Einleitung

Im Ethik-Unterricht scheint es sich zunehmender Beliebtheit zu erfreuen, literarische Texte (Kern-Stähler et al. 2013), ganze Filme beziehungsweise Filmausschnitte (Wöhlke et al. 2015; Bohrmann et al. 2018) oder andere Kunstwerke einzubinden. Dies mag daran liegen, dass künstlerische Auseinandersetzungen mit Themen der Medizinethik – von den utopischen und dystopischen Machbarkeiten neuer Biotechnologien bis hin zu den „klassischen“ Themen um Krankheit, Leiden, Tod, Sterben und Trauer – in den letzten Jahrzehnten in den gesellschaftlichen und damit auch künstlerischen Diskursen zunehmend präsenter wurden. Zudem ist ein neues Genre der „illness narratives“ in Form von Filmen, Gedichten, Erzählungen und Comics (Czerwiec et al. 2015) entstanden, in dem sich Erkrankte mit ihrem Leiden auseinandersetzen und welche den Einbezug der häufig vernachlässigten Betroffenenperspektive ermöglichen. Den Ethik-Dozierenden bietet sich hier ein schier unerschöpfliches Reservoir für unterschiedlichste Erkrankungen und Lebenssituationen. Häufig dient ein solcher Einbezug allein dazu, eine medizinethische Fragestellung oder Problematik zu illustrieren. Literatur- oder filmwissenschaftliche Analysen treten dann in den Hintergrund. Die Werke können auch als eine „eigene Wissensform unserer kulturellen und kollektiven Identität“ (Wöhlke et al. 2015) behandelt werden, die übliche Denk‑, Darstellungs- und Wahrnehmungsweisen in Frage stellen und somit zur Reflexion und Diskussion anregen.

Seit einigen Jahren gibt es eine wachsende Zahl an Lehrveranstaltungen und Workshops, die zum Begriff der Narrativen Medizin in Beziehung gesetzt werden und die über die oben beschriebenen Ansätze hinausgehen (Wohlmann et al. 2021). Die Schnittmengen zum Ethik-Unterricht dieser eher literaturwissenschaftlichen Methoden liegen weniger in der Auswahl einer medizinethischen Thematik, sondern vielmehr in der Schulung und Vermittlung von Kompetenzen, die sowohl als narrativ als auch ethisch bezeichnet werden können: Diese Interventionsmethode möchte Selbstreflexion, kritisches Denken, Ambiguitätstoleranz und Umgang mit Unsicherheit sowie Nicht-Eindeutigkeit, Perspektivwechsel, Out-of-the-box-Denken, das Erkennen von blind spots und Vorannahmen fördern.

Im Folgenden möchten wir die didaktische Methodik der Narrativen Medizin vorstellen und anschließend kurz auf drei Interventionsmethoden im deutschsprachigen Medizinethik-Unterricht eingehen.

Narrative Medicine im medical training: Das New Yorker Modell

Narrative Medicine, wie sie von Rita Charon und Kolleg*innen an der Columbia University New York entwickelt und erfolgreich in Ausbildungsprogrammen und Workshops für angehende und praktizierende Professionelle in Medizin und Gesundheitsberufen implementiert wurde, hat sich mittlerweile als Interventionsmethode zu einem Markenzeichen entwickelt (Charon et al. 2016a). Das Analysieren und Interpretieren von literarischen Erzählungen lässt sich nach Charons Modell als eine Art Skills Lab verstehen, in dem experimentiert, spekuliert, kritisiert und widersprochen werden kann. Kreative Methoden werden dabei ebenso betont wie rezeptive Methoden. Zu dem aus dem new criticism kommenden close reading (oder auch close listening für mündliche Erzählungen), also einer sorgfältigen Lektüre von Bedeutungsinhalt und -struktur eines Textes, gesellen sich demnach Methoden aus dem creative oder auch reflective writing, dem Selbstproduzieren von kurzen Texten (Charon et al. 2016b; Charon 2015). Der Aufmerksamkeit, die der/die Leser*in dem Text (und der Arzt/Ärztin dem/r Patient*in) widmet (attention im close reading), geht über in eine selbstkritische Reflexion, wie die eigene Wahrnehmung entsteht, wie sie sich womöglich von anderen Wahrnehmungen unterscheidet, wie sie geleitet, gegebenenfalls auch fehlgeleitet ist und nicht zuletzt wie sie von Rezipierenden und Text/Erzählung/Patient*in ko-produziert wird (representation im creative writing). Phasen der Auseinandersetzung mit der eigenen Wahrnehmung (jede/r schreibt für sich) wechseln sich ab mit dem Dialog und der Diskussion unter den Teilnehmenden (affiliation). Um den Schreibprozess anzuleiten, greift das New Yorker Ausbildungsprogramm hauptsächlich auf das prompted writing zurück. Dabei wird den Teilnehmenden nach einem close reading und gemeinsamen Austausch über einen Text- oder Filmausschnitt oder nach dem Betrachten eines Kunstwerkes ein kurzer Anreiz gesetzt, der zum Schreiben auffordert, etwa der Beginn einer Geschichte. Daraufhin haben die Teilnehmenden eine sehr kurze Zeit, in etwa fünf bis sieben Minuten, einen kleinen Text zu verfassen. Prompts können sich je nach vorangegangenem close reading aus einem unmittelbaren Bezug zur ärztlichen Praxis ergeben oder aber ganz davon losgelöst sein. Die Formulierung eines prompts stellt dabei für die Dozierenden keine leichte Aufgabe dar, muss sie doch Raum für die Entfaltung kreativen Schreibens lassen, ohne beliebig zu werden. Grundsätzlich gilt für Dozierende wie auch für die Teilnehmenden, dass Vertrauen in den kreativen Prozess zu erstaunlichen Ergebnissen und nicht vorhersehbaren Diskussionen führen kann, die zwar einer stringenten Unterrichtsplanung oftmals entgegenstehen, jedoch die Bedürfnisse der Teilnehmenden widerspiegeln, wie sie den Dozierenden bisweilen unbekannt sind.

Beispiele aus der Lehrpraxis

Beispiel 1: Sich in die Lage eines anderen versetzen (Betroffenen-Perspektive)

Textausschnitt aus dem Roman „Leben“ von David Wagner

An der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg wird im vorklinischen Studienabschnitt ein Wahlfach zu Medical Humanities angeboten, in dem die Studierenden lernen, ethische Problemkonstellationen zu erkennen und professionsethische Haltungen unter Einsatz von belletristischen Werken zu reflektieren. Ein Schwerpunkt bezieht sich dabei auf die literarische Auseinandersetzung mit der Thematik der Organtransplantation, die oftmals in Form von dystopischen Organraub-Narrativen imponiert. Um sich der Diskrepanz der für Transplantationszwecke benötigten und der zur Verfügung stehenden Organe bewusst zu werden, sollen die Studierenden sich in eine Situation des Verharrens und Bangens auf der Warteliste für ein Spenderorgan hineinversetzen. Um das Einfühlen in eine solche Dilemma-Situation zu unterstützen, beginnt das Seminar mit einem prompt (s. oben), der sich auf folgende Textstelle aus dem Werk „Leben“ des Autors David Wagner bezieht, der in 277 Prosa-Miniaturen sein Erleben vor und nach einer Lebertransplantation, die wegen einer Autoimmunhepatitis erforderlich war, schildert (2013).

Mit jedem Tag steigt die Wahrscheinlichkeit zu sterben, jeder Tag ist ein Tag näher dran am Tod. Doch jeden Tag, das ist die Ironie der Liste, steigt auch die Chance zu überleben – nur muss ein anderer vorher sterben. Und ich weiß schon: Wenn du nicht stirbst, dann sterbe ich. (Wagner 2013, S. 90)

Das Dilemma bezieht sich in dieser Textstelle insbesondere auf den Aspekt, dass (im Rahmen der Postmortalspende) erst jemand versterben muss, damit das eigene (Über‑)Leben durch eine Transplantation gesichert ist. Diese Art der Kausalität bietet bereits eine Vielzahl an Interpretationsmöglichkeiten und Diskussionsgrundlagen. Vor dem Hintergrund dieses Zitats werden die Studierenden gebeten, den folgenden writing prompt innerhalb der nächsten fünf Minuten zu bearbeiten: „Versuchen Sie, sich in die Situation zu versetzen, dass Sie selbst auf ein Spenderorgan angewiesen sind. Gibt es Grenzen, die Sie selbst dann nicht überschreiten würden? Wie weit wären Sie unter Umständen dann doch bereit zu gehen?“

Die Studierenden werden unmittelbar vor eine existenzielle Wirklichkeit gestellt, aus der heraus sie ihre eigene Person, ihr Handeln, ihre Emotionen in einem neuen Kontext verorten und reflektieren lernen müssen. Mit Erlaubnis eines Studierenden aus dem Wahlfach soll hier als Verweis auf das Potenzial dieser expressiven Methode ein solcher Text veröffentlicht werden, der sich im Nachgang als außerordentlich anregend für die weiteren Diskussionen im Plenum herausgestellt hat.

Ein versagendes Organ im Körper, der eventuelle Tod eines Fremden als einzige Chance weiterzuleben … oder zumindest die Chance zu haben auf ein richtiges Leben, ohne Einschränkungen, ohne die Angst, dass es einfach den Geist aufgibt.

Schwer vorstellbar, doch vielen geht es so.

Was ich tun würde?

Warten, alles dafür tun durchzuhalten, bis ich irgendwann oben auf der Liste stehe, insgeheim wieder hoffend, dass jemand stirbt, entweder als Spender oder einer meiner Konkurrenten.

Ob ich weitergehen würde, weiß ich nicht, doch anderen den Tod zu wünschen erscheint mir schlimm genug.

Beispiel 2: Ein Blick auf die ärztliche Profession

Textstellen und Regeln aus dem Roman „The House of God“ von Samuel Shem

Ein weiteres Beispiel aus dem Hallenser Wahlfach bezieht sich auf den Einsatz des medizinischen Bildungsromans „The House of God“ des Arztes und Literaten Samuel Shem (Pseudonym von Stephen J. Bergman) und die Auseinandersetzung mit den daraus stammenden, bis dato ungeschriebenen dreizehn Regeln, deren Einhaltung helfen soll, den Weg zur ärztlichen Profession möglichst unbeschadet zu überstehen (Shem 1978). Ein zynisch-sarkastischer Unterton lässt diese Regeln unmenschlich und übertrieben erscheinen, doch bei näherem Hinschauen verstecken sich dahinter wichtige Botschaften, die noch heute für angehende Mediziner*innen von hoher Wertigkeit (Orientierungswissen) sein können.

Im Seminar werden anhand von ausgewählten Textstellen einige der Regeln des „House of God“ vor dem Hintergrund eines versteckten Curriculums, welches abseits der Lehrpläne vermittelt wird, untersucht. Es bietet sich an, hierbei eine Brücke zur prinzipienorientierten Ethik nach Beauchamp und Childress zu schlagen (2019). Die Studierenden setzen sich beispielsweise mit der Frage auseinander, inwiefern sich das Verbot, Schaden zuzufügen, mit der fünften Regel „PLACEMENT COMES FIRST“Footnote 1 (Shem 1978, S. 420) in Verbindung bringen lässt. Auf Begriffe und Akronyme wie „GOMER“Footnote 2 (S. 424), „LoL in NAD“Footnote 3 (S. 425) und „TURF“Footnote 4 (S. 428) – die längst ihren Weg in den medizinischen Jargon gefunden haben – wird ein besonderes Augenmerk gelegt, da sie gute Beispiele dafür sind, welchen Stellenwert die Sprache im medizinischen Kontext (in der Auseinandersetzung mit Gesundheit und Krankheit) sowohl in der Kommunikation mit Kolleg*innen als auch mit Patient*innen einnimmt und welche Gefahren sich hinter dem Gebrauch pejorativer Begriffe verstecken, die oftmals ungefiltert in den eigenen Wortschatz übergehen. Die im Roman verhandelten Regeln regen dazu an, sich seiner eigenen Rolle als handelnde/r Mediziner*in bewusst zu werden (Verantwortung, Professionalität). Dass dies unmittelbar etwas mit den Themen Selbstfürsorge und Resilienz zu tun hat, darauf verweist die vierte Regel: „THE PATIENT IS THE ONE WITH THE DISEASE“ (Shem 1978).

Beispiel 3: Anderen begegnen

Ausschnitt aus dem Spielfilm „Happy-Goes-Lucky“ von Mike Leigh, Großbritannien (2008)

Das dritte Beispiel, das wir zur Illustration der Interventionsmethode der Narrativen Medizin ausgewählt haben, hat keinen unmittelbaren Bezug zur Medizin und mit ihr verwandten Themen. Es handelt sich um eine Szene aus dem Film „Happy-Goes-Lucky“ von Mike Leigh.Footnote 5 Man muss nicht den ganzen Film kennen, um die Szene, die auch im Plot des Films sehr vereinzelt dasteht, zu behandeln. Es handelt sich um eine Begegnung der Hauptfigur mit einem Obdachlosen, der lallend, vor sich hinsingend, eine unzusammenhängende Geschichte erzählt, sofern er sich überhaupt artikulieren kann. In dieser kurzen Szene von acht Minuten wechseln sich in der Annäherung der beiden Figuren verschiedene Themen ab: Interesse bis hin zur Empathie, das intensive Zuhören und Erschließen von Gemeintem aus Bruchstücken, auch Angst und Ekel, Witz, ein Sich-Hinein-Versetzen in eine andere (und womöglich durch Wahnvorstellungen verzerrte) Welt und wiederum ein Sich-Davon-Distanzieren. Die Verbindung zu Themen von Interkulturalität in der Beziehung von Ärzt*innen zu ihren Patient*innen wird bei Studierenden mit klinischer Erfahrung meist sofort hergestellt. Im prompted writing dieser Lehreinheit schreiben die Studierenden einen eigenen kurzen Text zur „Die Geschichte des Mannes …“. Der Fokus liegt hier darauf, inwieweit bestimmte Verhaltens- und Darstellungsweisen (der Filmfigur aber auch von Patient*innen) in uns selbst werte-basierte Geschichten und Projektionen evozieren. Schon ein kurzer Kontakt mit einer Patient*in lässt ein bestimmtes Bild und eine bestimmte Erzählung entstehen, die durchaus ihre Berechtigung haben, die es jedoch auch zu reflektieren und zu hinterfragen gilt. Die Unterrichtseinheit greift in diesem Sinne wichtige Aspekte des professionellen Patient*innenkontaktes auf, eines punktuellen Kontaktes in einer Lebensgeschichte der Patient*innen, in dem den professionell Handelnden Grenzen gesetzt sind, die es wahrzunehmen, zu reflektieren und auch kommunikativ zu begegnen gilt.

Schluss

Die Narrative Medizin als Interventionsmethode in ihrer rezeptiven, expressiven und kreativen Aushandlungsform schult und vermittelt Kompetenzen, die sowohl als narrativ als auch ethisch bezeichnet werden können. Wertebasierte Bedeutungszusammenhänge werden in einem experimentellen Raum verhandelt, der u. a. durch Spekulationen, Irritationen, (Selbst‑)Kritik und Perspektivwechsel zu einer komplexen und vielschichtigen ethischen Reflexion anregt. Die Methode dient einer differenzierten selbstkritischen Reflexion in Bezug auf die eigene professionelle Sozialisation. Bislang gibt es jedoch in Bezug auf die Wirksamkeit der Unterrichtsformate nur wenige Studien (Remein et al. 2020). Evaluationen beruhen häufig auf der Selbsteinschätzung der Teilnehmenden, auf kleinen Fallzahlen oder sind nur eingeschränkt hilfreich aufgrund einer kurzfristigen Intervention und fehlender Aussagen über die Langzeitwirkung.