Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 16.12.2021 (1 BvR 1541/20) den Gesetzgeber aufgefordert, Menschen mit Behinderung wirksam vor einer Benachteiligung bei der Zuteilung knapper überlebenswichtiger intensivmedizinischer Ressourcen zu schützen. Das am 10.11.2022 vom Deutschen Bundestag verabschiedete Gesetz wird aber weiter kontrovers diskutiert. Von Organisationen, die Menschen mit Behinderungen vertreten, wird das Zuteilungskriterium der kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit kritisiert, weil die dabei angestrebte Maximierung der Anzahl der Überlebenden die Menschenwürde missachte und Menschen mit Behinderungen mittelbar diskriminiere, wenn diese aufgrund ihrer Einschränkungen eine geringere Überlebenswahrscheinlichkeit haben. Bedauerlicherweise wurde weder vom Bundesverfassungsgericht noch in der aktuellen politischen Debatte diskutiert, ob es verfassungsrechtlich und ethisch legitim ist, die knappen Intensivressourcen so zuzuteilen, dass insgesamt möglichst vielen Menschen mit einer lebensrettenden Behandlung geholfen werden kann. Dabei stellt eine Zuteilung nach dem Kriterium der Überlebenswahrscheinlichkeit, bezogen auf die aktuelle Intensivbehandlung, keine konsequent utilitaristische Nutzenmaximierung dar, da weder die verbleibende Lebenszeit noch die erwartete Lebensqualität berücksichtig werden. Wäre aber eine Maximierung der Überlebenschancen nicht im Interesse aller potenziell Betroffenen, mit und ohne Vorerkrankungen oder Behinderungen? Schließlich erhöht sich damit auch die Wahrscheinlichkeit des Einzelnen, lebensrettend behandelt zu werden, die individuelle Sterbewahrscheinlichkeit sinkt. Eine aktuelle Simulationsstudie weist darauf hin, dass die Anwendung des Kriteriums der Überlebenswahrscheinlichkeit die Sterblichkeit insbesondere auch bei Menschen mit Vorerkrankungen oder Behinderungen im Vergleich zu einer Zuteilung nach dem Zufallsprinzip senkt.Footnote 1 Dringend müsste deshalb diskutiert werden, ob eine Regelung zu bevorzugen wäre, die eine höhere Sterblichkeit in Kauf nimmt, um beispielsweise mit einem Losverfahren – sofern überhaupt praktikabel – eine formale Gleichbehandlung zu gewährleisten. Im Gesetzgebungsverfahren hatte aber eine explizite politische Auseinandersetzung mit alternativen Zuteilungskriterien nicht stattgefunden.

Aus wissenschaftlichen und ärztlichen Fachkreisen hingegen wird vor allem kritisiert, dass das Gesetz bereits zugeteilte intensivmedizinische Behandlungskapazitäten von Zuteilungsentscheidungen ausnimmt (Ausschluss der sog. „Ex-post-Triage“). Die Argumente dagegen sind bekannt und in vielen Stellungnahmen, Anhörungen und Diskussionsveranstaltungen vorgetragen worden: Die aktuelle Überlebenswahrscheinlichkeit lässt sich vor Beginn der Intensivtherapie oft nur schlecht einschätzen, nach dem Gebot der Gleichbehandlung sollten alle intensivbehandlungsbedürftigen Patienten gleichermaßen in die Zuteilungsentscheidungen einbezogen werden. Die Tragik der Entscheidungen dürfte im Regelfall sinken, da nur bei denjenigen Patienten auf eine Intensivbehandlung verzichtet wird, die trotz aller therapeutischen Bemühungen höchstwahrscheinlich versterben. Zudem würden sich die Chancen später eintreffender Erkrankter deutlich verschlechtern, da früher aufgenommene Intensivpatienten mit schlechter Überlebenswahrscheinlichkeit längere Zeit die Kapazitäten auslasten – und dann mit einer hohen Wahrscheinlichkeit versterben. Auch mit diesen Argumenten setzten sich die zuständigen Politiker bislang kaum auseinander: Der Ausschluss der „Ex-Post-Triage“ wurde im Kabinettsentwurf nicht begründet, sondern nur konstatiert, in der ersten Anhörung im Deutschen Bundestag wurde lediglich der Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Patienten und Ärzten als Argument angeführt. Dieses beginnt aber nicht erst mit der Aufnahme auf die Intensivstation, sondern bereits bei der präklinischen Erstversorgung oder spätestens in der Notaufnahme. Es zeugt nicht von einer guten gesellschaftspolitischen Deliberationskultur, wenn im Gesetzgebungsverfahren zu diesem heiklen Thema mit potenziell großer Tragweite für die Betroffenen weder die Sorgen von Menschen mit Behinderungen noch die Überlegungen aus wissenschaftlichen und ärztlichen Fachkreisen aufgegriffen und eingehend diskutiert werden. Auch der Deutsche Ethikrat hätte sich angesichts der ethischen Brisanz der anstehenden gesetzlichen Regelung durchaus noch einmal zu Wort melden können, nachdem die Diskussionen insbesondere hinsichtlich der rechtlichen Bewertung der Ex-post-Triage seit der letzten Stellungnahme des Rats im Frühjahr 2020 deutlich vorangeschritten sind.

Darüber hinaus gibt es weitere relevante Fragen bei der Zuteilung unzureichend verfügbarer Intensivressourcen, die in der aktuellen Debatte kaum eine Rolle spielten. Hierzu gehört beispielsweise die Frage, ob der Impfstatus der betroffenen Personen ein angemessenes Priorisierungskriterium sein könnte. Wie Tatjana Hörnle in ihrem Beitrag im vorliegenden Heft ausführt, lassen sich durchaus Argumente für die Berücksichtigung des Impfstatus anführen. Wer die Vermeidung von Risiken oder Unannehmlichkeiten der Impfung höher gewichtet hat als die reduzierte Wahrscheinlichkeit eines lebensbedrohlichen Krankheitsverlaufs, muss im Gegenzug akzeptieren, wenn diese Entscheidung bei einer Knappheit an Intensivressourcen als Posteriorisierungskriterium verwendet wird. Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass das Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht keine ausreichende Differenzierung der Patienten erlaubt und der dann benachteiligte Patient aufgrund der Infektionskrankheit in die lebensbedrohliche Situation gekommen ist. Da das eigene Verhalten bislang nicht als Zuteilungskriterium für knappe Gesundheitsressourcen genutzt wird, muss zudem vorab kommuniziert worden sein, dass die Impfentscheidung eine Rolle bei der Zuteilung der Intensivressourcen spielen wird.

Tatsächlich war der Anteil Ungeimpfter unter den Intensivpatienten deutlich höher als in der Allgemeinbevölkerung, womit die Betroffenen durch ihre Entscheidung mit zu einer Überlastung der Behandlungskapazitäten beigetragen haben. Allerdings stellt sich – insbesondere auch mit Blick auf die dann weitreichenden Folgen (Nichtbehandlung bei einer lebensbedrohlichen Erkrankung) – die Frage, ob die Entscheidung gegen die Impfung im Einzelfall tatsächlich eine selbstbestimmte Entscheidung war, die auf Grundlage sachlich angemessener und ausreichender Informationen im Rahmen einer bewussten Abwägung der positiven und negativen Folgen getroffen wurde. Angesichts der Tatsache, dass die Impfraten insbesondere auch in sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen niedrig waren, dürfte es bei einigen Nichtgeimpften zumindest fraglich sein, ob es sich wirklich um eine ausschließlich selbst zu verantwortende Entscheidung der Betroffenen handelte. Auch kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Impfverzicht auf fehlerhaften Informationen zum Nutzen-Schadens-Verhältnis beruht. Hinzu kommt, dass auch andere Verhaltensweisen mit einem erhöhten Risiko für einen schwerwiegenden Verlauf einhergehen könne, z. B. der ungeschützte Aufenthalt in einer größeren Menschenansammlung. Damit stellt sich die Frage, welche dieser selbst versursachten Risikoerhöhungen bei einer möglichen Zuteilungsentscheidung berücksichtig werden können bzw. sollen und wie die Auswahl ethisch zu begründen ist.

Tatjana Hörnle weist zu Recht darauf hin, dass derjenige, der ein Zuteilungskriterium aus ethischen Gründen kritisiert, ein besseres Auswahlkriterium vorschlagen muss. Nach ihrer Einschätzung wäre eine Zuteilung nach dem Zufallsprinzip oder nach dem First-come-first-served keine bessere Alternative, sodass bei einer vergleichbaren klinischen Erfolgsaussicht durchaus eine Priorisierung nach dem Impfstatus in Frage käme. Erstaunlicherweise wird weder von Tatjana Hörnle noch in der aktuellen Debatte erörtert, ob das Kriterium des Lebensalters nicht ein ethisch gerechtfertigtes Zuteilungskriterium sein könnte – zumindest bei vergleichbarer klinischer Erfolgsaussicht. International wird das Kriterium des Lebensalters nicht nur im Zusammenhang mit pandemiebedingten Zuteilungsentscheidungen als ethisch vertretbares Priorisierungskriterium diskutiert (vgl. z. B. White und Lo 2020). Schließlich haben jüngere Menschen weniger Chancen gehabt, ihre Lebenspläne zu realisieren und die verschiedenen Lebensphasen zu durchleben. Sie sind damit schlechter gestellt als ältere Menschen, was eine Priorisierung bei der Zuteilung lebenswichtiger Ressourcen rechtfertigen könnte. Allerdings wäre auch hierfür vorab ein entsprechender gesellschaftspolitischer Diskurs erforderlich, um eine Verständigung über die Legitimität des Kriteriums des Lebensalters herzustellen.

Insgesamt bleibt zu hoffen, dass der Diskurs in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft auch nach Verabschiedung der Regelung im Infektionsschutzgesetz weitergeht. Angesichts der großen Tragweite der Entscheidungen ist es nicht vertretbar, ethisch unzureichend oder schlecht begründete Regelungen mit Verweis auf die geringe Eintrittswahrscheinlich des Regelungsgegenstands hinzunehmen. Schließlich geht es um Grundfragen des Umgangs mit begrenzt verfügbaren Ressourcen, die über pandemie-bedingte Knappheit hinaus relevant sind: Wie können vulnerable Patientengruppen in Knappheitssituationen effektiv vor einer Benachteiligung geschützt werden? Unter welchen Voraussetzungen ist es ggf. legitim, bei der Allokation begrenzter Gesundheitsressourcen auch eine Maximierung des gesundheitlichen Nutzens anzustreben? Welche Rolle kann und soll die Eigenverantwortung bei Zuteilungsentscheidungen bzw. dem Zugang zu medizinischen Leistungen haben? Angesichts der besonderen Bedeutung der Gesundheit für die Realisierung von Lebenschancen und damit die soziale Gerechtigkeit, bedürfen diese Fragen einer umsichtigen, sachlich informierten, ausgewogenen Diskussion, die besonders betroffenen Bevölkerungsgruppen angemessene Möglichkeiten der Beteiligung bietet.