Thema

Die moderne Medizin – so die Hoffnung – kann uns zu einem guten Leben in der Zeit befähigen. Sie soll uns gesund erhalten und ein langes Leben ermöglichen. Doch dabei stellt sie unvermeidlich zugleich hergebrachte Zeitstrukturen menschlichen Lebens in Frage. Einst als unverrückbar oder naturgegeben geltende zeitliche Ordnungs- und Orientierungsmuster, also Phasen, Zäsuren oder Zyklen, erscheinen im Licht neuer medizinischer Möglichkeiten zunehmend veränderlich und veränderbar. So erlauben es reproduktionsmedizinische Techniken wie das „Social Freezing“, die vormals als starr verstandenen Grenzen des fortpflanzungsfähigen Alters von Frauen zu überwinden. Fortschritte in der Behandlung chronischer Krankheiten verbessern die (Über‑)Lebenschancen und erweitern den Zeithorizont der Erkrankten, was die Neujustierung bisheriger Lebenspläne und Versorgungsformen notwendig macht. Medizinische Interventionen in den Alterungsprozess stellen die vertraute Zeitgestalt des individuellen Lebens in Frage und verändern auch intergenerationelle Beziehungen in Familie und Gesellschaft (Rimon-Zarfaty und Schweda 2023).

Alle diese medizinischen Entwicklungen berühren grundlegende ethische Fragen eines guten, gelingenden Lebens in der Zeit (Steinfath 2020). Sie veranlassen Individuen dazu, sich mit Blick auf die zeitlichen Strukturen des eigenen Lebens neu zu orientieren, und provozieren zugleich Kontroversen über altersangemessene Verhaltensnormen und Lebensperspektiven. Überhaupt scheint die ethische Bedeutung der zeitlichen Verfasstheit der menschlichen Existenz gerade im Kontext von Medizin und Gesundheitsversorgung besonders deutlich zu Tage zu treten. Die heute vielfach medikalisierten Umgangsweisen mit Fortpflanzung und Schwangerschaft, Krankheit, Alter(n), Sterben und Tod konfrontieren Individuen mit den Bedingungen und Grenzen ihres Lebens in der Zeit und werfen Fragen nach dem sinnvollen Umgang mit der begrenzten Lebenszeit auf (Schweda 2021). Mitunter wecken sie einen Sinn für den „Ernstfallcharakter“ des menschlichen Lebens und damit die existenzielle Dringlichkeit und Dramatik moralischer Probleme und Konflikte, die stets im Horizont einer einmaligen, befristeten und unaufhaltsam ablaufenden individuellen Lebenszeit auftreten und zu bewältigen sind. Schließlich können sie auch für die konkrete lebensgeschichtliche Situiertheit und Perspektivierung ethischer Fragen und Konflikte sensibilisieren, die sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Lebensverlauf auch in unterschiedlicher Weise darstellen (Schweda und Wiesemann 2016).

Zielsetzung und Konzeption

Das Themenheft widmet sich den Zeitstrukturen guten Lebens im Horizont der modernen Medizin. Ziel ist eine empirisch-hermeneutisch informierte ethische Analyse und Reflexion des Zusammenhangs zwischen medizinischen Möglichkeiten auf der einen und Perspektiven guten Lebens in der Zeit auf der anderen Seite. Die leitenden Fragestellungen sind: Welche Vorstellungen von Zeitlichkeit und gutem Leben in der Zeit sind in der Medizinethik zu identifizieren und wie lassen sie sich ggf. begründen oder kritisieren? Welche Rolle spielen Gesichtspunkte guten Lebens in der Zeit für die normative Bewertung medizinischer Maßnahmen, Versorgungsformen und Technologien? Wie sind Aspekte guten Lebens in der Zeit ethisch zu verstehen, zu bewerten und für die medizinethische Diskussion sowie die medizinische Praxis fruchtbar zu machen?

Die Erörterung dieser Leitfragen erfordert eine interdisziplinäre Herangehensweise. Untersucht werden soll, wie die angesprochenen Aspekte aus Sicht von (Medizin‑)Ethik, Soziologie, Psychosomatik und Allgemeinmedizin Bedeutung erlangen und wie die Auseinandersetzung mit ihnen in den Medien bzw. der Populärkultur gespiegelt und vorangetrieben wird. Dabei orientiert sich der Aufbau des Themenheftes an exemplarischen medizinischen Anwendungsfeldern, die verschiedene lebenszeitliche Kontexte betreffen und jeweils unterschiedlich gelagerte ethische Fragen nach dem Zusammenhang zwischen Medizin und der zeitlichen Struktur des guten Lebens aufwerfen. So werden neben grundlegenden Fragen zur Bedeutung von Zeit und Zeitlichkeit sowie dem guten Leben in Medizin und Gesundheitsversorgung insbesondere ethische Aspekte der zeitlichen Planung und Optimierung von Elternschaft in der Reproduktionsmedizin, der Berücksichtigung biographischer Perspektiven chronisch herzkranker Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen, der Maßstäbe und Grenzen der medizinischen Versorgung im höheren Lebensalter sowie der langfristigen Folgen des unangemessenen Einsatzes von Antibiotika eingehender betrachtet.

Beiträge

Der Beitrag von Holmer Steinfath und Anne Clausen über Zeitdimensionen des menschlichen Lebens bietet zunächst eine grundlegende Übersicht zur ethischen Relevanz von Zeit und Zeitlichkeit im Kontext von Medizin und Gesundheitsversorgung. Ziel ist eine philosophische Vorklärung relevanter Zeitunterscheidungen, die zur ethischen Erörterung medizinischer Praktiken herangezogen werden können. Dabei werden ausgehend von verschiedenen Zeitphilosophien, etwa aus der phänomenologischen Tradition oder der neueren analytischen Diskussion, vier Zeitfelder herausgearbeitet: die lineare Zeit der chronologischen Ordnung von Ereignissen, die intersubjektive Zeit sozialer Interaktionen, die zyklische Zeit biologischer und sozialer Rhythmen und die biographische Zeit, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft existenzielle Bedeutungen annehmen und Endlichkeit und Irreversibilität von Lebensprozessen verhandelt werden.

Roland Kipkes Beitrag Erfüllte Gegenwart und Rhythmus des Lebens wendet sich sodann dem Ziel und den Mitteln der Medizin im Hinblick auf die Zeitlichkeit des guten Lebens zu. Diesseits konkreter medizinischer Praktiken und biographischer Phasen geht er der grundsätzlichen ethischen Frage nach, welche Rolle die Zeitlichkeit des guten Lebens für die Medizin als solche und im Allgemeinen spielt. Dabei wird das gute Leben als ein sinnvolles Leben aufgefasst, das eine positive Verbindung mit intrinsisch Wertvollem einschließt und zugleich auch subjektiv als sinnvoll erlebt wird. Vor diesem Hintergrund führt der Beitrag aus, dass die Bedeutung medizinischer Behandlungen in der Ermöglichung erfüllter Gegenwart besteht, und argumentiert im Anschluss daran, dass diese nicht zuletzt durch die Wahrung und Wiederherstellung der chronobiologischen Rhythmen des Lebens geschehen kann und sollte.

Unter dem Titel Reproduktives Timing beschäftigen sich Vera King, Pia Lodtka, Isabella Marcinski-Michel, Julia Schreiber und Claudia Wiesemann mit neuen Formen und Ambivalenzen zeitlicher Optimierung von Fortpflanzung und ihren ethischen Herausforderungen. Der Beitrag nimmt zunächst die Bedeutung von Zeit für Lebenslauf und Elternschaft aus einer soziologisch-sozialpsychologischen Perspektive in den Blick. Dabei wird deutlich, dass Fortpflanzungsmedizin die Spielräume für Elternwerden und für lebenszeitliche Autonomie vergrößern, aber im Kontext gesellschaftlicher Optimierungs- und Effizienzimperative auch Heteronomie verstärken kann. Es ergeben sich veränderte Formen von Anpassung und Selbstbestimmung, neue Dilemmata und Ambivalenzen der zeitlichen Optimierung von Elternschaft. Vor diesem Hintergrund erläutern die Autorinnen, wie die Ethik der Fortpflanzungsmedizin von einer interdisziplinären, das Leben in seinem zeitlichen Verlauf in den Blick nehmenden Forschung profitieren könnte.

Der Beitrag von Daniel Broschmann und Christoph Hermann-Lingen mit dem paradox klingenden Titel Myokardinfarkt als Lebenschance entfaltet psychokardiologische Implikationen ethischer Reflexionen zu Vorstellungen guten Lebens in einer zeitlich begrenzten Situation. Dabei gehen die Autoren der Frage nach, inwiefern zeitsensible philosophische und ethische Konzepte sowie ein entsprechendes deliberatives Gesprächsmodell zur ärztlichen Begleitung in der vulnerablen Zeit nach der akuten Bewältigung eines Myokardinfarkts beitragen können. Sie argumentieren, dass ein Verständnis des Myokardinfarktes als Grenz- oder Kairós-Situation es ermöglicht, die betroffenen Patientinnen und Patienten nach der Bewältigung des akuten und lebensbedrohlichen Herzereignisses im Sinne eines posttraumatischen Wachstums zu neuen Sichtweisen auf ein für sie gutes Leben zu befähigen.

Unter dem Titel Zwischen Bagatellisierung und Pathologisierung beleuchtet der Beitrag von Mark Schweda, Eva Hummers und Evelyn Kleinert die Bedeutung der Zeitstruktur guten Lebens für die Gesundheitsversorgung im Alter. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie individuelle und gesellschaftliche Vorstellungen des Alter(n)s im Kontext von Medizin und Pflege ethisch zu verstehen sind. Der Beitrag bietet zunächst einen Überblick zur Rolle von Altersbildern in der medizinischen und pflegerischen Versorgung älterer Menschen. Anschließend werden begrifflich-theoretische Perspektiven umrissen, die solche Bilder des Alter(n)s einer strebensethischen Analyse auf unterschiedlichen Ebenen menschlicher Zeitlichkeit zugänglich machen. Welche Formen der medizinischen Behandlung und pflegerischen Versorgung im höheren Alter als sinnvoll und angemessen zu gelten haben, ist demnach nicht zuletzt im Licht der Frage nach der Zeitstruktur eines guten Lebens zu diskutieren.

Aus medienwissenschaftlicher Perspektive untersuchen Christian Hißnauer und Claudia Stockinger in ihrem Beitrag Die Medizin und die Zeitlichkeit guten Lebens in populären Fernsehnarrativen medizinethische Aspekte deutscher Arzt- und Krankenhausserien. Der Aufsatz geht davon aus, dass solche Serien das Wechselverhältnis von Medizin und den Vorstellungen eines guten Lebens in der Zeit verhandeln. Sie popularisieren nicht nur medizinisches Wissen, sondern ebenso Haltungen zu medizinethischen Fragen. Dabei folgen sie medienspezifischen Gestaltungskonventionen. Daher hat ihre Analyse neben visuellen Aspekten auch das Genre, die Dramaturgie und die Figurenkonstellation zu berücksichtigen. Am Beispiel einer Folge der ARD-Serie In aller Freundschaft wird veranschaulicht, wie die verschiedenen Elemente ineinandergreifen, um innerhalb der Erzählung einen bestimmten Wertehorizont zu etablieren.

Abschließend beschäftigen sich Claudia Bozzaro, Jan Rupp, Michael Stolpe und Hinrich Schulenburg unter dem Titel Das gute Leben heute und morgen mit dem Nachhaltigkeitsproblem in der Medizin als einem Problem des guten Lebens in der Zeit. Zunächst wird am Beispiel der Antibiotikaresistenzen gezeigt, dass es in der Medizin spezifische Nachhaltigkeitsprobleme gibt, die zu einer Beeinträchtigung der Fähigkeit zukünftiger Patientinnen und Patienten führen können, ihre Gesundheitsbedürfnisse zu befriedigen und ein gutes Leben zu leben. Dies steht im Konflikt mit der Forderung des Konzeptes der Nachhaltigkeit der Vereinten Nationen, Ansprüche auf ein gutes Leben zukünftiger Patientinnen und Patienten angemessen zu berücksichtigen. Abschließend wird dargestellt, wie Nachhaltigkeitsforderungen im klinischen Kontext zu einem Nachhaltigkeits-Dilemma führen können, und geklärt, auf welche Weise mit diesem Dilemma umgegangen werden kann.

Anhand eines konkreten Falles, in dem ein an einer Koronaren Herzerkrankung leidender 58-jähriger Mann die Implantation eines Herzunterstützungssystems ablehnt, diskutieren Lisa Nebel und Lena Stange sowie Alfred Simon in ihren Kommentaren beispielhaft die verschiedenen ethischen Implikationen der Zeitstruktur guten Lebens im Kontext von Medizin und Gesundheitsversorgung. Berührt werden dabei unter anderem Fragen der souveränen Zeitgestaltung, des richtigen Zeitpunktes für medizinische Interventionen sowie der ethischen Bedeutung der Begrenztheit der individuellen Lebenszeit für medizinische Behandlungsentscheidungen.