Am Ende dieser Beschreibung eines traurigen Falls findet sich die Frage, ob immer alles getan werden muss, was in der Macht der Medizin steht. So wie die Frage formuliert ist, fragt sie, ob das Machbare eine moralische Implikation hat, die Akteure zwingt, alles durchzuführen, was sie durchführen können.

Im Mai dieses Jahres hat sich die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO) mit der Stellungnahme „Ärztliche Verantwortung an den Grenzen der Sinnhaftigkeit medizinischer Maßnahmen. Zum Umgang mit ‚Futility‘“ zu dieser Frage geäußert (Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer 2022). Die Stellungnahme unterscheidet hier zwei unterschiedliche Typen von Futility: unwirksame therapeutische Strategien („Futility“ Typ 1) und wirksame (potenziell nützliche) therapeutische Strategien mit einem sehr ungünstigen Nutzen-Schaden-Verhältnis („Futility“ Typ 2) (Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer 2022). Die beiden Typen der Futility unterschieden sich darin, dass unwirksame therapeutische Strategien eine ärztliche Bewertung der Evidenz erfordern und wirksame (potenziell nützliche) therapeutische Strategien mit einem sehr ungünstigen Nutzen-Schaden-Verhältnis eine ärztliche Bewertung des Nutzen-Schaden-Verhältnisses. Gemeinsam haben sie, dass sie über den Rückgriff auf die ärztliche Indikation Maßnahmen als nicht indiziert und damit als sinnlos einstufen können. Sind Maßnahmen ärztlich nicht indiziert, weil Futility Typ 1 oder 2 vorliegt, dann sollen sie nicht durchgeführt werden und begrenzen somit das medizinisch Machbare. Fragt man nach der Sinnhaftigkeit einer medizinischen Maßnahme, so ist es daher geboten zu überprüfen, ob Futility Typ 1 oder Typ 2 vorliegt.

Im vorliegenden Fall wird ein beginnender hämorrhagischer Schock beschrieben, d. h. ein beginnender Kreislaufzusammenbruch aufgrund einer Blutung. Als diagnostische Maßnahmen werden eine „Verkabelung“, eine Blutgasanalyse und eine Ultraschalluntersuchung beschrieben. Für die Kreislaufüberwachung der Patientin, die weitere Therapie und die Eingrenzung der Differentialdiagnose sind alle drei Strategien wirksam und haben ein sehr günstiges Nutzen-Schaden-Verhältnis und sind bezüglich des weiteren Procedere zielführend. Als therapeutische Maßnahme ist eine Bluttransfusion beschrieben, die ebenfalls ein sehr günstiges Nutzen-Schaden-Verhältnis aufweist. Es kann also geschlossen werden, dass weder Futility Typ 1 noch Typ 2 vorliegen. Sind beide Typen von Futility ausgeschlossen, fragt die ZEKO-Stellungnahme, welche Strategie aus ärztlicher Sicht das beste Nutzen-Schaden-Verhältnis für die Patientin aufweist, und empfiehlt dieses der Patientin darzulegen (Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer 2022). Die Entscheidung für diese Strategie obliegt dann nicht mehr Ärzt*innen, sondern der Patientin. Sie allein kann autonom entscheiden, ob diese Strategie für sie selbst sinnvoll ist.

Anhand des vorliegenden Kasus ist nicht ersichtlich, ob die Patientin der diagnostischen und therapeutischen Strategie zugestimmt hat. Man könnte mutmaßen, dass eine notfallmäßige Vorstellung im Krankenhaus einen Therapiewunsch suggeriert, aber das bleibt Spekulation. Im Rahmen eines hämorrhagischen Schockes zählt jede Sekunde einer therapeutischen Handlung. Auch ein kurzes Gespräch kann hier wertvolle Sekunden verschwenden. Ein behandelndes Team kann in solchen Situationen deshalb oft nur nach mutmaßlichem besten Interesse der Patientin entscheiden (Beauchamp und Childress 2013). Das ist immer unbefriedigend, da das Behandlungsteam nicht sicher sein kann, ob dies auch wirklich dem entspricht, was die Patientin als ihr bestes Interesse ansehen würde (Quante 2002; Beauchamp und Childress 2013).

Die Analyse kann daher mit dem Fazit abgeschlossen werden, dass keine der Maßnahmen sinnlos oder maßlos waren, solange sie dem Wunsch der Patientin entsprechen. Über diesen kann allerdings nur retrograd spekuliert werden.

Persönlich empfinde ich diese Antwort als unbefriedigend. Vor allem, weil ich mich beim Lesen des Falls gefragt habe, ob nicht eine andere Frage hinter dem Text steht. Sie steckt in den beiden Sätzen „Helfen wir ihr?“ und „Es geht ums Dasein.“.

„Der Tod ist ein Nummernwechsel“ (Rilke und Stahl 1996) ist die Metapher, die Rainer Maria Rilke in seinem Prosatext „Das Christkind“ für die scheinbare Technokratie im Gesundheitssystem wählt. Der Verdacht, dass etwas Wichtiges in der scheinbaren Neutralität von Behandlungsalgorithmen verloren geht, findet sich auch in den Daten zu moralischem Stress bei Gesundheitspersonal wieder (St Ledger et al. 2021; Tessman 2020). Moralischer Stress wird nach Campell definiert als „one or more negative self-directed emotions or attitudes that arise in response to one’s perceived involvement in a situation that one perceives to be morally undesirable“ (Tessman 2020). Für mich ist es das, was hinter den beiden anderen Sätzen steht: der Ausdruck moralischen Stresses, der von der Frage ausgeht, was die ärztliche Aufgabe ist und wie sie über die reine Behandlung hinausgeht. Damit macht diese persönliche Schilderung eines Falles deutlich, dass moralischer Stress im Gesundheitswesen eine Aufgabe ist, der wir uns stellen müssen. Zusammen, denn es geht tatsächlich um das Dasein.