„Fernsehen steht nicht im Dienste der medizinischen Institutionen, sondern ist eigenständig, es läßt sich nicht funktionalisieren und auch nicht kontrollieren.“ (Wulff 2001, S. 259)

Der Beitrag geht der Frage nach, wie sich deutsche Arzt- und Krankenhausserien zu medizinischen Entwicklungen und den damit zusammenhängenden veränderten Vorstellungen eines guten Lebens in der Zeit verhalten. Wie also, allgemein formuliert, denkt die Gesellschaft außerhalb spezifischer Fachdiskurse über medizinische Innovationen nach und über deren ethische Implikationen für die Zeitstruktur guten Lebens?Footnote 1 Fernsehserien bieten sich dafür als Beobachtungsobjekt aus verschiedenen Gründen an: Sie sind populärkulturell relevant; ihre erzählende Form ist der sinnhaft-narrativen Gestaltung von Verlaufsmustern des Lebens als Lebensgeschichte äquivalent; und im Umgang mit Zeitlichkeit sind sie souverän.Footnote 2 Zum einen ist die Frage nach den Bedingungen und ethischen Begründungszusammenhängen eines gelingenden Lebens für solche Erzählungen konstitutiv (vgl. Lüdeker 2010); zum anderen archivieren sie den veränderten Umgang mit der eigenen Lebenszeit, die durch Krankheiten, Altern oder/und medizinische Entwicklungen neu befragt wird. Darüber hinaus tragen sie durch die Konstruktion einer ethisch-moralisch aufgeladenen „Medienmedizin“ (Wulff 2001, S. 247; vgl. auch Jahraus 2012) zur Popularisierung von Wissen und zur Normalisierung von Lebensentwürfen bei (Buhl 2013, S. 304 f.; Parr 2019). Die fallbeispielhaften Erzählungen der Medienmedizin – so unsere leitende Ausgangsthese – handeln ein Verständnis der Wechselbeziehung von medizinischer und gesellschaftlicher Veränderung aus, indem sie auf hegemoniale ethische Positionen dazu hinweisen und diese vermitteln. Dadurch tragen sie entscheidend dazu bei, dass sich das Wissen über medizinische Fragen und deren ethische Implikationen populärkulturell verbreitet und durchsetzt.Footnote 3

Daraus ergeben sich verschiedene Fragen: Welche Deutungsangebote werden gemacht (sei es affirmativ, sei es kritisch-subversiv), welche Erzählmuster genutzt, welche Entwicklungen vorweggenommen? Welches Wissen wird verbreitet und ist der Umgang damit dann auch auf der Basis anzunehmender Normalisierungsprozesse selbstverständlich?Footnote 4 Welche darstellerischen Mittel sind dafür maßgeblich? Zur Beantwortung dieser Fragen benötigen wir zunächst ein angemessenes medientheoretisches Fundament, das die gesellschaftliche Funktion des Fernsehens als eines integrierenden Interdiskurses (vgl. Link 1988) und einer „moralischen Diskursform“ (Wulff 2001, S. 253) beschreibbar macht (Abschnitt Fernsehen als Form der „Medienmedizin“). Als analytische Basis orientieren wir uns an Überlegungen von Kottlorz (1993, S. 174) zur „Vorbild-Ethik“ des Fernsehens und an Lüdekers (2010, S. 55) methodischem Ansatz einer „deskriptive[n] Ethik“ (Abschnitt Fernseh-Ethik analysieren). Um die Deutungsangebote von Fernsehnarrativen zu verstehen, genügt es nicht, lediglich die Figurenrede zu betrachten. Als relevante Analysekategorien erweisen sich neben allgemeinen film- und fernsehästhetischen Aspekten u. E. vor allem auch das Genre, die Dramaturgie und die Figurenkonstellation. Im Anschluss daran erproben wir die Tragfähigkeit unseres Ansatzes an einem Beispiel (Abschnitt „Das ist doch kein Wunschkonzert hier“: In aller Freundschaft: Auf Gedeih und Verderb). Insgesamt geht es uns darum, exemplarisch (einige) Mechanismen und Verfahren aufzuzeigen und zu diskutieren, die in Arzt- und Krankenhausserien verwendet werden, um medizinethische Problemstellungen zu zeigen und medizinisches Wissen zu vermitteln.

Fernsehen als interdiskursive Form der „Medienmedizin“

Arzt- und Krankenhausserien (sog. medicals) sind wesentlich durch ihr Setting (Praxis bzw. Klinik) und das entsprechende Figurenarsenal (medizinisches Fachpersonal, Pflegepersonal etc.) geprägt (vgl. Parr 2019). Handlungsauslösend ist in der Regel ein medizinisches Problem (Krankheit, Verletzung), auch wenn dieses für den Verlauf der einzelnen Folgen nicht immer zentral sein muss. Bereits die erste (west‑)deutsche Arztserie Landarzt Dr. Bock (BRD, 1967) lässt sich als Hybrid aus Arzt- und Familienserie beschreiben, was sie wesentlich von US-amerikanischen Vorbildern unterscheidet (vgl. Rosenstein 1998; Witzel 2015); zugleich gilt sie deshalb als bis heute typisch für das deutsche Fernsehen (vgl. Parr 2019). Medicals sind dabei mehr als „bloße“ oder gar „triviale“ Unterhaltung. Vielmehr kann man das Genre Arzt- und Krankenhausserie in Anlehnung an Link (1988) als „institutionalisierten Interdiskurs“ begreifen, durch den medizinisches Wissen in genre- und formattypischer Weise popularisiert wird (vgl. Parr 2001).

Die Funktion von Interdiskursen beschreibt Link (2018, S. 87) als Form der „Wissensproduktion“, die sich insofern von der „Wissensspezialisierung“ unterscheidet, als sie zum einen „entdifferenzierende“, zum anderen „partiell reintegrierende“ Tendenzen aufweist. Zu ihrer eigentlichen „Spezialität“ wird so die „Nicht-Spezialität“. Interdiskurse antworten damit auf die Herausforderungen (funktional) ausdifferenzierter, arbeitsteiliger Gesellschaften (vgl. Link 1988), deren Wissensbereiche sie allgemein verständlich abbilden und aufeinander beziehen.

Ein wesentlicher Aspekt der bisherigen wissenschaftlichen Beschäftigung mit der medialen Repräsentation von Krankheit ist aus medizinischer Sicht und der Perspektive der Gesundheitskommunikation die Frage nach der „sozial-medizinische[n] Korrektheit“ der Darstellung (Heiner 2003, S. 65). Ein solcher Fokus geht aber wesentlich an der medialen Verfasstheit und den (Grund‑)Bedingungen medienmedizinischer Narrationen vorbei (vgl. auch Gottgetreu 2022, S. 93; sowie aus der Perspektive eines medizinischen Fachberaters Hagemeyer 2022). Aus Sicht einer kulturwissenschaftlich orientierten Medien- und Literaturwissenschaft stellt sich die Frage danach, ob das Dargestellte z. B. die Abläufe einer medizinischen Behandlung realitätsgetreu wiedergibt, nur in zweiter Linie.Footnote 5 Vorrangig von Interesse sind vielmehr Fragen wie: Warum wird eine Krankheit in der dargebotenen Art und Weise repräsentiert? Welche Funktion erfüllt diese Repräsentation (dramaturgisch, narrativ, gesellschaftlich)? Welches medizinische bzw. medizinethische Wissen wird mit welchen Mitteln popularisiert? Wie wird dieses Wissen inhaltlich und formal reflektiert? Welche normative Haltung bzw. ethische Position nimmt der TextFootnote 6 dazu ein?

Den state of the art der Medienmedizin markieren Wulffs Überlegungen zum „Fernsehen als Agentur einer naiven Medizin“ (2001). Unter „naiver Medizin“ versteht Wulff (2001, S. 247) „eine zusammenfassende Bezeichnung für alle allein aus der Alltagserfahrung gewonnenen, nicht gemäß den wissenschaftlichen Anforderungen überprüften medizinischen Anschauungen und Systeme“, mithin eine Populärmedizin, bei der „Massenmedien […] eine permanente Agentur [bilden], in der Themen der Medizin vorgestellt, exemplifiziert, übersetzt werden in die Sprache und die Vorstellungssysteme eines nicht wissenschaftlich gebildeten Publikums“ (Wulff 2001, S. 247). In diesem Sinne fungieren Massenmedien als Vermittlungsinstanzen einer interdiskursiven Popularisierung von Wissen (s. oben; vgl. dazu auch Buhl 2013; Parr 2019), in der populäres (also ein Massenpublikum erreichendes) Wissen und wissenschaftliche Medizin interagieren.

Charakteristisch für das Fernsehen „als moralischer Diskursform“ ist Wulff (2001, S. 253) zufolge ein spezifischer Umgang mit Fragen der Ethik und Moral, die er als „Hollywoodisierung“ bezeichnet. Diese Bezeichnung geht auf die Beobachtung zurück, dass Fernsehtexte oftmals mythische Erzählstrukturen wie das David-gegen-Goliath-Narrativ oder „die Heldenreise“ verwenden, die zugleich auf moralischen Entscheidungen beruhen. Dabei wird Moral meist kontrastierend charakterisiert und damit verengt („Schwarz-Weiß-Malerei“), Werte werden durch die Bindung an Figuren transportiert, und die Darstellungen neigen dazu, privates Glück zugleich als allgemein gültigen Wertehorizont zu skizzieren. Allerdings könne, so Maio (2008, S. 315) „[d]as Fernsehen […] helfen, die unartikulierten Annahmen und Grundverständnisse einer Gesellschaft [im Sinne unhinterfragter Deutungsmuster; CH/CS] zur Sprache zu bringen, und auf diese Weise erfüllt es einen nicht zu unterschätzenden Aufklärungsauftrag, gerade im Umgang mit ethischen Fragen“.

In den deutschen Arzt‑/Krankenhaus-Familienserien-Hybriden werden bevorzugt ethische Fragen sowie Vorstellungen eines guten Lebens in der Zeit verhandelt. Zum einen dient das medizinische Problem dabei nicht selten als dramaturgisches Mittel, um z. B. familiäre Leitbilder zu thematisieren. Zum anderen werden Fragen nach dem guten Leben in der Zeit in der Regel im familiären Erzählstrang gespiegelt und anders perspektiviert durchgespielt. In Anlehnung an Wulff (2012, S. 206) kann man hier von einer „Perspektivenvariation“ bzw. von einer „Kontextvariation“ sprechen, da der familiäre Erzählrahmen neben dem medizinischen einen zweiten Aushandlungs- und Bewertungskontext aufruft. In diesem Sinne „scheinen Arztserien“, so Parr (2019, S. 119), „etwas bieten zu können, was rein medizinische Fachdiskurse allein nicht zu leisten vermögen, nämlich, wenn auch nicht das ‚ganze‘ Leben, so doch zumindest einige Teilbereiche des Lebens bzw. der Gesellschaft integrierend aufeinander und zugleich den Alltag zu beziehen“. In der Hybridität der Arzt- und Krankenhausserie sieht Parr also nicht nur eine Erklärung für deren Popularität. Er leitet daraus auch die Funktion der medicals als interdiskursive Instanzen der Wissensvermittlung ab. Medicals fungieren nämlich auch als lebensweltlich orientierte Sozialserien (Familien- oder Workspace-Serien), die ihr Publikum, ausgehend von dessen je eigenen, alltäglichen Erfahrungen, mit Wertfragen konfrontieren, zumindest vermittelt über Problembewältigungsstrategien informieren oder gar dazu anleiten (vgl. Prugger 1994, S. 110).

Die Reduktion von Komplexität gehört zu den Kernfunktionen der Popularisierung medizinischen Wissens (Maio 2000, S. 137; vgl. auch Bendheim und Pavlik 2019, S. 16). Sie ist nicht als Manko der Medienmedizin zu verstehen – die Bezeichnung „populäre Medizin“ stellt keine Defizitdiagnose dar. Als „Agenturen des Lernens“ (Wulff 2012, S. 216) transportieren Fernsehtexte viel eher soziale Praktiken als „abfragbares Wissen“ (Wulff 2012, S. 217), da sie es den Rezipierenden ermöglichen, „in einer Art imaginäre[m] Rollenspiel[] die Innenperspektiven ganz unterschiedlicher Rollen zu simulieren“ (Wulff 2012, S. 217) und sich das filmisch Dargebotene kognitiv, emphatisch sowie emotional anzueignen. Dass bei dieser Aneignung das Publikum selbst nicht außen vorbleibt, sondern sich mit seiner je eigenen Aktualität „in die Wahrnehmung einbringt“, ist stets (kritisch) in die Analyse mit einzubeziehen. Zugleich ist der Rezeptionsprozess abhängig von der Disposition und dem Ablauf des dargebotenen Geschehens; auch die jeweiligen Genre- und Dramaturgie-Konventionen spielen hier mit hinein sowie, nicht selten in besonderem Maße, die Erzählperspektive.

Wenn wir sagen, Fernsehen popularisiere Wissen, gehen wir mit Parr von einer „zweifache[n] Form der Popularisierung“ aus. Medizinisches Wissen wird mithin sowohl vereinfacht als auch „als hochgradig spezialisiert“ dargestellt (Parr 2019, S. 112). Oft geschieht dies so, dass der medizinische Sachverhalt im Arzt/Ärztin-Patient*innengespräch einer Filmszene durchaus allgemeinverständlich erläutert wird, während im Szenenhintergrund der Expert*innendiskurs z. B. mittels kernspintomographischer Aufnahmen visualisiert wird, die zu deuten dem Laien‑/Laiinblick nicht möglich ist. Verbunden sind beide Diskurse über „diskursverbindende (interdiskursive) Elemente“ (Parr 2019, S. 117), die Übersetzungsleistungen übernehmen, indem etwa gängige Bilder zur Erläuterung von Verlaufsprotokollen („Kurve“) herangezogen oder zur Beschreibung von Krankheitssymptomen bemüht werden („wie Nadelstiche“).

Ein wesentlicher Bestandteil aller Film- und Fernseherzählungen ist die Frage nach den Bedingungen und ethisch-normativen Begründungszusammenhängen eines gelingenden Lebens (vgl. auch Lüdeker 2010, S. 42). Sie bieten Deutungs- und Antwortangebote auf das als „praktische Grundfrage“ (Tugendhat 1990, S. 118) der Philosophie eines guten Lebens geltende Problem, wie zu leben sei (vgl. Steinfath 2012, S. 14). Allerdings spielt dieser Aspekt in der (medien-)wissenschaftlichen Forschung bislang keine große Rolle. Zumeist wird er eher indirekt thematisiert, so z. B., wenn Sellmer (2008) oder Fröhlich (2008) betonen, dass Krankheitsdiagnosen im Film immer auch dazu aufrufen, das „erfüllte Leben“ zu reflektieren. Demgegenüber fragen wir danach, welche (implizit normativen) Haltungen die konkreten Serienfolgen zu Vorstellungen eines erfüllten Lebens entwickeln, und interessieren uns für deren zeitliche Dimensionen. Eine erste, zu überprüfende These dazu lautet: Gesundheit als objektiv gültiges Merkmal eines gelingenden Lebens (nach Fenner 2007, S. 124) tritt in filmischen Narrativen hinter subjektivistische Bewertungsperspektiven zurück. Die Akzeptanz von Krankheit oder gar von Mortalität als Teil oder Grundlage eines guten Lebens steht oft im Mittelpunkt der Darstellung, wenn es darum geht, chronische bzw. unheilbare Erkrankungen und deren Folgen für Betroffene wie Angehörige zu thematisieren. Die Vorstellung eines guten Lebens mit einer chronischen Erkrankung bzw. eines sinnhaften, z. B. gelassenen Abschließens mit dem Leben ermöglicht es solchen Erzählungen, ein sad ending zu vermeiden und auch das lebenszeitliche Finale als einen positiven Ausgang der Narration darzustellen; so z. B. in der Episode Von Anfängen und Abschieden aus der ersten Staffel der Krankenhausserie Bettys Diagnose (D, 2015).

Fernseh-Ethik analysieren

Aus unserer Sicht bietet es sich an, die in den Serien aufgeworfenen ethischen Themen in Anlehnung an Kottlorz (1993) zu untersuchen. Er bezieht filmische Narrationen auf eine bestimmte, je zu rekonstruierende „Vorbild-Ethik“ (Kottlorz 1993, S. 174), indem er davon ausgeht, in den televisuell erzählten Geschichten übernähmen einzelne Figuren Vorbildfunktion gerade für die Vermittlung von Normen und Werten (vgl. Kottlorz 1993, S. 174 f.). Der Fokus der Analyse liegt dabei auf der Frage, wie das Fernsehen in der fiktionalen Unterhaltung ethische Aspekte thematisiert – zum Beispiel durch darstellerische Mittel wie Wiederholung oder Kontrastierung und durch filmtechnische Mittel und ästhetische Verfahren wie Kameraarbeit, Schnitt/Montage, Musik etc., die in der Inszenierung eine kommentierende oder bewertende Funktion übernehmen können. Für die uns interessierenden Fragen nach einzelnen (medizin-)ethischen Problemfeldern (wie Suizid, Sterbehilfe etc.) oder nach den in den medialen Darstellungen zum Ausdruck kommenden Vorstellungen guten Lebens lässt sich daran anknüpfen.

Für uns wichtige Analysekategorien in diesem Zusammenhang stellen „das Genre“, „die Dramaturgie“ und „die Figurenkonstellation“ dar. Auf die Bedeutung von Genres für die Repräsentation ethischer Fragen und die „Lösung des ethischen Konflikts“ verweist Schmidt (2000, S. 152). Das Genrewissen der Zuschauer leitet die Rezeption und damit die Interpretation des Konflikts sowie der vorgeschlagenen Lösung. Dies gilt ebenso für den dramaturgischen Aufbau bzw. die narrative Struktur einzelner Szenen, Sequenzen, Filme oder Serienfolgen (vgl. Keppler 2015, S. 86). Dass Figuren bzw. Figurenkonstellationen im Rahmen audiovisueller Strategien der „relationalen Moral“ ethische Sinnzuschreibungsprozesse steuern, betont Lüdeker (2010, S. 50). Dabei werden „auf Basis vorausgesetzter moralischer Dispositionen“ (Lüdeker 2010, S. 50) Figuren zur Empathie- und Emotionslenkung in ihrem Handeln sowie ihren Motiven und Werthaltungen kontrastiv angelegt und in Beziehung zueinander gesetzt (klassisch: „Held“ vs. „Bösewicht“). Lüdekers Ansatz einer „deskriptive[n] Ethik“ (Lüdeker 2010, S. 55), die in einem ersten Schritt die ethisch-moralischen Strategien audiovisueller Artefakte beschreibt, um in einem zweiten Schritt die medial vermittelten Begründungszusammenhänge zu rekonstruieren, ist für uns leitend. Im Fokus steht hier die Ethik des medialen Textes, die, wie an der folgenden Analyse beispielhaft deutlich wird, auch nicht explizit verbalisierte Positionen und Wertungen einbezieht.

„Das ist doch kein Wunschkonzert hier“: In aller Freundschaft: Auf Gedeih und Verderb

00:08.30–00:08:32.

Im Folgenden möchten wir am Beispiel der Episode Auf Gedeih und Verderb (D, 2014) aus der Krankenhausserie In aller Freundschaft (D, seit 1998) die vorausgegangenen Überlegungen konkretisieren. In aller Freundschaft läuft seit 1998 in der ARD und erreicht wöchentlich ein Publikum von fast fünf Millionen Zuschauenden. Pro Jahr werden 42 neue Folgen gesendet. Auf Gedeih und Verderb wurde erstmals 2014 als 662. Episode der Serie ausgestrahlt (Buch: Jochen S. Franken; Regie: Peter Wekwerth). Für uns von Interesse ist der Handlungsstrang um die Figur Nina Krämer (Greta Galisch de Palma), die mit Verdacht auf eine gebrochene Hand in die Sachsenklink, dem Handlungsort der Serie, eingeliefert wird. Es handelt sich dabei um den klassischen „Fall der Woche“, der das episodische Element von In aller Freundschaft darstellt. Der zweite Handlungsstrang um den Stalker der Physiotherapeutin Pia Heilmann (Hendrikje Fitz) hingegen, die bis 2016 zum festen Figurenensemble der Serie gehörte, setzt das Geschehen vorhergehender Folgen (Annäherungsversuche, 659; Nervenkrieg, 661; jeweils D, 2014) fort.

Dramaturgisch wenig überraschend geht es im Folgenden nur am Rande um eine banale Handverletzung; diese dient lediglich als motivierendes Entrée in die Klinik. Dort stellt sich schnell heraus, dass Nina Krämer (wenngleich ungewollt) in der elften Woche schwanger ist; aufgrund eines angeborenen Herzfehlers ein für sie lebensbedrohlicher Zustand. Darüber hinaus erhält der durchgespielte Konflikt, wie zu zeigen sein wird, eine ausgewiesene ethisch-moralische Dimension – für die Serie In aller Freundschaft ist dies symptomatisch (vgl. dazu Keppler 2015, S. 85 f.).

Aufgrund der unerwarteten Schwangerschaft entsteht ein Konflikt zwischen Nina und ihrem Mann Jörn (Mirko Lang), der die Beziehung des Paars gefährdet. Sie zeigt sich zunächst daran interessiert, das Kind trotz des hohen Risikos für ihr eigenes Leben auszutragen; er dagegen fordert Rücksichtnahme auf ihn selbst und den gemeinsamen Sohn Leo (Leopold Fiedler) von ihr ein („Denk doch mal an Leo! Was ist, wenn Du stirbst?“ […] „Du lässt ihn im Stich – und mich auch“; 00:20:11–00:20:28).

Dramaturgie der Zuspitzung

Der filmisch konstruierte Fall erzeugt eine experimentelle Versuchsanordnung, in der die Figuren agieren und sich auf je eigene (nicht immer konsistente und zudem dynamische) Weise zu einer Extremsituation zu verhalten haben: zur Entscheidung über das Leben eines/einer Ungeborenen sub specie mortis sowie des durch Herzkrankheit und Schwangerschaft doppelt bedrohten eigenen Lebens. Gleichzeitig wird dabei die Frage nach einem guten Leben in der Zeit adressiert, da sich beide Eheleute eigentlich ein zweites Kind wünschen. Bislang ließ sich dieser Plan aufgrund von Ninas Herzfehler allerdings nicht verwirklichen.

Hier wird an zwei Punkten deutlich, dass die Zuspitzung der Ausgangslage dramaturgischen Erwägungen gezollt ist: Vorherige Optionen, sich aktiv und unter Berücksichtigung aller Konsequenzen für oder gegen eine weitere Schwangerschaft zu entscheiden, blieben ungenutzt. Weder ließ Jörn sich sterilisieren, um eine erneute Schwangerschaft zu vermeiden, noch hat sich Nina einer Herz-OP unterzogen, um diese zu ermöglichen. Dramaturgisch folgerichtig wie medizinisch plausibel wird Nina dann ungewollt schwanger, weil die Verhütungswirkung der Pille durch eine Antibiotika-Einnahme eingeschränkt wurde. Erst so wird eine Situation erzeugt, die man mit Blick auf die möglichen Konsequenzen für die Figuren dramaturgisch als Fallhöhe bezeichnet, denn es geht nicht mehr um eine Handverletzung, sondern um Leben und Tod. Der Effekt wird dadurch erheblich gesteigert, dass das Paar unter Zugzwang gesetzt wird, sich schnell zu entscheiden.

Die Frage danach, wie sich Nina und Jörn ihr gemeinsames Leben vorstellen, wird gerade durch die komplexe Versuchsanordnung provoziert. Beide hatten sich zwar mit dem Status Quo vor der ungeplanten Schwangerschaft arrangiert; das aber bedeutete vor allem, dass sie die eigenen Vorstellungen eines guten Lebens den nicht frei gewählten Umständen (nämlich Ninas Herzerkrankung) anpassen mussten und auf ein zweites Kind verzichteten. Mit der Schwangerschaft konfrontiert keimt der Kinderwunsch jetzt wieder auf, allerdings in entscheidenden Modifikationen: Jörn hätte gern noch ein Kind, Nina aber möchte dieses eine Kind, das „doch schon da“ ist: „[S]ein Herz schlägt, es bewegt sich“ (00:19:41–00:19:47). Sie kann es leibhaftig spüren, und eine Abtreibung kommt für sie deshalb zunächst nicht in Frage. Die Folge ruft damit auch geschlechtsstereotype Perspektiven auf: Ein (ungeborenes) Kind wird hier als für die Frau nicht in dem Maße austauschbar gezeigt, wie dies für den Mann der Fall zu sein scheint.

Ein weiterer Konflikthorizont wird mit der Frage aufgemacht, ob die Entscheidung für ein Kind innerhalb einer Beziehung von der Ehepartnerin allein getroffen werden kann, insbesondere dann, wenn sie dabei ihr Leben und das (aus Sicht des Ehemanns mit Blick auf den Status Quo definierte) gemeinsame Familienglück riskiert. Für Jörn stellt Nina das familiäre Verhältnis im Ganzen in Frage:

Nina: „Ich muss hinterher damit leben. Die Entscheidung kann mir keiner abnehmen.“

Jörn: „Gut, dann brauchst Du mich ja nicht mehr. Ruf mich an, wenn Du denkst, dass es doch unsere Entscheidung ist.“ (Er verlässt den Raum; 00:20:39–00:20:57)

Die dargebotene Fallhöhe ist deswegen so hoch, weil es in dieser Situation für Nina und Jörn keinen Kompromiss geben kann und die drohenden Folgen einer Entscheidung gravierend wären (Tod bzw. Traumatisierung). Dramaturgisch gesprochen handelt es sich um eine tragische (mithin unlösbare) konfliktäre Konstellation.

Verkompliziert wird diese Konstellation noch dadurch, dass sich auch die beiden behandelnden Ärzte uneins sind. Während Dr. Brentano (Thomas Koch) die Gefahren, die von der Schwangerschaft für das Leben der Frau ausgehen, als sehr hoch einschätzt und zu einem Abbruch rät, ist Dr. Ahrend (Roy Peter Link) bereit, das Risiko eng überwacht einzugehen und durch einen möglichst frühen Kaiserschnitt zusätzlich zu minimieren.

Genderaspekte

Dr. Brentano versteht nicht, warum es Nina „nicht einfach gut sein“ lässt, da sie doch bereits ein gesundes Kind habe. Dies unterstreicht ein weiteres Mal, dass und wie der Fall konstruiert ist: Da Nina und Jörn schon ein Kind haben, entfällt zum einen ein mögliches Argument, die Risikoschwangerschaft zu wagen. Zum anderen wird dadurch eine generationenübergreifende Verantwortung ins Spiel gebracht. Erst seine Frau Arzu (Arzu Bazman) bringt Dr. Brentano zum Nachdenken, indem sie ihm ohne nähere Begründung erklärt, dass ihr eine Entscheidung ebenso schwer fallen würde wie Nina, gerade weil sie Kinder habe (vgl. 00:25:03–00:25:35).Footnote 8 Aufgerufen wird damit ein Diskurszusammenhang, der auf die (vermeintliche, jedenfalls gesellschaftlich normierte) körperlich-emotionale Mutter-Kind-Bindung abzielt.

Dr. Brentanos Frau bestärkt Ninas Haltung nicht nur gegenüber ihrem Mann, sondern auch gegenüber dem Publikum: Wie Dr. Brentano als Fürsprecher Jörns auftritt, fungiert Arzu als Fürsprecherin Ninas. Gleichzeitig werden damit nochmals die geschlechtsstereotypen Perspektiven betont. In der Folge konstituiert sich die „relationale Moral“ (Lüdeker 2010, S. 50) also wesentlich anhand der Geschlechtsidentität der Figuren. In der filmischen Rhetorik werden beide Positionen, zumindest bis zu diesem Zeitpunkt, als gleichwertig dargestellt; durch den dramaturgischen Aufbau verschiebt sich das Wertungsgefüge aber im Folgenden: Um die Beziehung nicht weiter zu gefährden, willigt Nina in die Abtreibung ein.

Schaut man sich den Verlauf des Entscheidungskonflikts an, so ist in geschlechtsspezifischer Hinsicht auffällig, dass zunächst Nina ihre Haltung aufgibt (auch bildlich geht sie dabei „einen Schritt“ auf Jörn zu; vgl. 00:31:46–00:31:50). Sie ist dazu bereit, ihr eigenes Wohl und ihre Bedürfnisse hinter die der bestehenden Familie zu stellen, um diese nicht zu gefährden. Die Folge legt damit auf ihrer ethischen Aussageebene nahe, dass dies von Frauen immer noch erwartet werde. Jörn fordert eine solche Haltung ein, obwohl ihm dies erkennbar schwerfällt und er zu wissen glaubt, dass Nina nach einer Abtreibung „nicht mehr dieselbe“ sein würde (vgl. 00:37:04 f.). Er stellt also seine Vorstellung von Familienglück über die Interessen seiner Frau („Versetz Dich doch mal in meine Lage! Du bist mein Leben, Nina“; 00:31:41–00:31:46). Diese Haltung wird innerhalb der vorliegenden Episode von In aller Freundschaft nicht explizit in Frage gestellt, so dass männlich perspektiviertes bzw. definiertes „Familienglück“ als Wertehorizont etabliert wird. Allerdings kann man Dr. Brentano hier als Gegenbeispiel anführen. Offenbar lässt er sich (anders als Jörn) von seiner Frau davon überzeugen, wie wichtig es für Nina ist, das Kind zu behalten, und beginnt nach alternativen Behandlungsmethoden zu suchen. Die Perspektivenvariation besteht in diesem Fall darin, dass Dr. Brentano im familiären Umfeld agiert, also weniger als Arzt denn als Vater angesprochen ist. Um diesen Kontextwechsel zu unterstreichen, ist seine Frau beim Zusammenlegen von Babywäsche zu sehen. Durch diese Kontrastierung wird Jörns Verhalten damit implizit als selbstbezogen und starrsinnig ausgestellt.

Aufgebrochen und irritiert wird diese Konstellation „von außen“ durch die Medizin. Eine Behandlungsmethode (auf die das betreuende Ärzteteam erst im Verlauf der Behandlung stößt) bietet eine Alternative zu den bisher durchgespielten Szenarien: Ein minimalinvasives operatives Verfahren, vermittels dessen das Risiko für den Fötus nach ärztlicher Auskunft deutlich minimiert und das Überleben des Kindes wahrscheinlicher werde, stellt die nach längerem Ringen getroffene Abtreibungsentscheidung Ninas in Frage. Plötzlich besteht die Chance, das Leben des Kindes zu retten, ohne dass sie das ihre aufs Spiel setzt. Wenn das männlicherseits auf das Überleben der Frau setzende Verständnis von Familienglück nun aber in geringerem Maße bedroht oder einem eher kalkulierbaren Risiko ausgesetzt ist, dann dürfen der Logik dieser Episode zufolge auch Ninas Bedürfnisse handlungsleitend werden. In gewisser Weise erteilt Jörn ihr die „Absolution“, da er es ist, der Zustimmung für das neue Verfahren signalisiert und somit ihre (unausgesprochene) Entscheidung sowohl akzeptiert als auch legitimiert (vgl. 00:36:48–00:37:29). Ninas Entscheidungen bleiben im Deutungsangebot der Folge stets abhängig vom männlichen Wohlwollen. Hier wird also „dramaturgisch basiert“ (Wulff 2009, S. 380) eine moralische Wertung nahegelegt, die explizit nicht ausgesprochen wird.

Dramaturgische Lösung des Konflikts

Auf den Punkt gebracht: Die Folge erweitert ein medizinisches Problem zu einem ethischen Problem im Horizont spezifischer, als gesellschaftlich normalisiert angesehener Vorstellungen von Familienglück, für das sie (in der dramaturgischen Funktion eines Deus ex machina) eine medizinische Lösung anbietet. Mit Blick auf das Spannungsverhältnis zwischen Ninas und Jörns unterschiedlichen Vorstellungen davon, wie auf die Herausforderungen „richtig“ zu reagieren sei, bietet die Folge inhaltlich allerdings keine Lösung an.

Die alternative Operationsmethode suspendiert den Konflikt lediglich. Schließlich hätten die behandelnden Ärzte das in der Altersmedizin bereits vielfach erprobte Verfahren von Beginn an in die Behandlung einbeziehen können. Dass sie dieses erst im Verlauf der Folge überhaupt kennenlernen, ist allein dramaturgischen Erwägungen geschuldet, um die Fallhöhe der Figuren zu erhöhen. Mit Blick auf Nina wird dadurch ein weiteres Mal die Unzeitigkeit ihrer Erkrankung ausgestellt: Die werdende Mutter muss sich einer altersmedizinischen Behandlung unterziehen. Für die „Botschaft“ der Folge jedenfalls ist die Einführung einer rein dramaturgischen Deus ex machina-Lösung entscheidend: Die Medizin wird dadurch als handlungsmächtige Instanz behauptet, der allein es zu verdanken ist, dass beide Positionen zu ihrem Recht kommen können, obwohl in der Situation ein Kompromiss zwischen Nina und Jörn nicht möglich erscheint.Footnote 9 Die gesellschaftlich verbreitete Vorstellung der Medizin als einer Leitdisziplin wird dadurch gefestigt. Gleichzeitig wird hier das Wechselverhältnis von Medizin und Vorstellungen eines guten Lebens in der Zeit angedeutet: Ninas Wunsch, das Kind auszutragen, führt zwar nicht zu einer medizinischen Innovation. Doch zumindest passen die Ärzte ihr Vorgehen daran an und recherchieren ausgiebig nach einer Lösung.

Aufgerufen werden in dieser Episode viele Fragen wie: Welche Verantwortung hat der/die einzelne für sich, für ungeborene wie lebende Kinder, für die Beziehung zum Partner/zur Partnerin? Was ist die richtige, gute Entscheidung zwischen Eigenverantwortung, Verantwortung für andere und Verantwortung für das gemeinsame Leben?

Es ist nicht ungewöhnlich für Mainstream-Produktionen im deutschen Fernsehen, dass der grundlegende Konflikt „nur“ dramaturgisch gelöst wird, ohne dass die Figuren eine Entscheidung treffen müssen. Im Fall von medicals sind dergleichen Lösungen mit Blick auf die besondere Rolle der Medizin sogar eher die Regel. „Radikale“ Lösungen (z. B. Tod der schwangeren Frau) werden vergleichsweise selten durchgespielt. Auf Gedeih und Verderb zielt also darauf ab, Zuschauende zum Nachdenken und zur Selbstpositionierung anzuregen, nicht aber darauf, das Publikum z. B. zu brüskieren, zu verletzen oder gar zur traumatisieren.Footnote 10 Ein gutes Beispiel für diese dramaturgische Strategie, die nicht nur in medicals verwendet wird, ist der Tatort: Der glückliche Tod (D, 2008) von Aelrun Goette, in dem es um Sterbehilfe für ein Kind geht. Diese Tatort-Folge legt auf den ersten Blick keine eindeutige Position für oder wider eine solche, aus vielerlei Gründen hoch umstrittene Form der Sterbehilfe nahe: Bevor eine endgültige Entscheidung getroffen werden kann, stirbt das Kind. Auch hier zeigt sich die beschriebene dramaturgische Strategie, die mit einem (bezogen auf den dargestellten Konflikt) vergleichsweise offenen Ende darauf abzielt, das Publikum zur Auseinandersetzung mit dem Thema zu animieren; ein Verfahren, das – so unser erster Eindruck – vor allem bei kontrovers diskutierten medizinethischen Fragen zum Einsatz kommt.

Wie in der methodischen Grundlegung erläutert, geht das Konzept der relationalen Moral davon aus, „dass besonders im Mainstream-Film einzelne Figuren bestimmte moralische Werte repräsentieren, die vom Rezipienten mit größerer Wahrscheinlichkeit eine positive Bewertung und entsprechende emotionale Reaktion erfahren als die Moral anderer Figuren in der Diegese des Films“ (Lüdeker 2010, S. 50). Mit Blick auf die Quellenlage zeigt sich, dass diese Annahme um der Zuspitzung willen gestaltete Figurenkonstellationen ausblendet. Auf Gedeih und Verderb zeigt, dass – anders als in Spielfilmen, die oftmals eine Figur in der „Heldenrolle“ positionieren und damit deren Haltung bzw. Einstellung „normalisieren“ – unterschiedliche, teils widersprüchliche ethische Positionen gerade in Ensembleserien wie In aller Freundschaft oft (mehr oder weniger) gleichberechtigt auf die Sympathiefiguren einer Serie verteilt sind, insofern sie dem hegemonialen Feld als legitim erachteten ethischen Einstellungen dazu entsprechen (in der vorliegenden Folge vertreten durch Dr. Brentano und Dr. Ahrend).Footnote 11 In solchen Fällen stehen sich die Positionen oberflächlich betrachtet gleichberechtigt gegenüber, was Wulffs Befund einer verengenden kontrastiven Schwarz-Weiß-Malerei in den medicals widerspricht (vgl. Wulff 2001, S. 253). Dann aber ist es besonders wichtig, auf die dramaturgische und ästhetische Gestaltung zu achten. So wird in Auf Gedeih und Verderb durch eine dramaturgische Wendung, die dazu führt, dass Nina in die Abtreibung einwilligt, jene Vorstellung von Familienglück zum erstrebenswerten Gut erhoben, die auf das sichere Überleben der (allerdings weiterhin herzkranken, also grundsätzlich vulnerablen) Frau setzt. Die narrative Struktur der Folge legt damit eine bestimmte Wertehierarchie nahe, die sich in der Bildgestaltung spiegelt: Auch visuell ist Nina Jörn in der Regel untergeordnet (er schaut auf sie herab, sie blickt zu ihm auf). Korrespondierend dazu nimmt Dr. Brentano seiner Frau Arzu gegenüber eine bezogen auf die Blickrichtung untergeordnete Position ein; und zwar genau in dem Moment, in dem diese ihn dazu bringt, seine Haltung zu überdenken (vgl. 00:25:00–00:25:35). Dramaturgisch wird damit der Wendepunkt des Handlungsstrangs vorbereitet.

Genrespezifische Konfliktlösungen

Die In aller Freundschaft-Episode Auf Gedeih und Verderb ist ein gutes Beispiel dafür, dass, wie oben ausgeführt, Erzählungen genrespezifischen Logiken folgen, die bei Analyse auch des medizinethischen Potenzials eines Films zu berücksichtigen sind. Für eine Krankenhausserie wie In aller Freundschaft ergibt sich die Lösung des ethischen Konflikts zwingend im institutionellen Rahmen eines Krankenhauses; unter Beteiligung des medizinischen und pflegerischen (gelegentlich auch des technischen u. a.) Personals, der Patientinnen und Patienten sowie ihrer Angehörigen. Oft liegt die Lösung, vor allem wenn das ärztliche Personal im Mittelpunkt des Formats steht, im medizinischen Bereich, im vorliegenden Fall in einer zunächst übersehenen Operationsmethode. Mit der erfolgreichen OP wird dann „alles gut“, denn sowohl das Familienglück als auch die individuelle Entscheidungsfreiheit bleiben dadurch gewahrt. Die Mutter muss ihr Leben nicht mehr für das ungeborene Kind riskieren, das Kind darf leben, der Sohn behält beide Eltern, und auch die Ehe wird gerettet.

Fokussiert die Serie in ihrer Formatlogik eher das Pflegepersonal, wie dies in Bettys Diagnose (D, seit 2015) der Fall ist, so haben nichtmedizinische (zwischenmenschliche) Lösungsstrategien tendenziell eine größere Bedeutung. In solchen Serien wird ein medizinisches Problem oftmals lediglich als dramaturgisches Mittel eingesetzt, damit eine Figur Teil des Krankenhausgeschehens wird. Eine „einfache“ Verletzung führt dann dazu, dass sie dort bleiben und sich, unter reger Anteilnahme des Klinikpersonals, einem konkreten zwischenmenschlichen Konflikt (bspw. mit Eltern, Kindern, Lebenspartner*innen etc.) und/oder grundsätzlichen Fragen nach dem guten Leben in der Zeit stellen muss (siehe z. B. die Folge Liebe und Leidenschaft, D, 2018).

Dass moderne Medizin auch als Problemerzeugerin fungieren kann, wird dagegen in medicals insgesamt seltener thematisiert – z. B. im Bereich der Apparatemedizin (ein Patient/eine Patientin möchte sterben, wird aber künstlich am Leben gehalten), ärztlicher Kunstfehler (führen diese zu Konflikten, lassen sie sich in Mainstream-Serien zumeist wieder korrigieren) oder unsachgemäßer Behandlung (bspw. Selbstmedikation) o. ä. In den Genres „Drama“ und „Krimi“ wird Medizin hingegen aus naheliegenden Gründen vielfach als problem- und konfliktauslösend dargestellt. So ergibt sich in Wilsberg: Bittere Pillen (D, 2015) aus illegalen Medikamentenstudien ein Mordmotiv. Der Sat1-Fernsehfilm Zwei Leben. Eine Hoffnung (D, 2016) fokussiert ärztliche Entscheidungsdilemmata vor dem Hintergrund einer Organspende.Footnote 12

Die Krankenhausserie interessiert sich für die Figuren einer Episode genrebezogen konsequenterweise nur so lange, wie diese Teil des Krankenhausgeschehens sind und das medizinische Problem akut ist. Das Leben danach wird nicht beleuchtet. Das sieht man auch in der hier analysierten Folge. So spielen bspw. Fragen, wie nachhaltig die Operationsmethode das aufgeworfene Problem dann tatsächlich erledige (wie lange hält die Herzklappe?), keine Rolle. Suggeriert wird, dass die OP eine endgültige Lösung darstellt. Fernsehfilme oder Dramaserien erproben in diesen Zusammenhängen andere Plot- und Darstellungsmöglichkeiten. Mit Blick auf das in der hier betrachteten medical-Folge gebotene Setting ließe sich also eine filmische Experimentalanordnung denken, die zwar eine ähnliche Ausgangssituation wie die Serienfolge nutzt, im weiteren Verlauf dann aber das Paar zu einer Entscheidung für oder gegen das Kind zwingt, auf eine rein dramaturgische Lösung also verzichtet. Für den Fernsehfilm (insbesondere im Genre Drama) wäre z. B. die Frage interessant, wie das Paar mit der Entscheidung im Nachgang zur Krankenhaussituation dann tatsächlich leben kann. Verkraften die Frau und die Beziehung den Schwangerschaftsabbruch? Oder, im anderen Fall: Wie geht der Vater damit um, wenn seine Frau stirbt, das Ungeborene aber gerettet wird? War die Entscheidung rückblickend richtig?

Fazit: Medizinethische Diskursformen in Arzt- und Krankenhausserien

Die Folge Auf Gedeih und Verderb zeigt exemplarisch, wie deutschsprachige Arzt- und Krankenhausserien medizinethische Fragen verhandeln – und zwar in mehrfacher Hinsicht: Ausführlich abwägende Diskussionen über das Für oder Wider werden selten geführt. Im Gegenteil: Standpunkte werden oft nur benannt. Das gilt insbesondere für Serien mit mehreren Handlungssträngen pro Folge, die in vergleichsweise kurzer (Sende‑)Zeit viele Aspekte einer medizinethischen Problemlage berühren. Auch in der hier als Beispiel dienenden Folge Auf Gedeih und Verderb werden die ausgestellten Positionen nur schlagwortartig und mit stereotypen Diskursmustern aufgerufen (Nina: „Die Entscheidung kann mir keiner abnehmen“; 00:20:42 f.). Die Medienmedizin (ent)steht nun einmal „in einem diskursiven Horizont“, auf den hin sie sich „positioniert und perspektiviert“ (Wulff 2001, S. 254 f.). Daher können (und müssen) „Werthaltungen […] oft nur angespielt werden“ (Wulff 2001, S. 255); sie werden als hinreichend bekannt vorausgesetzt. Im vorliegenden Fall gilt dies bspw. für Positionen zum Selbstbestimmungsrecht der Frau, die sich im allgemeinen Bewusstsein zu Aussagen wie „mein Körper, meine Entscheidung“ oder „mein Bauch gehört mir“ verdichten.

Gerade die Fragen nach den Wechselwirkungen von Medizin und Vorstellungen eines guten Lebens in der Zeit werden oftmals adressiert, ohne dabei explizit verbalisiert zu werden; vor allem, wie beispielhaft gezeigt, durch Handlungsverläufe und Figurenzeichnungen. Die überraschend ausfindig gemachte alternative Operationsmethode in Auf Gedeih und Verderb etwa eröffnet nicht nur die Möglichkeit, ein weiteres Kind zu bekommen (das hätte sich auch mit dem hergebrachten Verfahren bei vorzeitiger Planung realisieren lassen), sondern ermöglicht zugleich die Fortsetzung der akuten Schwangerschaft und verhindert so eine vermutlich traumatisierende Erfahrung. Damit wird nicht nur der (Konstruktions‑)Fehler im Herzen Ninas „behoben“ (wie es im Text explizit heißt; vgl. 00:29:35–00:29:44); auch der krankheitsbedingte „Fehler“ in der Umsetzung der ursprünglichen Lebensplanung des Paares lässt sich beseitigen. Ninas Äußerung zu Beginn, Jörn habe sich immer eine Tochter gewünscht und vielleicht erwarteten sie beide ja nun ein Schwesterchen für Sohn Leo, markiert und umreißt die gemeinsamen und zugleich gesellschaftlich normalisierten Vorstellungen eines guten Lebens in der Zeit. Ermöglicht aber wird das alles durch die Medizin. Im aktuellen Mainstream-medical hat es in der Regel die Medizin zu verantworten, wenn sich traditionelle Vorstellungen von Familienglück durchsetzen und einen Allgemeingültigkeit beanspruchenden Wertehorizont anbieten.