Gewiss, die Sinnperspektive auf den assistierten Suizid ist ungewöhnlich. Die Qualität eines ethischen Ansatzes bemisst sich jedoch nicht am Grad seiner Gewöhnlichkeit, sondern vor allem daran, ob er moralische Urteile verständlich machen und begründen kann. Genau das leistet die Sinnperspektive.
Erstens macht die Sinnperspektive die Bedeutung des Suizids und damit des assistierten Suizids überhaupt erst verständlich. Was ist damit gemeint? Nach Johannes Fischer ist die Bedeutung von Handlungen und Ereignissen ein wesentliches Moment moralischen Urteilens, das jedoch in der akademischen Ethik vernachlässigt wird (Fischer 2009). Gemeint ist dasjenige, was uns Handlungen und Ereignisse bedeuten, welches Gewicht sie für uns haben, welchen Platz sie im Gefüge unserer evaluativ gefüllten Weltwahrnehmung einnehmen, jenseits eines verfehlten „Dualismus von Tatsachen und Wertungen“ (Fischer 2009, S. 246). Erst vor dem Hintergrund dieser Bedeutung werden die emotionalen Reaktionen verständlich, wie zum Beispiel Betroffenheit. Und diese Bedeutung ist auch für die moralische Beurteilung ausschlaggebend.
Fischer weist ganz richtig darauf hin, dass die Bedeutung des Suizids in der ethischen Debatte theoretisch unterbelichtet ist. Die Sinnperspektive erschließt diese Bedeutung des Suizids. Sie vermag die Betroffenheit, die Verstörung verständlich zu machen, die wir empfinden können, wenn wir von einem Suizid auch einer entfernt bekannten oder unbekannten Person hören. Insbesondere kann sie verständlich machen, warum und inwiefern uns ein Suizid etwas angeht, und zwar nicht nur dann, wenn wir mit der Person vertraut waren.
Genauer muss man sagen, dass die Sinnperspektive einen Teil der Bedeutung des Suizids verständlich macht, vor allem des assistierten Suizids. Einen anderen Teil dieser Bedeutung bildet nämlich die Autonomie der suizidalen Entscheidung. Das heißt, das, was ein assistierter Suizid bedeutet, liegt auch maßgeblich darin, dass sich ein zu selbstbestimmten Entscheidungen fähiger Mensch entschlossen hat, seinem Leben ein Ende zu setzen. Erst aus dieser Spannung zwischen der uns betreffenden Sinnverneinung und der zu achtenden individuellen Autonomie wird die soziale Problematik und moralische Konfliktträchtigkeit des assistierten Suizids verständlich. Diese Spannung geht im ethischen Diskurs zuweilen unter, wenn die Suizidthematik auf die Autonomiefrage reduziert wird, „so als ginge ein Suizid gewissermaßen ‚in Ordnung‘, wenn die psychiatrische Abklärung ergeben hat, dass er freiverantwortlich und selbstbestimmt ist“ (Fischer 2009, S. 245).
Zweitens kann die Sinnperspektive die prekäre Rolle der Menschenwürde in der Diskussion um den assistierten Suizid aufklären. Bekanntlich wird die Menschenwürde für gegensätzliche Positionen ins Feld geführt: für und wider den assistierten Suizid (vgl. Borasio et al. 2020, S. 86 f.; Wittwer 2020, S. 186–196). Die Sinnperspektive zeigt nun, dass der Grund für diesen merkwürdigen Status der Menschenwürdeidee keineswegs in einer inhaltlichen Beliebigkeit liegt, sondern in ihrem klar fassbaren, aber mehrdimensionalen Gehalt. Die Kontrahenten der Debatte nehmen auf verschiedene Dimensionen der Menschenwürde Bezug. Die Pflicht zur Achtung selbstbestimmter Suizidentscheidungen folgt aus ihr ebenso wie eine kritische Bewertung ihrer Unterstützung. Suizidassistenz verletzt nicht die Menschenwürde, aber sie untergräbt ihre axiologische Grundlage. Das macht diese Handlungsweise ethisch so irritierend. Jede einseitige Reduktion auf nur einen Aspekt wird der Menschenwürde nicht gerecht. Die sinntheoretische Aufdeckung dieser Spannung macht die Bewertung des assistierten Suizids nicht einfacher, aber sie wird seiner normativ-evaluativen Komplexität gerechter.
Drittens gelingt es der Sinnperspektive, die unterschiedlichen Bewertungen verschiedener Suizidgründe verständlich zu machen. Beim klassischen Fall des assistierten Suizids handelt es sich um Menschen mit tödlichen Erkrankungen. Inzwischen wird jedoch Suizidassistenz ebenso bei „Lebensmüdigkeit“ gerechtfertigt und praktiziert. Auch das Bundesverfassungsgericht bahnt dafür den Weg (BVerfG 2020, Rn. 210). Während die Suizidassistenz bei Sterbenskranken vielfach auf Verständnis stößt, ruft sie im Falle Lebensmüder eher Skepsis hervor. Warum? Versteht man Suizidassistenz nur als Hilfe bei der Umsetzung eines autonomen Wunsches in existentieller Not, ist diese unterschiedliche Bewertung nicht nachvollziehbar. In der Sinnperspektive ändert sich das. Ein Suizid aus Gründen der Lebensmüdigkeit ist der geradezu paradigmatische Fall der Sinnverneinung: Eine Person beendet ihr Leben, eben weil es in ihren Augen sinnlos ist oder geworden ist. Beim Suizid aus krankheitsbedingten Gründen hingegen kann neben der Sinnverneinung ein gewisses Maß an Sinnbejahung vorhanden sein, zum Beispiel in der Bejahung wichtiger Nahbeziehungen, die sogar in die Realisierung des Suizidvorhabens involviert sein können. Das lässt solch einen assistierten Suizid in einem partiell anderen Lichte erscheinen. Nur partiell, weil der durch die Erkrankung oder das erwartete Leid erzeugte Verlust an Sinnerfahrung die bestehende Sinnbejahung letztlich überlagert und sich im Suizid endgültig ausdrückt.
Nochmal anders verhält es sich bei einem Suizid von jemandem, der nicht lebensmüde, sondern „lebenssatt“ ist, wie man so sagt. Wer sein Leben als sinnvoll bejaht und gerade wegen des Sinnreichtums dieses Lebens in fortgeschrittenem Alter als gerundet und beendigungswürdig ansieht, dürfte auf breites Verständnis stoßen. Die Sinnperspektive weiß warum: Der Suizid(wunsch) verliert hier weitgehend seinen sinnverneinenden Stachel.
Schließlich kann die Sinnperspektive auch die besonderen Bewertungen verständlich machen, die sich mit den seltenen Fällen von Suiziden als Selbstopfer verbinden. Zu denken ist etwa an die Selbstverbrennung als Protest gegen ein Unrechtsregime. Während Suizide sonst allenfalls auf Verständnis stoßen, rufen solche altruistischen Suizide Reaktionen wie Bewunderung hervor. Nicht überraschend, denn sie dienen einem wertvollen Zweck jenseits des eigenen Wohls, d. h. sie stiften selbst Sinn (vgl. Metz 2016, S. 30 f.).
Während wir also unter alleiniger Maßgabe des Respekt vor der Autonomie gezwungen sind, sämtliche Suizide und Suizidwünsche ethisch über einen Kamm zu scheren, sofern nur die jeweilige Entscheidung hinreichend autonom ist, ermöglicht die Suizidperspektive vielfältige Differenzierungen. Die unterschiedlichen Bewertungen und Ambivalenzen, die sonst als ideologische Relikte oder widersprüchliche, nicht öffentlich rechtfertigbare Intuitionen erscheinen, kann die Sinnperspektive begreiflich machen – ohne die normative Relevanz der Autonomie dabei vernachlässigen zu müssen.
Viertens: Erst die sich in der Sinnperspektive erschließende Bedeutung des Suizids kann das Primat der Suizidprävention begründen. Für die Mehrzahl der Suizidvorhaben fällt eine solche Begründung zwar nicht schwer, weil hier die Fähigkeit zum rationalen, selbstbestimmten Handeln als stark eingeschränkt gilt. Aber Verteidiger des Rechts auf Suizidassistenz betonen, dass auch freiverantwortliche Suizide nach Möglichkeit zu vermeiden sind (vgl. Deutscher Ethikrat 2014; Neitzke et al. 2013, S. 167, 169; Merkel 2015, S. 6). Doch warum? Was geht es uns an, wenn sich Menschen selbstbestimmt für die Selbsttötung entscheiden? Warum sollten wir trotz letztlicher Achtung ihrer Autonomie zunächst versuchen, sie davon abzubringen, und ihnen eine „lebensorientierte Beratung“ zukommen lassen (Deutscher Ethikrat 2014; vgl. Borasio et al. 2020, S. 96)? Die nahezu konsensuale Auffassung, dass die Unterstützung beim Suizid nur ultima ratio sein darf und dass der Suizidvermeidung Vorrang zukommt, steht in auffälligem Kontrast zu ihrer weithin fehlenden ethischen Begründung. Erstaunlich jedoch ist das nicht. Denn eine solche Begründung ist innerhalb eines ethischen Rahmens, der bei der Bedeutung des Suizids ausschließlich die Seite der Autonomie gelten lässt und sich ansonsten auf ethische Neutralität beruft, nicht möglich. Eine solche Begründung müsste einräumen, dass der Suizid in der Regel ein Übel ist, das möglichst verhindert werden sollte (vgl. Kipke 2019, S. 317). Doch diese Wertung steht im einseitigen Autonomieparadigma unweigerlich unter Paternalismusverdacht und wird daher zumeist sorgsam vermieden.
Lässt sich das Primat der Suizidprävention nicht viel leichter durch das Prinzip des Lebensschutzes rechtfertigen? Im bundesdeutschen Verfassungsrecht jedenfalls ist es üblich, das Recht auf Leben nicht nur im Sinne eines subjektiven Abwehrrechts, sondern auch als objektive Garantie für das Rechtsgut Leben zu begreifen. – Für die Verhinderung nicht-freiverantwortlicher Suizide ist das sicherlich ausreichend. Doch sobald die Freiverantwortlichkeit eines Suizidwunsches gewiss ist, droht der Lebensschutz ein „gegen die Autonomie gerichteter Lebensschutz“ zu werden, wie ihn das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 26.02.2020 ausdrücklich verworfen hat (BVerfG 2020, Rn. 277). Vor demselben Problem steht der Versuch, Suizidprävention mit der Irreversibilität der Selbsttötung zu begründen. Denn die Irreversibilität ist innerhalb des einseitigen Autonomieparadigmas nur so lange ein guter Grund, jemanden von seinem Suizidwunsch abzubringen, wie die Autonomie dieses Wunsches nicht feststeht. Sobald das jedoch der Fall ist, müssen präventive Bemühungen mit Verweis auf die Irreversibilität als paternalistisch gelten.
Die Sinnperspektive hingegen ist in der Lage, dem für selbstverständlich gehaltenen Primat der Suizidprävention eine Rechtfertigungsgrundlage zu verschaffen. In dieser Perspektive nämlich ist die Selbsttötung nichts, was allein die suizidale Person etwas angeht. Vielmehr betrifft die suizidale Sinn- und Lebensverneinung der einen Person auch jede andere Person. Die beabsichtigte Selbstvernichtung wäre eine Infragestellung der evaluativen und normativen Grundlagen unseres Zusammenlebens, ob wir das so empfinden oder nicht.
Dass es hier nicht um unverbindliche Idiosynkrasien zart besaiteter Gemüter geht, sondern um vitale und berechtigte Interessen der Rechtsgemeinschaft, wird spätestens dann deutlich, wenn wir die sinnkonstituierte Verbundenheit menschenwürdetheoretisch reformulieren. Der freiverantwortliche Suizid fällt einerseits in den Bereich höchstpersönlicher Entscheidungen, der durch den Menschenwürdegrundsatz geschützt ist, und untergräbt andererseits die axiologische Basis eben dieser Menschenwürde. Daher muss die menschenwürdebasierte Rechtsgemeinschaft daran interessiert sein, um der Menschenwürde willen Suizide nach Möglichkeit zu verhindern, so wie sie ebendiese Suizide um der Menschenwürde willen akzeptieren muss. Deshalb sind Präventionsversuche bei Personen mit freiverantwortlichen Entscheidungen gerechtfertigt, auch wenn letztendlich ihre gegebenenfalls unerschütterliche Suizidabsicht zu respektieren ist.
Fünftens kann die Sinnperspektive begründen, warum Ärzte das Recht zur Verweigerung von Suizidassistenz haben sollten. Auch dies ist eine verbreitete Position, die ebenfalls bislang auf tönernen Füßen steht. Das Bundesverfassungsgericht erklärt in seinem Urteil vom 26. Februar 2020 apodiktisch: „Die mangelnde individuelle ärztliche Bereitschaft zur Suizidhilfe hat der Einzelne als durch die Gewissensfreiheit seines Gegenübers geschützte Entscheidung grundsätzlich hinzunehmen“ (BVerfG 2020, Rn. 289; vgl. Merkel 2015, S. 6). Doch warum sollten Ärzte das Recht haben, eine Handlung aus Gewissensgründen zu verweigern, um die jemand nicht nur aufgrund einer selbstbestimmten Entscheidung bittet, sondern die zudem als Hilfe in äußerster Not gilt? Die Frage wird umso dringlicher, als Ärzte privilegierten Zugang zu den tödlichen Mitteln haben, Verweigerungen von ihrer Seite also die Umsetzung eines Suizidwunschs erheblich erschweren.
Die gängige Antwort lautet: Das Recht auf assistierten Suizid ist ein Abwehrrecht und kein Anspruchsrecht. Doch diese Antwort trägt zur gesuchten Begründung nichts bei, sondern ist lediglich die komplementäre Formulierung dazu, dass Ärzte das Recht haben, die Unterstützung beim Suizid abzulehnen. Genau diese Beschränkung auf ein Abwehrrecht ist zu begründen. Eine solche Begründung ist aber nicht in Sicht, solange die Entscheidung für den Suizid nur als individuelle autonome Entscheidung in einer Notsituation verstanden wird. Denn warum sollten wir den Anspruch auf ärztliche Hilfe bei Kreuzbandriss und Fußpilz haben, während solch ein Anspruch in einer weitaus dramatischeren Notlage ausgeschlossen ist? Die Beschränkung auf ein Abwehrrecht bei der Suizidassistenz ist unter Maßgabe üblicher normativer Annahmen schlicht inkohärent.
Auch der Verweis auf das ärztliche Gewissen hilft nicht weiter (vgl. z. B. Borasio et al. 2020, S. 97; Wittwer 2020, S. 226). Denn die ärztliche Gewissensfreiheit reicht grundsätzlich nicht beliebig weit, sondern ist moralisch und rechtlich stets dem Patienten verpflichtet (vgl. Duttge 2014). Auch speziell die ärztliche Verweigerung aus Gewissensgründen ist an übergeordnete Regeln gebunden. Wir würden ja auch nicht akzeptieren, wenn ein Arzt empfohlene Impfungen oder die Behandlung von Angehörigen des anderen Geschlechts unter Berufung auf sein Gewissen verweigern würde. Konsequenterweise wird ein ärztliches Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen in der jüngeren medizinethischen Diskussion vielfach verneint, auch gerade mit Bezug auf die Suizidassistenz (vgl. Giubilini 2014; Cholbi 2015; Schuklenk und Smalling 2017). Cholbi schreibt exemplarisch: „In denying patients such access, these conscientious objectors exploit their role as monopolists in the service of a kind of moral paternalism, i.e., they compel patients to live according to the physician’s conception of the good“ (Cholbi 2015, S. 492). Erneut sieht sich eine heute noch übliche medizinethische Position in Fragen des assistierten Suizids dem Vorwurf des Paternalismus ausgesetzt. Das ist zwangsläufig so, wenn Suizidassistenz lediglich als Unterstützung bei der Selbstbestimmung in einer Notsituation verstanden wird.
Doch ist die ärztliche Gewissensfreiheit als Mitwirkungsverweigerungsrecht nicht an anderer Stelle, nämlich zumindest beim Schwangerschaftsabbruch rechtlich verankert und gesellschaftlich akzeptiert? Ja. (Kritisch dazu: Hillenkamp 2010.) Aber abgesehen davon, dass aktuelle Unumstrittenheit und gesetzliche Erlaubnis kein Ausweis für ethische Konsistenz sind: Erstens gilt dieses Mitwirkungsverweigerungsrecht keineswegs unter allen Umständen (vgl. § 12 Abs. 2 Schwangerschaftskonfliktgesetz). Zweitens und vor allem geht es hier um die gezielte Tötung eines werdenden menschlichen Lebens ohne dessen Einwilligung. Das eventuell vorhandene Lebensschutzinteresse seitens des Arztes richtet sich nicht auf die schwangere Frau, die den Eingriff wünscht, sondern auf ein anderes menschliches Wesen. Das kann eine Verweigerung aus Gewissensgründen rechtfertigen. Anders beim assistierten Suizid: Hier entscheidet sich eine Person autonom für den eigenen Tod und bittet dafür um Unterstützung. Ein ärztlicherseits eventuell in Anschlag gebrachtes Lebensschutzinteresse richtet sich auf dieselbe Person, die um die Suizidassistenz ersucht – und damit unmittelbar gegen deren Autonomie. Denn hier wird nicht, wie bei der Frage nach einem Schwangerschaftsabbruch, die Autonomie des einen gegen das Leben des anderen abgewogen. Vielmehr wird die Lebensschutzorientierung der sterbewilligen Person gewissermaßen oktroyiert und damit ihr autonomer Sterbewunsch desavouiert – und dies in einer Situation größter Not. Eine ärztliche Verweigerung aus Gewissensgründen angesichts eines autonomen Suizidwunsches fällt somit zwangsläufig unter das Verdikt des Paternalismus. So stellt es sich jedenfalls im Rahmen einer ausschließlich autonomie-zentrierten Ethik des assistierten Suizids dar. Es bleibt also dabei: Eine solche Ethik hat keine Kapazitäten zur Begründung eines ärztlichen Rechts, die Mitwirkung am Suizid zu verweigern.
Die Sinnperspektive kann aus dieser begründungstheoretischen Sackgasse herausführen. Denn sie macht deutlich, dass der individuelle Suizid eine gesellschaftliche Angelegenheit und von Übel ist. Die Verneinung des Lebenssinns betrifft uns alle, weil wir allesamt auf diese axiologische Ressource angewiesen sind. Die nihilistische Geste des Suizids kratzt an den Grundlagen unserer normativen, auch rechtlichen Ordnung. Die Weigerung, an einem Suizid mitzuwirken, muss deshalb nicht eine fragwürdige Gewissensentscheidung mit paternalistischer Schlagseite sein, sondern kann Ausdruck des Bewusstseins für die sinnkonstituierte Verbundenheit sein, in der unsere normative Ordnung wurzelt.
Mit alledem lässt die Sinnperspektive – sechstens – verständlicher werden, inwiefern auf den verschiedenen Seiten des Disputes humane Motivationen stehen. Suizidassistenz ist heftig umkämpft wie wohl kaum ein anderes Thema innerhalb der Medizinethik. Die Auseinandersetzung ist auch von gegenseitigen moralischen Vorwürfen geprägt: wahlweise paternalistische Kaltherzigkeit gegenüber den suizidwilligen Menschen oder Rücksichtslosigkeit gegenüber jenen, die auf Zuspruch und Fürsorge angewiesen sind. Die Sinnperspektive löst diese unersprießliche Frontstellung auf und bietet eine Grundlage für die ethische Verständigung.
Wir sehen: Die Sinnperspektive hat erhebliches Potenzial zur Aufklärung und Begründung normativer und evaluativer Annahmen, die in der Debatte um den assistierten Suizid eine zentrale Rolle spielen. Sie vermeidet dabei systematisch übliche normative Einseitigkeiten und wird so der Ambivalenz und dem Grenzfallcharakter des assistierten Suizids gerecht.Footnote 2