genehmigungen zeigen, dass die Einschätzung der Gerichte und der Ethikkommission bei Fällen wie TAR-Syndrom oder Myotoner Dystrophie differieren, und die regulative Kraft der Gerichte auf die Praxis der Kommission durchschlägt. In der Einschätzungsfrage, was als schwerwiegend anzusehen ist, gewinnt das richterliche Votum normative Kraft, ohne dass es für diese Einschätzung stärkere Gründe gäbe als jene, die die Kommission bis dato leiteten. Hier gerät möglicherweise die ethische Entscheidungsfindung an ihre alltagspraktischen Grenzen (Tab. 2).

Tab. 2 Voten zu den Anträgen nach Kategorien aufgeschlüsselt

Was lässt sich aus dieser Entwicklung der Zahlen/Antragsbewilligungen ableiten?

Lässt man die Praxis der PID in Deutschland nach ihrer gesetzlichen Freigabe Revue passieren, so fällt auf, dass einige der vermuteten moralischen oder sozialen Entwicklungen sich so nicht eingestellt haben, dafür sind aber andere Themen relevant geworden, die nun einer ethischen Analyse und einer breiteren gesellschaftlichen Verständigung harren. So hat sich die von manchen geäußerte Befürchtung, dass nun „Designerbabys“ geschaffen würden (vgl. DtBT Archiv 2013), nicht erfüllt. Mit Blick auf die in Bayern begutachteten Fälle lässt sich sagen, dass es derartige Anträge nicht gab. Das mag auch daran liegen, dass in den PID-Zentren, welche die antragstellenden Personen begleiten und beraten, solche Vorstellungen bereits „herausgefiltert“ worden sind.

Auf der anderen Seite sind unten geschilderte Entwicklungen festzustellen, die vor zehn Jahren in dieser Weise nicht gesehen worden sind. Diese liegen darin begründet, dass der Gesetzestext bewusst Spielräume für Einzelfallentscheidungen lässt, dass es technische Weiterentwicklungen gegeben hat und schließlich, dass sich neue gesellschaftliche Erwartungen an die PID manifestiert haben. Diese Ursachen werden wir in Folge weiter darstellen und am Ende hinsichtlich der bereits vor der Einführung des PID-Gesetzes diskutierten Argumente beleuchten. Wir gliedern unsere Argumentation nach Fallklassen.

1) Translokationen (§ 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG)

Die Beurteilung von genetischen Translokationen ist über die Jahre hinweg konstant geblieben. Im genannten Zeitraum sind 518 Anträge gestellt worden, die in diese Kategorie fallen. Das Risiko für eine schwere Erbkrankheit bzw. für eine Tot- oder Fehlgeburt wurde bereits am Anfang der Kommissionsarbeit als hoch eingeschätzt, und somit wurden 100 % der Anträge positiv bewilligt. Es läge an dieser Stelle nahe, Translokationen grundsätzlich ohne weitere Prüfung pauschal positiv zu bewilligen und hier das Verfahren insgesamt effizienter zu gestalten. Die Kommission hat sich jedoch nach eingehender Beratung dazu entschieden, Fälle dieser Kategorie nicht blockweise abzustimmen, sondern jeden Fall einzeln zur Entscheidung zu stellen und so dem Prinzip der Einzelfallprüfung zu entsprechen. Eine gesellschaftliche Debatte darüber, ob Fälle von Translokationen nicht pauschal für eine PID zu bewilligen wären, wäre angeraten. Ohne eine solche öffentliche Debatte und entsprechende rechtliche Justierung wird es jedoch bei der bisherigen Praxis einer Einzelfallprüfung bleiben müssen.

2) Monogene Erkrankungen (§ 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG)

Eine stärkere Veränderung ist bei der Beurteilung der Anträge für monogene Erkrankungen festzustellen. Für monogene Erkrankungen werden vermehrt Anträge verzeichnet, die den Beurteilungsprozess der Kommission notwendig weiter ausdifferenzieren. Neben dem Bemühen der Kommission um Kohärenz zwischen individuellen Einzelurteilen haben Gerichtsurteile die Basis des Entscheidens in dieser Kategorie geprägt. So wurde etwa ein im Vorfeld erfolgter Spätabbruch aufgrund eines diagnostizierten TAR-Syndrom bereits als starkes Indiz für eine schwerwiegende Erbkrankheit gesehen, vgl. VG Regensburg, Urteil vom 24.01.2019, Az.: RO 5 K 17.335. Demgegenüber liegt nach einem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 14.03.2019, Az.: 20 BV 17.1507, eine schwerwiegende Erbkrankheit nur dann vor, wenn die Erkrankung im Schweregrad mit der Muskeldystrophie Duchenne vergleichbar sei. Dem entgegen hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) mit einem Urteil vom 02.11.2020, BVerwG 3 C 12.19, die Ansicht vertreten, dass die Muskeldystrophie vom Typ Duchenne nicht Maßstab für die Bewertung einer Erbkrankheit als schwerwiegend i. S. d. § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG ist. Außerdem hat es generell Kriterien hinsichtlich der Auslegung des Gesetzesmerkmals „schwerwiegende Erbkrankheit“ aufgestellt. Diese Kriterien wurden zwar auch vor dem Urteil des BVerwG von der Bayerischen Ethikkommission berücksichtigt, aber zum Teil anders gewichtet (insbesondere die Kriterien: ein Schwangerschaftsabbruch gemäß § 218a Abs. 2 StGB (Strafgesetzbuch) in der Vorgeschichte, die Betroffenheit eines (zukünftigen) Elternteils und die Frage, ob es sich um eine früh- oder spätmanifestierende Erkrankung handelt). Aufgrund des höchstrichterlichen Urteils wurden seither deutlich weniger Anträge abgelehnt (vor dem BVerwG-Urteil meist 10–15 % Ablehnungen pro Sitzung, danach rund 2 %).

Insgesamt lässt sich im zeitlichen Verlauf der Kommissionsarbeit eine Veränderung der Kriterien für die Beurteilung schwerwiegender Erbkrankheiten feststellen. Eine solche Verschiebung lässt sich insbesondere bei den sogenannten spätmanifestierenden Krankheiten konstatieren. Während die Ethikkommission zu Beginn ihrer Tätigkeit spätmanifestierende Krankheiten als nicht zulassungsfähig für PID bewertete (vgl. die Empfehlung des Deutschen Ethikrats, DER 2011, S. 83, 97), hat sich mit der Zeit zumindest mehrheitlich in der Kommission die Auffassung durchgesetzt, dass es ethisch schwer vermittelbar sei, warum man Paaren in diesem Fall eine PID verwehren sollte – nicht zuletzt, weil es hier zum Teil auch frühmanifestierende Varianten gibt und in den familiären Systemen die Folgeerscheinungen der Krankheit durch betroffene Personen oft bereits ständig präsent und mit großem Leid verbunden sind. Bei ihrer Beurteilung differenziert die Kommission die Fälle jedoch weiter. Während Chorea Huntington nicht therapierbar ist und bei betroffenen Personen mit Sicherheit eintreten wird, ist das im Fall von Brustkrebs (BRCA1, BRCA2) nicht notwendig der Fall: Eine genetische Disposition führt hier nicht in jedem Fall zur Tumorbildung und diese ist zudem in vielen Fällen und bei rechtzeitiger Diagnose behandelbar. Daher gibt es in der Kommission eine sehr kontroverse Debatte dazu, wie mit Fällen spätmanifestierender Krankheiten insgesamt und insbesondere mit einer später im Lebensverlauf zu erwartenden Krebserkrankung umzugehen sei.

Eine zweite Klasse, bei der eine entsprechende Verschiebung von Anträgen und Kriterien für deren Beurteilung zu beobachten ist, sind Krankheiten, die eine hohe sowie schwer zu beurteilende Varianz aufweisen (von sehr mild bis sehr schwer). Die dritte Klasse umfasst monogene Erkrankungen, die sehr selten oder erst kürzlich in der Fachliteratur beschrieben worden sind und für die es kaum eine klinische Datenlage als Beurteilungsgrundlage gibt. Als eine vierte Klasse lassen sich jene Erkrankungen fassen, für die bereits gute Therapiemöglichkeiten gegeben sind.

Auch mit diesen Entwicklungen lässt sich das Argument einer „schiefen Bahn“ für den Einsatz der PID nicht im Vollsinn stützen, wie es zum Teil im status quo ante skizziert wurde. Nach wie vor wird eine PID nicht mit Gründen zugelassen, die zuvor in den Debatten als unmoralisch und inakzeptabel gekennzeichnet wurden (etwa Auswahl des Geschlechts, kosmetische Gründe). Allerdings lässt sich eine Extension des Begriffs „schwerwiegende Erbkrankheit“ über den hier behandelten Zeitraum feststellen. Ad malam partem ließe sich das als leichtes Abgleiten auf einer schiefen Ebene beurteilen; ad bonam partem aber auch als eine steigende Sensibilität Einzelner bzw. der Gesellschaft insgesamt, was man als „schwerwiegend“ hinzunehmen bereit ist. Nachdem die Judikative zum Teil auch für eine weitere Interpretation des Begriffs „schwerwiegend“ plädiert hat, und von der Legislative keine gegenläufigen Signale kommen, lässt sich hier ein „gleitender Konsens“ feststellen, den die Ethikkommission in ihrer Beratung zu berücksichtigen hat. Im Weiteren aber – und das ist ein Motiv für diesen Artikel – geht es darum, die Beobachtungen an Gesetzgeber und Gesellschaft zur weiteren Beratung zurückzuspielen.

3) Habituelle Aborte (§ 3a Abs. 2 Satz 2 ESchG)

Verändert haben sich in den Jahren zudem die Kriterien, die für § 3a Abs. 2 Satz 2 ESchG in der Kommission der Entscheidung zugrunde gelegt werden. Hierbei geht es um das erhöhte Risiko einer Tot- oder Fehlgeburt. Über die Jahre hinweg macht diese Fallklasse etwa rund ein Fünftel aller beantragten Fälle aus.

Ein Problem, das die Kommission in den vergangenen Jahren verstärkt beschäftigt, sind viele Fälle, bei denen ein hohes Alter der Frau vorliegt und die damit verbundene hohe Aneuploidierate der Eizellen möglicherweise einen wesentlichen Faktor für eine Fehlgeburt bildet.Footnote 4 Würde man allen Frauen ab einem gewissen Alter (35 Jahre gilt als Untergrenze einer Risikoschwangerschaft) und auch allen Frauen mit mehrfachen Fehlgeburten die PID nahelegen (und ggf. auch finanzieren), könnte die PID zu einem Qualitätssicherungsinstrument der Reproduktionsmedizin werden – was nicht gleichbedeutend ist mit einer Qualitätsüberprüfung menschlichen Lebens, wie von Thierse befürchtet. Das lässt sich ggf. begründen, dürfte aber kaum in der Intention des Gesetzgebers gelegen habenFootnote 5 – so die mehrheitliche Auffassung in der Kommission. Entsprechend muss man also, um Frauen mit einem erhöhten Risiko für eine Fehl- oder Totgeburt eine PID nicht zu verwehren, zusätzliche Kriterien anführen, die diese Gefahr in ihrem spezifischen Fall als höher quantifizieren kann, als es anderen Frauen in ihrem Alter, oder bei gehäuften Fehlgeburten nicht genetischer Ursache, entspricht. Ein (nicht das einzige) Kriterium, das die Kommission hierbei heranzieht, ist die Anzahl der Fehlgeburten (mindestens zwei), die diese Frau schon erleben musste, weil eine deutliche Häufung von Fehlgeburten auf eine genetische und somit durch PID feststellbare Ursache hindeuten kann. Es handelt sich hierbei um eine „Hilfskonstruktion“ mit einem vergleichbaren Faktor, um hier (auch im Sinne des Gesetzgebers) zu einer nachvollziehbaren Entscheidung zu kommen.

Aus medizinischer Sicht ist für diese Klasse von Anträgen weiter zu klären, ob und inwieweit eine PID dazu beitragen kann, dass es nach habituellen Aborten zu einer Steigerung der Lebendgeburtenrate kommt. Die bisherige Studienlage scheint nicht notwendig in diese Richtung zu weisen. Habituelle Aborte haben oft nicht-genetische Ursachen, und das embryonale Gewebe weist bei rezidivierenden Fehlgeburten häufig einen unauffälligen Karyotyp auf (Toth et al. 2018; Ogasawara et al. 2000; Stephenson et al. 2002; Christiansen 2006; van den Berg et al. 2012). Hinzu kommt, dass eine assistierte reproduktive Technik mit einer genetischen Analyse von embryonalen Zellen die Anzahl der zum Transfer verfügbaren Embryonen reduziert und die Lebendgeburtenrate pro Zyklus nach künstlicher Befruchtung mit PID deutlich niedriger liegt als die Wahrscheinlichkeit einer zeitnahen Spontanschwangerschaft mit Geburt nach wiederholten Aborten (Hirshfeld-Cytron et al. 2011). Beide Befunde sprechen dafür, dass eine PID bei rezidivierenden Aborten aus medizinischer Sicht nicht notwendig angeraten ist, wenn keine klare genetische Ursache festzustellen ist, um mithilfe einer PID die Wahrscheinlichkeit auf eine Lebendgeburt für die Frauen zu steigern. Zu bedenken ist auch, dass diese Patientinnen eigentlich spontan schwanger werden und eine reproduktive Therapie zum Zwecke der PID extra eingesetzt werden muss. Aus dem Gesagten ergibt sich folgerichtig auch die Empfehlung der aktuellen AWMF Leitlinie für Spontanaborte, dass Frauen mit nachgewiesener Chromosomenstörung eine PID angeboten werden kann, jedoch bisher keine Verbesserung der Lebendgeburtenrate gezeigt wurde.

Dies gilt es, den betroffenen Frauen bzw. Paaren zu kommunizieren, um nicht den falschen Eindruck zu erwecken, dass durch eine PID ihre Chancen auf ein Kind deutlich erhöht werden könnten. Angesichts der klinischen Datenlage verwundert die erhöhte Antragsrate für diese Klasse von Fällen in der PID Kommission.

Gesellschaftlich zu verhandeln wäre es – sollte PID bei habituellen Aborten doch medizinisch indiziert sein, um die Lebendgeburtrate zu steigern –, ob die PID das geeignete Qualitätssicherungsinstrument der Reproduktionsmedizin für die Ermöglichung später und damit ansonsten für genetische Abweichungen stärker gefährdete Schwangerschaften sein sollte. Wie bereits bei der Beurteilung von „schwerwiegender Erkrankung“ weiter oben thematisiert, differieren auch hier die Urteile der einzelnen Kommissionsmitglieder, je nach eigenem Weltbild und moralphilosophischen Annahmen. Die einen sehen die reproduktive Autonomie der Frau im Vordergrund, bei der PID immer eingesetzt werden sollte, sofern sie medizinisch zu dem Ergebnis führen könnte, das von der Frau gewünscht wird. Die anderen betonen die Gefahr einer gesellschaftlichen Entwicklung, die u. U. auch auf Kosten von Frauen ausgetragen wird, aber durch die medizinisch-technischen Möglichkeiten von PID weiter verstärkt wird. Es ist zu erwarten, dass die von der vorherigen Bundesregierung ventilierte Einführung einer Kassenleistung PID (Ärzteblatt 2019) den Trend noch verstärken könnte, die PID als eine Qualitätssicherungsmaßnahme zu verstehen und in Anspruch zu nehmen. Neben diesen beiden gibt es weitere Positionierungen zu der Frage nach PID bei habituellen Aborten bei Frauen im höheren Schwangerschaftsalter, es sollte jedoch nicht Aufgabe einer PID-Kommission sein, in dieser Frage alleine Stellung zu beziehen oder zu einem abschließenden Ergebnis zu kommen. Auch diese Frage muss in die Gesellschaft zurückgetragen und dort weiter diskutiert werden.

Technische Innovationen und ihre Bedeutung für die ethische Bewertung

Will man verstehen, warum sich über die Jahre die ethischen Urteile hinsichtlich einer Praxis wie der PID verändern, wird man technische Aspekte nicht übersehen dürfen. Der gesamte Vorgang der assistierten Reproduktionsmedizin ist hochtechnisiert. Diese Technik hat sich innerhalb weniger Jahre eminent verändert und damit auch neue Problemlagen evoziert, die in diesem Zusammenhang mit zu bedenken sind. War zum Zeitpunkt der Gesetzgebung für die PID vorwiegend die FISH-Technik (Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung) der state of the art für die Untersuchung struktureller Genomaberrationen, so ist mittlerweile das Next Generation Sequencing (NGS) technisch so ausgereift und von den Kosten so günstig geworden, dass diese Technik nun nicht mehr nur für das Aneuploidiescreening, sondern zunehmend auch für strukturelle und numerische Genomanalysen eingesetzt wird. Das erhöht nicht nur die Präzision der Analyse bei schnellerem Durchsatz und sinkenden Kosten, das wirft auch neue Fragen auf, wie nach der Interpretation der großen Informationsmenge oder dem Recht auf Nicht-Wissen (vgl. Montag et al. 2020, S. 28).

Seit der Einführung der PID stehen neue PND-Verfahren (NIPT: Nicht-invasive Pränatal-Test; vgl. Rubeis et al. 2020; Rehmann-Sutter und Schües 2020) zur Verfügung, die eine Untersuchung auf bestimmte genetische Erkrankungen des Kindes durch eine Blutentnahme der Schwangeren erlauben und die mittlerweile auch als Kassenleistung anerkannt sind. Damit können schwangere Frauen bzw. werdende Eltern zu einem früheren Zeitpunkt in der Schwangerschaft und mit einer wenig invasiven Methode sehr präzise Aussagen über die Genetik ihres Kindes bekommen und sich gegebenenfalls (und bei Erfüllung weiterer Bedingungen) gegen die Fortsetzung der Schwangerschaft entscheiden.

Damit könnte sich die Argumentation, die vor Einführung der PID diskutiert wurde und die auf einen Vergleich zwischen PID und PND beruhte, leicht verschieben. Es wurde damals sowohl pro als auch kontra PID damit argumentiert, dass es auch PND-Verfahren gäbe, die dann (beim Vorliegen entsprechender medizinischer bzw. juristischer Voraussetzungen) im Falle eines genetisch auffälligen Befundes zum Schwangerschaftsabbruch führten. Für die PID sprach in dieser vergleichenden Argumentation, dass sie zu einem früheren Zeitpunkt durchgeführt werden kann, und die Eltern nicht eine Schwangerschaft auf sich nehmen müssten, die beim Vorliegen von genetischen Erkrankungen zum Abbruch führe. Hinzu kam für jene, die ein nach Entwicklungsstufen abgestuftes Konzept von Schutzansprüchen für Embryonen vertreten, dass die PID zu einem weniger entwickelten Embryonalzustand durchgeführt wird. Zusätzlich waren PND-Verfahren mit höherer prognostischer Sicherheit invasiv und belastend für die Mutter sowie ein Risiko für die Schwangerschaft. Andere haben hingegen ausgeführt, dass es bei einer PND bereits zu einer Beziehung zwischen Mutter und Embryo gekommen sei, was einen vorschnellen Schwangerschaftsabbruch verhindere und dadurch weniger die Gefahr einer Schwangerschaft auf Probe bzw. reinen Selektion zu befürchten sei als bei einer PID.Footnote 6

Durch die neueren nicht-invasiven Pränatal-Tests haben sich die früheren Abwägungen hinsichtlich Invasivität, Risiko und Aussagekraft zwischen PID und PND verschoben. Was aber nicht notwendig zu einer grundsätzlichen Veränderung bei der Beurteilung von PID und PND im Vergleich führen muss, je nachdem welche zusätzlichen Argumente ins Feld geführt werden. Gerade hier, wo der Vergleich verschiedener Techniken den Rahmen der PID-Ethikkommissionen sprengt, erscheinen uns eine breite gesellschaftliche Debatte sowie ggf. gesetzliche Adjustierungen erforderlich.

Ausblick

Der Gesetzgeber hat durch die Regelungen zur PID den Ethik-Kommissionen eine schwierige Aufgabe übertragen. Sie sollen die Frage klären, für welche Einzelfälle eine PID ausnahmsweise erlaubt soll. Der hohe Stellenwert der Schutzwürdigkeit des Embryos und damit verbunden die gesellschaftliche Verantwortung gegenüber dem ungeborenen Leben sowie die Nicht-Diskriminierung von einzelnen Personen oder Gruppen aufgrund von Krankheit oder Behinderung, spielen für die Kommissionsarbeit kriterial ebenso eine große Rolle wie Fragen der Selbstbestimmung einer Frau bzw. eines Paares im Sinne ihrer reproduktiven Autonomie. Bei der Beurteilung der Einzelanträge, und damit in der konkreten Arbeit der Kommission, steht jedoch die Frage im Vordergrund, wann man von einer schwerwiegenden Erbkrankheit oder von einer hohen Wahrscheinlichkeit einer Tot- oder Fehlgeburt aufgrund einer schwerwiegenden Schädigung des Embryos ausgehen kann, die eine PID rechtfertigen.

Sieht man sich die Argumentation pro und kontra PID vor der Regelungen zur PID genauer an, dann fällt auf, dass die genannten Verschiebungen weitere Abwägungen nötig machen könnten. Etwa die einer illegitimen Selektion von Embryonen versus die Behebung einer unzumutbaren physischen wie psychischen Belastung sowie damit verbundenen erheblichen Leides. Sind die Belastungen unzumutbar bzw. liegt bereits eine schwere Erbkrankheit vor, wenn die Eltern deshalb einen Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen? Oder besteht hier die Gefahr einer illegitimen Selektion von Embryonen? So divers die Kommission besetzt ist (disziplinär wie von den vertretenen ethischen Standpunkten), so unterschiedlich würden die einzelnen Mitglieder ihre Antworten auf diese Fragen vermutlich formulieren. Eine abschließende Antwort auf diese fundamentalen Fragen zu finden, sollte unserer Ansicht nach nicht an einzelne Mitglieder oder auch ganze Ethikkommissionen delegiert werden, es sollte die Aufgabe eines gesellschaftlichen Diskurses sein.

„Schwerwiegend“ ist rein medizinisch nicht definierbar, es ist vielmehr ein normativer Begriff. Es ist ein „unbestimmter Rechtsbegriff“, definitorisch nicht scharf umrissen, deshalb muss er stets interpretiert werden. Der Gesetzgeber hat es bisher bewusst vermieden, eine Indikationenliste einzuführen, sodass es eines fortwährenden Abwägungsprozesses für Einzelfälle bedarf. Die Mitglieder der Kommission bemühen sich im Zusammenlegen ihrer disziplinären Perspektiven, eine möglichst umfassende und sachliche Einschätzung abzugeben, wann sie die Bedingungen aus den Rechtsnormen zur PID erfüllt sehen. So wird das klinische Wissen in Beziehung gesetzt zur individuellen und psychosozialen Situation des antragstellenden Paares; etwa Vorkommen der Erbkrankheit im familiären Umfeld, Schweregrad der manifesten Krankheitsbilder. Darüber hinaus werden weitere, normativ relevante Aspekte (Gleichheitsgrundsatz im Vergleich mit anderen Fällen, Wahrung der reproduktiven Autonomie der Antrag stellenden Partei im Verhältnis zur Signalwirkung von positiven Bescheiden in der Gesellschaft, Folgen für behinderte Menschen, oder für das Zusammenleben der Menschen und für die ganze Gesellschaft) beleuchtet. Die Grundschwierigkeit einer kriterialen Unterbestimmtheit lässt sich jedoch auch so nicht auflösen, sondern verlangt von der Kommission, jeden einzelnen Antrag in seiner eigentlich unvergleichbaren Individualität anhand möglichst vielschichtiger Informationen zu konturieren und ins Verhältnis zu setzen zu a) den abstrakten Kriterien des Gesetzes und zu b) einer Klasse von ähnlichen gelagerten Fällen, die einen Vergleich erlauben und notwendig machen. In das Urteil fließen also in vielen Fällen nicht nur die Ergebnisse der genetischen Diagnostik und ihre Interpretation hinsichtlich der juristisch definierten Kategorien ein. Vielmehr ist für ein Urteil gerade das interdisziplinäre Gespräch in der Kommission relevant, bei dem die genetischen, klinischen, psychologischen, rechtlichen, sozialen und ethischen Aspekte möglichst konsistent zusammengeführt werden. Nach mittlerweile über 1800 Anträgen besteht in der Kommission eine gewisse Erfahrung. Zu Beginn verfügte die Kommission über keinerlei Maßstäbe außer dem Gesetzestext, der Ausführungsverordnung und den Kommentaren zum Gesetz sowie die rezente Fachliteratur, wie die Einzelfälle interpretiert werden sollten. Die Diskussionen im Verlauf der Jahre führten dazu, dass sich die Einschätzungen in der Kommission veränderten, was auch als „Erfahrungskurve“ verstanden werden kann.

Die individuelle Beurteilung von Fällen und die Veränderungen von Zustimmungen sowie Ablehnungen für bestimmte Fälle über die Zeit hinweg, sind bereits dahingehend ethisch relevant, dass es dadurch schwieriger scheint, für eine vergleichbare Klasse von Fällen Gleichheit herzustellen. Die Kommission hat durch ihre langjährige gemeinsame Arbeit zwar eine gewisse Erfahrung, um einen interindividuell nachvollziehbaren Beurteilungsmaßstab bereitzustellen und gleichzeitig individuelle Fälle zu berücksichtigen. Es bleibt eine der genuinen Aufgaben der Ethikkommission, auf der Grundlage interdisziplinärer Beratung und Gewichtung des Einzelfalls eine Entscheidung zu treffen. Damit leistet die Ethikkommission einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag, da sie sicherstellt, dass die medizinischen Möglichkeiten in Deutschland verantwortungsbewusst eingesetzt werden. Die Arbeit der Kommission spiegelt auch die Tatsache wider, dass Entscheidungen der Individuen eben nicht nur mit Folgen für sie selbst verbunden sind, sondern Auswirkungen auf die Gesellschaft insgesamt haben können. Das gilt in ökonomischer, sozialer, aber auch moralischer Hinsicht. Hier nimmt die Ethikkommission den gesellschaftlichen Diskurs auf und führt ihn weiter. Die dargestellten Entwicklungen zeigen z. T. eine deutliche Verschiebung in der Beurteilung der Fälle über die Zeit hinweg und damit eine neue Herausforderung, die in der Gesellschaft reflektiert werden muss. Dieser Artikel soll dazu beitragen, diese Entwicklungen für die Gesellschaft insgesamt transparenter zu machen und in die gesellschaftliche Diskussion zurückzutragen. Hierzu erscheinen uns außerdem weitere empirische Untersuchungen zu den sozialen Implikationen der PID-Praxis erforderlich.